|
![](../../../layout_images/leer.gif) |
Andrea Dunai
Eine vitale Viel-Völker-Metropole
Riga: Die Hauptstadt Lettlands erzählt
Geschichte
Jahrhundertelang standen die Sprachen in Konkurrenz zueinander:
In den Schulen, Geschäften und auf der Straße sprachen
die Rigenser Deutsch. Zuhause entfaltete sich das Leben in
lettischer Sprache, Gerichte und kommunale Behörden
verhandelten auf Russisch. Bis 1870, mit Ausnahme der so genannten
"Polnischen Zeiten" (1582 - 1621), war dies so. Riga an sich war
eine deutsche Stadt, und als solche gehörte sie
verwaltungstechnisch zur Ostseeprovinz, dem Gouvernement Livland
des Russischen Reiches.
Hier, im administrativen Zentrum, welches für Estland,
Livland und Kurland zuständig war, lebten in der Mitte des 19.
Jahrhunderts 66.000 Einwohner. Eine Telegrafenverbindung
existierte, wenn überhaupt, nur mit der Hauptstadt St.
Petersburg. In der Stadtverordnetenversammlung Rigas von 1878
verfügten die Deutschen über 64 Sitze, die Russen
über vier, die Letten und die Juden über jeweils zwei
Sitze. Auch wenn das deutsche Bürgertum in der Stadt als
federführend galt und zahlenmäßig die russische
Population überragte, kam es allmählich zur Stärkung
der nationalen russischen Identität. Dies geschah parallel zur
Verkündung des Manifests von 1905 durch Kaiser Nikolaus II.,
demzufolge er das Zarenreich in eine konstitutionelle Monarchie
umzuwandeln versprach.
Die Rigaer Variante des Strebens nach Teilnahme am politischen
Leben verlief nicht in separierter Form, sondern durch die
Einbeziehung weiterer Minderheiten. Diese Angelegenheit inspirierte
die Gründung der Konstitutionell-Demokratischen Partei, der
Kadetten. Der politisch denkenden Intelligenz war klar, dass die
seit den 80er-Jahren betriebene Russifizierungspolitik in Riga
enorme Schäden verursacht hatte.
Die Einführung der russischen Unterrichtsprache sorgte,
statt die Gemeinsamkeiten zu fördern, für Spaltungen
zwischen den Minderheiten. Die zur autochthonen Bevölkerung
zählenden Letten galten zwar als Vorbilder an
Unternehmensgeist, sahen sich jedoch infolge ihres schwachen
Bildungsniveaus zunächst an die Peripherie der Gesellschaft
gedrängt.
Eine Veränderung erfolgte erst mit der durch die Revolution
von 1905 erzwungenen Liberalisierung. In diesem Jahr erschienen
(nebst den deutschen und russischen) die ersten lettischen
Straßenschilder. Das Vereinsleben und die kulturellen
Aktivitäten der Letten nahmen bis zum Ausbruch des Ersten
Weltkrieges greifbare Formen an. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts
konnten sich die Letten in ihrer 270.000 Einwohner zählenden
"lettischen" Stadt und nicht mehr nur in dem traditionellen
lettischen Stadtteil Mitauer Vorstadt heimisch fühlen. Sie
verfügten über eine eigene Zeitung, und der Komponist
Karlis Baumanis hatte bereits die spätere Nationalhymne von
1918 verfasst.
Das vorliegende Handbuch ist ein gründlich recherchiertes
Werk, welches Riga von 1857 bis 1914 in seiner ganzen kulturellen
und ethnischen Vielfalt lebendig darstellt. Fünf lettische und
zwei deutsche Historikerinnen und Historiker widmen sich den
führenden ethnischen Gruppen der Stadt: den Letten, Deutschen,
Russen, Juden, Polen, Litauern und Esten. Durch die spannenden
Beschreibungen und zahlreichen Originalzitate und
-zeitungsausschnitte wird das damalige Alltagsleben in der
lettischen Hauptstadt wieder zum Leben erweckt. Die Portraits
verleiten zu dem Eindruck, dass die multinationale baltische
Metropole gleichzeitig allen ihren Bürgern ein Zuhause bot,
wobei die Demarkationslinien zwischen den Bevölkerungsgruppen
fließend waren. Sie alle betrachteten bis 1914 die eigene
Sprache im Grunde als Landessprache. Die Stadt wuchs damals zu
einem wichtigen Industrie- und Handelszentrum des Russischen
Reiches heran. Zu diesem enormen Aufschwung haben alle Rigenser
beigetragen.
Erwin Oberländer und Kristine Wohlfart (Hrsg.)
Riga. Portrait einer Vielvölkerstadt am Rande des
Zarenreiches 1857 - 1914.
Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2004; 273 S.,
24,90 Euro
Zurück zur
Übersicht
|