Suzanne S. Schüttemeyer
Die soziale Basis jeder Demokratie
Die neue Ausgabe der Zeitschrift für
Parlamentsfragen (2/2005)
Demokratie braucht mehr als eine Institutionenordnung, mehr auch
als demokratisch gesinnte Eliten, die diese Ordnung ausfüllen.
Zivilgesellschaft und Zusammengehörigkeitsgefühl sind die
sozialen Faktoren, derer es bedarf, um ein politisches System -
auch jenseits seiner Institutionen und Eliten - fest zu verankern.
Die Bedeutung dieser Faktoren lässt sich an den
gegenwärtigen Schwierigkeiten europäischer
Verfassungsgebung ebenso ablesen wie an mancherlei
Fehlentwicklungen in den etablierten westlichen Demokratien.
Für den postkommunistischen Transformationsprozess weist
Jerzy Macków im neuen Heft der "Zeitschrift für
Parlamentsfragen" nach, dass an nationalen Interessen (und
Rechtstaatlichkeit) orientierte Eliten oder national-demokratische
Bewegungen anfangs durchaus zivilgesellschaftliche Defizite zu
kompensieren vermochten. Nur in Tschechien sieht er die
Demokratisierung als abgeschlossen. Die Ukraine habe gute Chancen,
den posttotalitären Autoritarismus zu überwinden; Belarus
hingegen fehle es an demokratischen Eliten wie an genügend
starken national-demokratischen Kräften, um die zur Zeit
stattfindende Re-Totalitarisierung abzuwenden. Wie Axel Reetz
dokumentiert, ist die Prognose auch für das Baltikum
keineswegs so günstig. Die vierten freien Parlamentswahlen in
Estland, Lettland sowie Litauen zeigen, dass die Entwicklungen
dieser Länder trotz ähnlicher Voraussetzungen recht
unterschiedlich verlaufen.
In welchem Maße auch westliche Demokratien von
Unwägbarkeiten und Widersprüchen gekennzeichnet sein
können, belegen Jörg Broschek und Rainer-Olaf Schultze in
ihrer Analyse der kanadischen Unterhauswahl 2004. Die Liberalen
verloren dort zwar die Mandatsmehrheit, nicht aber die
Regierungsführung. Dass der zu erwartende häufigere
Wechsel zwischen Phasen von Mehrheits- und Minderheitsregierungen
in Kanada keineswegs gleichbedeutend mit Instabilität oder
mangelnder politischer Handlungsfähigkeit ist, beweisen
ähnliche Konstellationen in der Vergangenheit.
Entschieden skeptischer schätzen Peter Filzmaier und Fritz
Plasser die Reformfähigkeit in den USA ein. Dort registrieren
die Autoren ein "zunehmend erstarrtes und finanziell
unkontrollierbares System". 98,3 Prozent der kandidierenden
Amtsinhaber im Repräsentantenhaus und 96,2 Prozent im Senat
wurden wiedergewählt. Hinzu kommen erhebliche
Wettbewerbsverzerrungen, weil die kostenintensiven Wahlkämpfe
und der Stil politischer Kommunikation hohe Kapitalausstattung der
Kandidaten verlangt.
Steht also den demokratischen Fortschritten in Mittel- und
Osteuropa eine Entwicklung zu Wahlen, "die keine mehr sind", in den
USA entgegen? Dem verbreiteten Eindruck tiefer politischer Spaltung
in den Vereinigten Staaten widerspricht Michael Kolkmann mit Daten
aus der Präsidentschaftswahl. George W. Bush hat in
traditionell der Demokratischen Partei zuneigenden Gruppen
überdurchschnittlich hinzugewonnen, und innerhalb der
einzelnen Staaten verteilten sich die politischen Präferenzen
häufig ganz uneinheitlich bei den Wahlgängen zum
Präsidentenamt, zum Kongress und zu den Gouverneursposten.
Zweifelsfrei eingeleitet - und in einem ersten Schritt
institutionalisiert - ist hingegen die wachsende politische
Polarisierung in der Schweiz. Burkard Steppacher zeigt, wie nach
den Wahlen 2003 auf Druck der zur stärksten Kraft avancierten
national-konservativen SVP die "Zauberformel" geändert werden
musste, nach der seit 1959 die Bundesregierung gemäß
Parteienproporz zusammengesetzt wird.
Wie unter den Bedingungen kompetitiver Westminster-Demokratie
und medienbestimmter Kommunikation politische Macht erhalten werden
kann, hat in Großbritannien Tony Blair mit seinem dritten
Wahlsieg erneut bewiesen. Bernd-Werner Becker identifiziert als
Garanten dieses Erfolgs Zentrierung und Informalisierung der
Entscheidungsstrukturen sowie Professionalisierung der
Kommunikation.
Kai-Uwe Schnapp und Philipp Harfst ermitteln mit
empirisch-quantitativem Vorgehen Ressourcen von 22 Parlamenten,
sich Informationen zu beschaffen und die Regierung zu
kontrollieren. Die über die parlamentarische Ebene
hinausreichende Bandbreite politischer Kontrolle nimmt Ludger Helms
in den Blick. Für die fünf größten
westeuropäischen Demokratien konstatiert er Stärkungen
der Regierungskontrolle durch Wahlen sowie Verfassungsgerichte und
insbesondere gewachsene Einflusspotenziale aufseiten privater
Großfirmen und Massenmedien, während die parlamentarische
Kontrolle mehrfach leicht geschwächt erscheint.
Die Besprechung parlamentsrechtlich relevanter Judikatur
deutscher Gerichte wird von Florian Edinger und Siegfried Jutzi
fortgesetzt, ebenso wie die jährliche Dokumentation der
zahlenmäßigen Entwicklung, regionalen Verteilung und
sozialstrukturellen Zusammensetzung der Parteimitgliedschaften von
Oskar Niedermayer.
Die "Zeitschrift für Parlamentsfragen" erscheint beim
VS-Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbanden. Das soeben
erschienene Heft 2 des 36. Jahrgangs kostet als Einzelheft 13,50
Euro.
Zurück zur
Übersicht
|