Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zur Begrüßung des ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko im Deutschen Bundestag
Es gilt das gesprochene Wort Berlin, 9. März 2005
"Ich begrüße Sie als den gewählten
Repräsentanten der neuen, jungen ukrainischen Demokratie. Wir
haben alle großen Anteil genommen an dem friedlichen Wandel,
dem entschlossenen Widerstand der Ukrainerinnen und Ukrainer gegen
den versuchten Wahlbetrug der postsowjetischen Machthaber.
Die Ukraine ist nun ein weiteres Glied in der Kette erfolgreicher,
friedlicher Revolutionen zur Demokratie. Deshalb war und ist unsere
Sympathie mit der orangenen Protestbewegung so groß, weil sie
die Freiheitsrevolution von 1989 vervollständigt, die in
Polen, Ungarn, Tschechien, Ostdeutschland begann und die
kommunistische Diktatur überwand.
Nicht wenige Abgeordnete des Deutschen Bundestages waren in den
entscheidenden Tagen und Wochen in Kiew, um ihre Solidarität
vor Ort zu zeigen. Ich selbst habe Ihre Amtseinführung
miterleben dürfen und wahrnehmen können, mit welcher
Begeisterung die ukrainische Bevölkerung dieses Ereignis
gefeiert hat. Aber auch welch außerordentliche Hoffnungen und
Erwartungen auf Sie gerichtet sind.
Im Namen des deutschen Parlaments wünsche ich Ihnen, Herr
Staatspräsident, und dem ganzen ukrainischen Volk die Kraft
und das Geschick, die erforderlich sind, um die nun gewonnene
Freiheit in sozialer Verantwortung zu festigen und zu bewahren. Wir
wissen aus eigener Erfahrung, dass die Transformation eines Landes
zu einer freiheitlichen Demokratie und zu sozialer Marktwirtschaft
mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden und langwierig ist.
Im Westen der Bundesrepublik Deutschland blicken wir nun schon auf
56 Jahre in Freiheit zurück, im Osten sind es 15 Jahre. Die
Freiheit erscheint deshalb vielen als etwas
Selbstverständliches, das immer schon da war. Manche
vergessen, dass sie ein flüchtiges, ein prekäres Gut ist,
schwer zu gewinnen und leicht zu verspielen. Das ukrainische
Beispiel sollte uns daran erinnern, wie wertvoll die Freiheit ist
und wie lange es dauern kann, bis ein Volk sie sich
zurückerobert. Niemand leugnet, dass es auch in Freiheit
bedrückende Sorgen und Probleme geben kann und gibt, aber die
Generationen, die den Nationalsozialismus erlebt haben, die die
alltägliche Gängelung der SED-Diktatur überstanden
haben, die Stalinismus und die Willkür machtversessener
Oligarchien kennen, in Deutschland die älteren und Alten, in
der Ukraine alle gegenwärtigen Generationen, wissen, dass es
ohne Freiheit weitaus unwirtlicher ist.
In den letzten Wochen spielt die Ukraine eine Rolle in den
innenpolitischen Auseinandersetzungen hier in unserem Land. Wir
haben Ihren Hinweis verstanden, Herr Präsident, dass der
Eindruck nicht entstehen darf, Besucherinnen und Besucher aus der
Ukraine würden pauschal als potentielle Straftäter
verdächtigt. Das Gegenteil ist richtig: Ukrainerinnen und
Ukrainer sind uns in Deutschland genau so willkommen wie alle
anderen Gäste. Die große Sympathie und Solidarität
der Deutschen für die tapfere Revolution, den beharrlichen
Protest für den Sieg der Demokratie bringen die Fraktionen des
Deutschen Bundestages nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck, dass Sie,
Herr Staatspräsident Juschtschenko schon so kurz nach Ihrer
Wahl eingeladen sind, vor dem Plenum zu sprechen. Um diese
Ansprache bitte ich Sie nun: Sie haben das Wort."
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