Deutscher Bundestag
English    | Français   
 |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ  |  Druckversion
 
Startseite > Blickpunkt Bundestag > Blickpunkt Bundestag - Jahresübersicht 2002 > Blickpunkt Bundestag November 9/2002 >
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

Essay

Streit ist gut und richtig

von Wolfgang Thierse

Wolfgang Thierse.

Der 15. Deutsche Bundestag wird sich voraussichtlich nicht der Sorge mancher Beobachter gegenübersehen, er verliere im Vergleich zu Medieninszenierungen und politischen Talk-Shows an Bedeutung. Relativ knappe Mehrheitsverhältnisse hat der Souverän, haben die Wählerinnen und Wähler diesem Bundestag beschert. Gelegentlich wird es also spannend werden.

Aber nicht nur deshalb wird der politische Streit Aufmerksamkeit finden, der im Parlament stattfindet, sondern auch weil hohe Erwartungen an diese Entscheidungen gestellt sind. Wird es gelingen, in einem sehr schwierigen weltwirtschaftlichen Umfeld die Staatsverschuldung weiter auf mittlere Sicht zu reduzieren? Welche hergebrachten Besitzstände – zum Beispiel steuerrechtliche Ausnahmetatbestände – müssen dafür fallen? Wird es gelingen, eine Gesundheitsreform durch Bundestag und Bundesrat zu bringen, die Solidarität und soziale Sicherheit bewahrt, die Leistungen für Kranke weiter am medizinisch Notwendigen misst und doch die Kosten in Grenzen hält? Werden wir durch eine Arbeitsmarktpolitik nach der Devise ?fördern und fordern“ endlich eine nachhaltigere Verringerung der Arbeitslosigkeit erreichen? Wird es weiter gerecht zugehen bei der Finanzierung der staatlichen Aufgaben und der sozialen Sicherheit? Was wird außenpolitisch auf uns zukommen? Gelingt eine gerechte Finanzierung der Familien mit Kindern, der Ganztagsbetreuung? Gelingt die Zukunftsinvestition Bildung? Werden wir Ostdeutschland zu einer Verbindungsregion im erweiterten Europa ausbauen können?

Auch eine pragmatische Mehrheit und eine konstruktive Opposition werden genug gute Gründe zum Streit über Mittel und Ziele finden. Denn immer wird es verschiedene praktikable Lösungen geben; niemand hat die Wahrheit allein auf seiner Seite, vielmehr werden sehr unterschiedliche Interessen aufeinander stoßen. Die wird man zunächst auszugleichen versuchen; schließlich aber wird oft die Mehrheit zu entscheiden haben.

Der notwendige Streit wird hoffentlich mit guten, sorgfältig geprüften Argumenten ausgetragen, mit der Bereitschaft, sich auch einmal von der jeweils anderen Seite überzeugen zu lassen oder vernünftige Kompromisse zu schließen. Der parlamentarische Streit lädt zum Mitdenken und Mitdiskutieren ein. Ruhe ist nur in der Diktatur erste Bürgerpflicht.

Der Bundestagspräsident muss den Streit im Parlament unparteiisch moderieren und ermöglichen; er muss für faire und zweifelsfreie Geltung der parlamentarischen Regeln sorgen und er muss das gesamte Parlament repräsentieren. Deshalb will ich schon an dieser Stelle werben für die Einsicht, dass Streit nicht nur unvermeidbar, sondern demokratisch gut und richtig ist. Ein Parlament, in dem nicht unterschiedliche Interessen und Meinungen aufeinander treffen, ist keins – jedenfalls kein demokratisches.

Schön wäre, wenn es dabei immer um politische Lösungen und nicht auch um Skandale und Parteispendenaffären gehen würde. Ich hoffe auf eine Amtszeit, in der die Rolle des Bundestagspräsidenten als Hüter des Parteiengesetzes eine vergleichsweise unauffällige werden wird. Das würde auch eine Debatte über die Frage erübrigen, wie unparteiisch ein Bundestagspräsident zu sein habe. Das Grundgesetz kennt nicht – wie etwa die englische Demokratie – den unpolitischen ?Speaker“, sondern macht ganz selbstverständlich einen Volksvertreter, der auch Mitglied einer Partei und – traditionell der stärksten – Fraktion ist, zum Parlamentspräsidenten. Das streitende, um Überzeugung ringende Parlament wird repräsentiert durch einen Präsidenten, der sich am politischen Streit beteiligen, seine Überzeugungen vertreten darf und soll und der zugleich bei der Leitung des Hohen Hauses fair und unparteiisch zu sein hat. In der Geschichte des Bundestages gibt es viele Vorbilder dafür.

Die relativ knappen Mehrheitsverhältnisse werden auch eine andere Qualität des Bundestages deutlich machen: In unserer Verfassung steht das Parlament nicht gegen oder in Konkurrenz zur Regierung. Im Gegenteil, die Regierung wird legitimiert und getragen von der Mehrheit des Bundestages. Die Wähler erwarten zu Recht von der Regierungsmehrheit, dass sie für eine stabile Regierung sorgt. Dabei wirken die Parlamentarier an der Willensbildung der Regierung entscheidend mit und kontrollieren auch auf diese Weise die Regierung.

Die Zuständigkeit für Gegenentwürfe zu den Absichten der Regierung hat dagegen vor allem die Opposition. Für beides sind die Parlamentsfraktionen unverzichtbar. Das muss bei oft vorschneller Kritik an vermeintlichem ?Fraktionszwang“ bedacht werden. Weder einer Oppositions- noch einer Regierungsfraktion ist es vorzuwerfen, wenn sie nach Diskussionen und internen Abstimmungen daran interessiert ist, ihre so erarbeitete Auffassung geschlossen im Parlament zum Ausdruck zu bringen.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2002/bp0209/0211002a
Seitenanfang [TOP]
Druckversion Druckversion