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Robert Luchs
Ein Leben in Todesangst
Haiti versinkt im Chaos
Ein Jahr nach dem Sturz des haitianischen Präsi-denten
Jean-Bertrand Aristide droht das ärmste Land der westlichen
Hemisphäre in Chaos und Anarchie zu versinken. Polizei und
Todesschwadronen töten auf offener Straße. Menschen
werden willkürlich verhaftet, Gefangene misshandelt. Weite
Teile des Landes werden von früheren Angehörigen der
Armee und Anhängern Aristides kontrolliert. Krankenhäuser
und Schulen sind geschlossen. Elend und Hunger haben, obwohl viele
Experten dies kaum noch möglich gehalten haben, inzwischen
weiter zugenommen.
"Die Übergangsregierung unter Premierminister Gerard
Latortue und die Mission der Vereinten Nationen zur Sicherung
Haitis (MINUSTAH) haben es bisher sträflich versäumt, die
bis an die Zähne bewaffneten Gruppen zu entwaffnen und zu
demobilisieren", beklagt Jerome Cholet, Haiti-Experte der
Menschenrechtsorganisation amnesty international. "Sie müssen
endlich diejenigen bestrafen, die schwerste
Menschenrechtsverletzungen verüben." Die Bevölkerung in
Haiti lebe in ständiger Unsicherheit und Angst. Sie könne
sich, so Cholet, nicht frei bewegen, ihre Rechte auf Nahrung,
Gesundheit, Bildung und Unversehrtheit würden täglich
verletzt. amnesty internationalhat inzwischen die internationale
Gemeinschaft dringend dazu aufgerufen, ihre Hilfszusagen an Haiti
zu erfüllen.
Die 7.400 Mann starke UN-Truppe ist offenbar mit der Aufgabe
überfordert, nach dem Staatsstreich vor einem Jahr die
politischen Verhältnisse wieder zu normalisieren. "Als wir die
Vereinten Nationen gebeten haben, die haitianische Bevölkerung
vor dem Terror der Todesschwadronen in den vergangenen Wochen und
Monaten zu schützen, bekamen wir noch nicht einmal eine
Antwort", sagte Jonas Petite, Sprecher der Partei Fanmi Lavalas des
gestürzten Aristides, in einem Interview. Nach dem Sturz des
Präsidenten aber habe der Sicherheitsrat nur wenige Stunden
benötigt, um internationale Truppen nach Haiti zu entsenden,
die sich nicht scheuten mit den Paramilitärs
zusammenzuarbeiten.
Die UN-Truppe MINUSTAH unter der Führung Brasiliens
versucht seit dem 1. Juni vergangenen Jahres, das Land zu
stabilisieren. Im März soll die Organisation Amerikanischer
Staaten damit beginnen, die Wähler Haitis zu registrieren.
Für den 13. November sind Präsidentschafts- und
Parlamentswahlen angesetzt. Ein Wahlkampf aber ist unmöglich,
solange das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht
existiert und politische Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen
werden.
Amnesty international hat erklärt, die Organisation erkenne
die derzeitigen Schwierigkeiten an, denen sich die
Übergangsregierung gegenübersehe. Sie seien zu einem
gewissen Teil auf die Regierung Jean-Bertrand Aristides
zurückzuführen, rechtfertigten allerdings nicht die
Menschenrechtsverletzungen und den Zustand der Straflosigkeit.
Diese Gründe sowie die unzureichende Entwaffnung verfeindeter
Gruppen seien Hauptproblem und Ursache für die anhaltende
schwere Krise im Land.
Unhaltbare Zustände
Das Auswärtige Amt in Berlin hat unterdessen seine
Reisewarnung für Haiti erneuert und auf die angespannte
Sicherheitslage hingewiesen. Es komme nach wie vor zu bewaffneten
Auseinandersetzungen zwischen Aristide-Anhängern und der
haitianischen Polizei beziehungsweise der internationalen
Schutztruppe und zu Schießereien zwischen kriminellen Banden.
Am 19. Februar habe ein bewaffnetes Kommando das
Zentralgefängnis von Port-au-Prince angegriffen, worauf
mehrere hundert Kriminelle geflohen seien. Dadurch habe sich die
Sicherheitslage noch weiter zugespitzt. Schließlich
hätten in jüngster Zeit außerdem
Überschwemmungen schwere Schäden verursacht und die
schlimme Lage der Bevölkerung zusätzlich erschwert.
Der UN-Truppe scheint die immer dramatischer werdende
Entwicklung wenig Sorge zu bereiten. Sie seien entsandt worden, um
die Regierung zu beschützen, wird der Kommandant Juan Gabriel
Valdez zitiert. Nur darin bestehe der Auftrag des
UN-Sicherheitsrates. Nach einem Bericht der britischen Zeitung
"Guardian" wurden in den vergangenen Monaten hunderte Anhänger
von Ex-Präsident Aristide ohne Begründung inhaftiert.
Lediglich 20 von ihnen seien offiziell unter Anklage gestellt
worden, die anderen würden willkürlich festgehalten. Auch
das amerikanische Repräsentantenhaus hat sich inzwischen mit
diesen unhaltbaren Zuständen beschäftigt. In einer
Petition an das Außenministerium forderten die
afroamerikanische Abgeordnete Maxine Waters sowie 30 ihrer
Parlamentskollegen deshalb die unverzügliche Freilassung aller
politischen Gefangenen in Haiti aus der Gefängnishaft.
Je länger die Unsicherheit andauert, desto schwieriger
gestaltet sich die soziale und wirtschaftliche Situation. Nur sehr
wenige Menschen der rund acht Millionen Haitianer gehen einer
geregelten Arbeit nach, die meisten halten sich und ihre Familien
mit Gelegenheitsjobs notdürftig über Wasser. Das
durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei einigen hundert
Dollar im Jahr. Das heißt, die Mehrzahl der Einwohner liegt
mit ihrem Verdienst unter der von der Weltbank angegebenen
Armutsgrenze von einem US-Dollar pro Tag. Ohne die finanzielle
Unterstützung durchdie im Ausland lebenden Haitianer für
ihre Landsleute wäre deren Lage jedoch noch weitaus
dramatischer. Viele Einheimische sind gezwungen, nur noch von dem
zu leben, was sie auf ihren kleinen landwirtschaftlichen
Flächen anbauen können. Da die Geburtenrate auf der Insel
mit rund zwei Prozent immer noch hoch ist und keine Anzeichen
für eine wirtschaftliche Erholung vorhanden sind, steht der
Karibik-Staat vor allem wirtschaftlich vor einer düsteren
Zukunft.
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