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Stand: 18.10.2005
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Rede des Bundestagsabgeordneten Otto Schily als Alterspräsident bei der konstituierenden Sitzung des 16. Deutschen Bundestags

Es gilt das gesprochene Wort

"Das Volk hat die unbequeme Angewohnheit, Regierungen abzuwählen und neue Mehrheiten im Parlament herbeizuführen. Das ist für die amtierende Regierung schmerzlich und für Teile der bisherigen Opposition erfreulich. Es ist aber zugleich für die künftige Regierung eine Warnung und für die künftige Opposition eine Hoffnung. In der Demokratie wird Macht nur auf Zeit verliehen, diesen Grundkonsens erkennen wir alle an.

Jenseits der jeweiligen Aufgaben, die sich in Zukunft den Regierungsfraktionen und den Oppositionsfraktionen stellen, haben wir eine gemeinsame Verantwortung, zum Besten unseres Landes zu wirken. Wir werden dieser Verantwortung umso eher gerecht, wenn wir die Politik einer sowohl geographisch als auch zeitlich weiträumigen Perspektive öffnen, die imstande ist, unsere eigenen Interessen in konstruktiver Weise mit den Interessen anderer zu verbinden. Deutsche Politik muss daher stets zuallererst europäische und weitergehend international ausgerichtete Politik sein. Eine auf den nationalen Horizont verengte Politik kann unter den Bedingungen der Globalisierung nicht erfolgreich sein.

Wenn wir uns in dieser Grundbestimmung einig sind, muss es uns zugleich willkommen sein, dass wir unterschiedliche Überlegungen entwickeln und gegenüberstellen, welche konkreten Maßnahmen geboten sind und welche besser unterblieben. Jeder darf sich in diesem Streit selbst daran erinnern, dass Fairness und Respekt vor dem politischen Gegner der Schärfe des Arguments nicht schadet sondern eher nutzt. Einen nachhaltigen Legitimationsgewinn erreicht das Parlament nur durch einen sachorientierten, möglichst vorurteilsfreien, aufklärerischen und ehrlichen Debattenstil, der eine gehörige Portion Polemik nicht scheuen muss, der sich gewiss nicht in langweiliger Routine und Phrasentausch erschöpfen darf und der die gesellschaftliche Debatte aufnimmt aber dieser gesellschaftlichen Debatte seinerseits neue Impulse verleiht.

Politik, wo immer sie sich realisiert, in der Legislative, in der Exekutive und in der Judikative, greift nicht selten massiv in die Lebensverhältnisse der Menschen, in ihre Lebensentwürfe und ihre Lebensgewohnheiten ein. Umso größer sind unsere Verantwortung und der Erklärungsbedarf. Es besteht aber auch Erklärungsbedarf insofern, als Politik nur ein gesellschaftliches Wirkungsfeld unter anderen ist. Wirtschaft aber auch Kultur und Wissenschaft folgen anderen Gesetzmäßigkeiten und organisieren sich in erster Linie nicht nach politischen Vorgaben. Wir sollten uns weder einbilden noch anmaßen, dass sich alle anderen gesellschaftlichen Bereiche staatlicher Bevormundung zu fügen haben oder dass sie staatlicher Beeinflussung überhaupt ausnahmslos zugänglich sind. Eine umfassend verstaatlichte Gesellschaft endet in der Schreckensherrschaft des totalitären Staates. Weil der demokratisch-rechtsstaatliche Grundkonsens die Macht des Staates begrenzt, ist darin auch eine Verantwortungsteilung enthalten, die in der Kritik an den Wirkungsmöglichkeiten von staatlicher Politik nicht selten aus dem Blickfeld gerät.

Das kann freilich nicht heißen, die eigene Verantwortung irgendwo anders abzuladen. Wir sollten stattdessen die Verantwortung immer zuerst bei uns selbst suchen, was bekanntlich niemandem immer ganz leicht fällt.

Im Sinne dieser uns gemeinsam auferlegten Verantwortung hoffe ich sehr, dass es uns gelingt, den Menschen in Deutschland wieder mehr Optimismus, Selbstvertrauen und Zuversicht aber auch die Gewissheit zu vermitteln, dass ihre Sorgen in angemessener Weise im Parlament zur Sprache gebracht und ihre Fragen klare Antworten finden, auch wenn die Antworten sicherlich höchst unterschiedlich ausfallen werden. Wir sollten dagegen endlich aufhören, das eigene Land wider besseres Wissen schlecht zu reden, nur um politische Geländegewinne zu erzielen.

"Überhaupt muss ich mich jetzt sehr zusammennehmen und, mehr als jemals, alles Polemische an mir vorübergehen lassen. Der Mensch hat wirklich viel zu tun, wenn es sein eigenes Positive bis ans Ende durchführen will. Glücklicherweise bleibt uns zuletzt die Überzeugung, dass gar vieles nebeneinander bestehen kann und muss, was sich gerne wechselseitig verdrängen möchte: der Weltgeist ist toleranter, als man denkt."
Die letzten drei Sätze stammen aus einem Brief von Johann Wolfgang von Goethe an den Grafen Karl Friedrich von Reinhard vom 12.Mai 1826.

Es gehört zum demokratischen Wettbewerb, sich wechselseitig die Plätze streitig zu machen, aber der tolerante Weltgeist, wenn er denn hoffentlich bei Gelegenheit auch bei uns hereinschaut, der tolerante Weltgeist wird auch in Zukunft dafür sorgen, dass vieles nebeneinander bestehen kann und bestehen bleiben wird. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein dialogisches und spannendes Parlament sowie die Kraft, Ihr jeweils eigenes Positive bis ans Ende durchzuführen."

5.030 Zeichen

Quelle: http://www.bundestag.de/bic/presse/2005/pz_0510181
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