Rede des Bundestagsabgeordneten Otto Schily als Alterspräsident bei der konstituierenden Sitzung des 16. Deutschen Bundestags
Es gilt das gesprochene Wort
"Das Volk hat die unbequeme Angewohnheit, Regierungen
abzuwählen und neue Mehrheiten im Parlament
herbeizuführen. Das ist für die amtierende Regierung
schmerzlich und für Teile der bisherigen Opposition
erfreulich. Es ist aber zugleich für die künftige
Regierung eine Warnung und für die künftige Opposition
eine Hoffnung. In der Demokratie wird Macht nur auf Zeit verliehen,
diesen Grundkonsens erkennen wir alle an.
Jenseits der jeweiligen Aufgaben, die sich in Zukunft den
Regierungsfraktionen und den Oppositionsfraktionen stellen, haben
wir eine gemeinsame Verantwortung, zum Besten unseres Landes zu
wirken. Wir werden dieser Verantwortung umso eher gerecht, wenn wir
die Politik einer sowohl geographisch als auch zeitlich
weiträumigen Perspektive öffnen, die imstande ist, unsere
eigenen Interessen in konstruktiver Weise mit den Interessen
anderer zu verbinden. Deutsche Politik muss daher stets zuallererst
europäische und weitergehend international ausgerichtete
Politik sein. Eine auf den nationalen Horizont verengte Politik
kann unter den Bedingungen der Globalisierung nicht erfolgreich
sein.
Wenn wir uns in dieser Grundbestimmung einig sind, muss es uns
zugleich willkommen sein, dass wir unterschiedliche
Überlegungen entwickeln und gegenüberstellen, welche
konkreten Maßnahmen geboten sind und welche besser
unterblieben. Jeder darf sich in diesem Streit selbst daran
erinnern, dass Fairness und Respekt vor dem politischen Gegner der
Schärfe des Arguments nicht schadet sondern eher nutzt. Einen
nachhaltigen Legitimationsgewinn erreicht das Parlament nur durch
einen sachorientierten, möglichst vorurteilsfreien,
aufklärerischen und ehrlichen Debattenstil, der eine
gehörige Portion Polemik nicht scheuen muss, der sich gewiss
nicht in langweiliger Routine und Phrasentausch erschöpfen
darf und der die gesellschaftliche Debatte aufnimmt aber dieser
gesellschaftlichen Debatte seinerseits neue Impulse verleiht.
Politik, wo immer sie sich realisiert, in der Legislative, in der
Exekutive und in der Judikative, greift nicht selten massiv in die
Lebensverhältnisse der Menschen, in ihre Lebensentwürfe
und ihre Lebensgewohnheiten ein. Umso größer sind unsere
Verantwortung und der Erklärungsbedarf. Es besteht aber auch
Erklärungsbedarf insofern, als Politik nur ein
gesellschaftliches Wirkungsfeld unter anderen ist. Wirtschaft aber
auch Kultur und Wissenschaft folgen anderen
Gesetzmäßigkeiten und organisieren sich in erster Linie
nicht nach politischen Vorgaben. Wir sollten uns weder einbilden
noch anmaßen, dass sich alle anderen gesellschaftlichen
Bereiche staatlicher Bevormundung zu fügen haben oder dass sie
staatlicher Beeinflussung überhaupt ausnahmslos
zugänglich sind. Eine umfassend verstaatlichte Gesellschaft
endet in der Schreckensherrschaft des totalitären Staates.
Weil der demokratisch-rechtsstaatliche Grundkonsens die Macht des
Staates begrenzt, ist darin auch eine Verantwortungsteilung
enthalten, die in der Kritik an den Wirkungsmöglichkeiten von
staatlicher Politik nicht selten aus dem Blickfeld
gerät.
Das kann freilich nicht heißen, die eigene Verantwortung
irgendwo anders abzuladen. Wir sollten stattdessen die
Verantwortung immer zuerst bei uns selbst suchen, was bekanntlich
niemandem immer ganz leicht fällt.
Im Sinne dieser uns gemeinsam auferlegten Verantwortung hoffe ich
sehr, dass es uns gelingt, den Menschen in Deutschland wieder mehr
Optimismus, Selbstvertrauen und Zuversicht aber auch die Gewissheit
zu vermitteln, dass ihre Sorgen in angemessener Weise im Parlament
zur Sprache gebracht und ihre Fragen klare Antworten finden, auch
wenn die Antworten sicherlich höchst unterschiedlich ausfallen
werden. Wir sollten dagegen endlich aufhören, das eigene Land
wider besseres Wissen schlecht zu reden, nur um politische
Geländegewinne zu erzielen.
"Überhaupt muss ich mich jetzt sehr zusammennehmen und, mehr
als jemals, alles Polemische an mir vorübergehen lassen. Der
Mensch hat wirklich viel zu tun, wenn es sein eigenes Positive bis
ans Ende durchführen will. Glücklicherweise bleibt uns
zuletzt die Überzeugung, dass gar vieles nebeneinander
bestehen kann und muss, was sich gerne wechselseitig
verdrängen möchte: der Weltgeist ist toleranter, als man
denkt."
Die letzten drei Sätze stammen aus einem Brief von Johann
Wolfgang von Goethe an den Grafen Karl Friedrich von Reinhard vom
12.Mai 1826.
Es gehört zum demokratischen Wettbewerb, sich wechselseitig
die Plätze streitig zu machen, aber der tolerante Weltgeist,
wenn er denn hoffentlich bei Gelegenheit auch bei uns hereinschaut,
der tolerante Weltgeist wird auch in Zukunft dafür sorgen,
dass vieles nebeneinander bestehen kann und bestehen bleiben wird.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein dialogisches und
spannendes Parlament sowie die Kraft, Ihr jeweils eigenes Positive
bis ans Ende durchzuführen."
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