Gerd Werle
Sprachenvielfalt: lieb und teuer
Europa spricht mit 20 Zungen
Der Turmbau zu Babel ist nach der biblischen
Überlieferung daran gescheitert, dass Gott den Menschen nicht
in sein Reich über den Wolken blicken lassen wollte und
deshalb dafür sorgte, dass eine allgemeine Sprachverwirrung
eintrat. Jeder redete in seiner Sprache, keiner verstand mehr den
anderen. Beim europäischen Aufbauwerk geht es dagegen geregelt
zu. Fast überall stehen qualifizierte Dolmetscher und
Übersetzer bereit.
Mit der Erweiterung der Union hat sich die
Zahl der Amtssprachen erst vor knapp einem Jahr auf 20 erhöht.
Zunächst war man von nur 19 ausgegangen, weil damit gerechnet
wurde, dass Malta dem Beispiel Luxemburgs aus den 50er-Jahren
folgen würde und aufgrund seiner Mehrsprachigkeit auf die
Landessprache verzichtet. Fast jeder Malteser beherrscht
schließlich das Englische. Doch die Regierung in La Valetta
besann sich anders. Die Mischung aus arabischen Elementen des
Dialektes auf Sizilien wurde offizielle Sprache. Im Falle Zyperns
ist Griechisch zwar seit 1981 Amtssprache, der türkisch
dominierte Nordteil wird vorerst nach der gescheiterten
Volksabstimmung im offiziell anerkannten Südteil aber nicht
aufgenommen und Türkisch keine Amtssprache.
Die Frage, ob sich Europa weiterhin die
Gleichberechtigung aller Gemeinschaftssprachen leisten kann bzw.
leisten soll, stand bisher bei jeder der bisher fünf
Erweiterungsrunden zur Debatte. Dabei ist sie rein hypothetisch,
denn gemäß der Verordnung Nr. 1 der EU sind die
nationalen Amtssprachen auch Amts- und Arbeitsprachen der
Gemeinschaft. Alle europäischen Landessprachen sind
prinzipiell gleichberechtigt.
Übersetzung der Dokumente
Sämtliche Dokumente der EU müssen
in diesen Sprachen abgefasst sein, beispielsweise auch das
offizielle EU-Amtsblatt. Wenn sich die EU-Kommission am Mittwoch zu
ihrer wöchentlichen Sitzung trifft, wird dagegen nur Englisch,
Französisch und ab und zu Deutsch gesprochen und auch nur in
diese Sprachen gedolmetscht.
Bereits vor der letzten Erweiterung im Jahr
1995 gab es Stimmen, die sich für eine Reduzierung auf die
drei Kommissionssprachen einsetzten. Dabei wird oftmals auf
Regelungen wie beim Europarat verwiesen, bei dem die meisten
Dokumente nur auf Englisch und Französisch zu erhalten sind.
Bisher setzten sich jedoch die Befürworter der
Mehrsprachigkeit durch, die in der jeweiligen Sprache einen
unverzichtbaren Teil der jeweiligen Kultur der Länder sehen.
Dabei werden in absehbarer Zeit noch mehr Sprachen hinzukommen:
2007 sollen Bulgarien und Rumänien aufgenommen werden,
Kroatien dürfte bald folgen.
Der Übersetzungsdienst hat für das
europäische Sprachengewirr seine eigene Taktik: Bei 19
beziehungsweise 20 Sprachen ergeben sich theoretisch 380
Kombinationsmöglichkeiten. Theoretisch, denn in der Praxis
verwenden Dolmetscher und Übersetzer nicht erst seit dem 1.
Mai so genannte Relais-Sprachen. So wird aus dem Tschechischen
zunächst ins Englische und anschließend ins Dänische
übersetzt, weil direkte Übersetzer kaum zur
Verfügung stehen. Welcher Dolmetscher kann schon die
Kombination Griechisch und Finnisch oder Estnisch und Maltesisch
für sich in Anspruch nehmen?
Europas Sprachenvielfalt verschlingt rund die
Hälfte des Verwaltungsbudgets für die verschiedenen
Organe, fast zwei Prozent des Gesamthauhalts der Europäischen
Union. Allein die letzte Erweiterung verursachte Mehrkosten in
Höhe von fast 650 Millionen Euro. Das macht etwa zwei Euro pro
Kopf der Bevölkerung pro Jahr aus - ein Wörterbuch ist
teurer.
Damit leistet sich die Europäische
Kommission den größten Übersetzer- und
Dolmetscherdienst der Welt. Er übersetz jährlich mehr als
1,3 Millionen Seiten. Viele davon werden gleich an den
Übersetzungscomputer "Systran" weitergeschoben. Weil Kollege
Computer keine Synonyme zu kennen scheint, sondern stur immer
wieder die gleichen Vokabeln und Redewendungen verwendet, lesen
sich die meisten EU-Dokumente nicht gerade wie spannende
Lektüre und tragen auch kräftig zur Sprachverarmung
bei.
Neben den rund 1.500 Beamten des
Sprachendienstes arbeitet noch eine Vielzahl freiberuflicher
Mitarbeiter für die Europäische Union. Hinzu kommt der
Gemeinsame Dolmetscher- und Konferenzdienst. Er wird pro Jahr in
mehr als 11.000 Sitzungen eingesetzt. Täglich beschäftigt
er bisher rund 700 Dolmetscher. Die EU-Kommission rechnet mit einem
Mehr von 40 Übersetzern pro hinzukommender Sprache. Aus diesem
Grund plant das Europäische Parlament mehr als 800 Stellen
für Dolmetscher und Übersetzer neu zu
besetzen.
Perspektivisch werden mit der Erweiterung die
Arbeitssprachen Englisch und Deutsch weiter gestärkt,
Französisch wird weiter an Bedeutung verlieren. Daran wird
sich auch mit der Aufnahme Rumäniens nicht viel
ändern.
Eine Sprache aber, in der sich beispielsweise
viele Abgeordnete aus Ungarn, Polen, Tschechien, Estland und
Litauen in den Kantinen des Straßburger Europapalastes
austauschen, ist nicht vorgesehen: Russisch. Auch manch ein
Parlamentarier aus Ostdeutschland, der zu DDR-Zeiten Russisch
gelernt hat, könnte sich mit den neuen Kollegen noch in dieser
Sprache verständigen.
Sprachenregelung bleibt erhalten
Radikale Änderungen am Sprachenregime
wird es wahrscheinlich auch nach der Aufnahme weiterer
Mitgliedsländer nicht geben. Schon aus rechtlichen
Gründen müssen für den Bürger verbindliche
Bestimmungen in alle Sprachen übersetzt werden. Ein
Europaabgeordneter wird auch in einem erweiterten Europa weiterhin
in seiner Muttersprache debattieren können. Immer wieder
kursieren Vorschläge, wonach nur noch in einige wenige
Arbeitssprachen übersetzt werden soll. Ob als Vorbedingungen
für ein Mandat einmal Fremdsprachenkenntnisse verlangt werden,
scheint unwahrscheinlich - denn dagegen spräche schon allein
der Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen
Abgeordneten. Lösungsvorschläge für die
Sprachenvielfalt in Europa und insbesondere im Europäischen
Parlament bleiben jedenfalls auf der aktuellen Agenda.
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