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Elena Stepanova
Abschied von allem Großmachtstreben
Russland - die "gestrandete"
Weltmacht
"Anfang der 90er-Jahre löste bei uns die
Ersatzreligion Geopolitik den Marxismus-Leninismus ab", spottete
einmal Dmitrij Trenin von der Carnegie-Stiftung Moskau. Trotz des
spöttischen Tons gegenüber der neuen "Religion" ist
Trenin selbst ihr treuer Anhänger. Er analysiert die
historischen Muster der russischen territorialen Staatsbildung und
bemüht sich, die Herausforderungen und Chancen zu definieren,
denen Russland seinen geopolitischen Grenzen entlang
gegenübersteht. Ferner diskutiert er verschiedene Optionen,
wie Russland in die Weltgemeinschaft einzugliedern ist.
Trenin behauptet, dass das Zeitalter, in dem
Eurasien und Russland Synonyme waren, zu Ende ist und führt
geopolitische Argumente für die Integration Russlands in den
Westen an. Russland unter der Führung Putins scheint sich
langsam aber sicher in dieselbe Richtung zu bewegen, die vom Autor
vorgeschlagen wird. "Wie Deutschland ist Russland traditionell
ebenfalls ein geographischer Begriff. Seine äußeren
Grenzen haben seine kulturelle und internationale Identität
bestimmt", so Trenin.
Anfangs beschreibt er das sogenannte "Sammeln
der russischen Lande", den Prozess, in dem mehrere Zaren die
Länder im Westen, Süden und Osten absorbierten. Sie
schufen das russische Reich, das - wie später die Sowjetunion
- mit mehr als 100 verschiedenen ethnischen Gruppen das
größte Land auf der Erde war. Dass Trenin russische
Eroberungskriege als "Sammeln der russischen Lande" bezeichnet, den
Molotov-Ribbentrop-Pakt inklusive, ist für russische
Geopolitikanhänger nicht untypisch.
Im weiteren Teil setzt sich Trenin mit
Problemen an den russischen Grenzen auseinander, indem er sie als
drei "Fronten" bezeichnet - die "westliche", die "südliche"
und die "fernöstliche". Ein Überbleibsel seiner
Militärkarriere? Er sieht Europa als Russlands stabilsten
Nachbarn. Doch es gibt viel Neues im russischen Westen. Die Zukunft
von Kaliningrad, das nach der Erweiterung von NATO und EU eine
Exklave geworden ist, benötigt schwierige Kompromisse sowohl
von Russland als auch von seinen Nachbarn, wenn sie Konfrontation
vermeiden wollen.
Dennoch, mit Ausnahme von einigen
ausstehenden Grenzproblemen entwickeln sich Russlands Beziehungen
zu seinen westlichen Nachbarn eher positiv. Trenin glaubt, dass
sich Russland modernisieren und in einer globalisierten Welt
erfolgreich sein kann, wenn es eine europäische Identität
und eine allmähliche Integration ins größere Europa
wählt.
Die Instabilität im Süden
gefährdet Russland am meisten. Trenin zeigt sich besorgt wegen
des Mangels an einer konsequenten Politik für die Region als
Ganzes, in der Fundamentalismus, fehlende Rechtsstaatlichkeit und
ethnischer Konflikt in drei Staaten des Transkaukasus (Armenien,
Aserbaidschan und Georgien) das Gebiet verunsichern. Zentralasien
ist stabiler, bleibt aber eine Quelle des islamischen Terrorismus,
der Russlands Sicherheit gefährden könnte.
Russlands entscheidendstes geopolitisches
Problem gemäß Trenin ist Sibirien und der russische Ferne
Osten. Der schnelle Zerfall der Infrastruktur der Region seit 1992
und die Auswanderung von Russen in der Zeit, in der die
gesamtrussische Geburtenrate drastisch fällt, hat den
Niedergang des Fernen Ostens beschleunigt. Die Zuwanderung von
chinesischen Schwarzarbeitern in die fernöstlichen Regionen
hat eine Diskussion ausgelöst, ob Russland an diesem Gebiet
festhalten kann. Beim ewigen Streit mit Japan über die Kurilen
zweifelt Trenin, ob irgendeine Lösung in Sicht ist.
Trenin rekonstruiert das bekannte Argument
von den 300 Jahren der russischen Expansion und des Imperialismus
und vom unvermeidlichen Untergang des Imperiums und seine
spätere Desintegration. In seiner Reflektion über die
Zukunft Russlands verlässt sich der Autor auf Konzepte von
"Imperium" und "Nationalstaat", indem er die Ideen von Francis
Fukuyama und Zbigniew Brzezinski wiederholt. Statt politische,
wirtschaftliche und kulturelle Faktoren mit einzubeziehen,
behauptet er, dass Russland sich seiner Fixierung auf Territorien
entledigen und auf die territoriale Rekonstruierung als
wesentlichem Ziel der Außenpolitik verzichten
müsse.
Die Lösung der komplexen russischen
geopolitischen Dilemmas sieht Trenin im Verzicht auf den zu
häufig gebrauchten Begriff der Großmacht und den Anspruch
auf die imperiale Rolle außerhalb der Grenzen. Politik als
permanente Konkurrenz zwischen verschiedenen Alternativen fehlt in
der zu deterministischen Perspektive des Autors.
Dmitrij Trenin
Russland: Die gestrandete
Weltmacht.
Neue Strategien und die Wende zum
Westen.
Murmann Verlag, Hamburg 2005; 350 S., 24,
90 Euro
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