|
![](../../../layout_images/leer.gif) |
Barbara Minderjahn
Ganz Belgien tanzt
175 Jahre staatliche Unabhängigkeit und 25
Jahre Förderalismus
Auf dem Werthplatz, einem zentralen Platz in der
belgischen Kleinstadt Eupen, herrscht ausgelassenes Gedrängel.
Hunderte von Menschen üben zu abendlicher Stunde tangoartige
Figuren, Pirouetten und andere seltsame choreografische Bewegungen.
Um 22.10 Uhr ist es dann endlich soweit: die Stadt Eupen tanzt -
und mit ihr ganz Belgien. In zwölf Städten gleichzeitig
haben sich die Einwohner versammelt, als Zeichen ihrer
patriotischen Gesinnung oder einfach nur um Spaß zu haben.
Denn Belgien feiert dieses Jahr sein 175-jähriges
Jubiläum und seinen seit 25 Jahren existierenden
Föderalismus.
Ich denke, die Einigkeit, die wir heute
erlebt haben, hat Belgien gut getan", bewertet eine Eupenerin das
Ereignis. "So wächst das Land vielleicht besser
zusammen."
Belgien ist seit 175 Jahren ein Staat - als
kulturelle Einheit empfinden die Einwohner ihr Land
nicht.
Das heute rund zehn Millionen Einwohner
zählende Königreich proklamierte 1830 seine
Unabhängigkeit. Schon damals war das Land in kultureller und
sprachlicher Hinsicht gespalten, und das hatte auch historische
Gründe. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts gehörte ein Teil
des späteren Belgiens noch zu den Niederlanden und damit zum
Herrschaftsgebiet des spanischen Königs Karl V. In diesem
Gebiet, das in den folgenden Jahrhunderten immer wieder mal zu
Österreich, mal zu Spanien oder Frankreich gehörte,
sprach die Bevölkerung überwiegend flämisch. Das
Fürstbistum Lüttich, das sich seit jeher ein Statut der
Unabhängigkeit bewahrt hatte, und weitere Teile des heutigen
Südbelgiens waren französischsprachig. Doch
Französisch war auch die Sprache des gehobenen Bürgertums
und damit die gültige Amtssprache - bis zum Ende des 19.
Jahrhunderts.
Dann kam die Zeit des so genannten nationalen
Erwachens in Europa. Viele bis dahin unterdrückte Volksgruppen
wurden sich ihrer regionalen Besonderheiten bewusst und forderten
mehr Rechte - auch in sprachlicher Hinsicht. Die flämischen
Belgier machten da keine Ausnahme. Sie forderten mehr Beachtung,
und ganz allmählich nahm damit eine Entwicklung ihren Lauf,
die rund ein Jahrhundert später im belgischen
Föderalismus enden sollte. "Die ersten Sprachgesetze
entstanden 1873", heißt es in einer vom belgischen Staat
herausgegebenen Broschüre. "Sie erlaubten den Gebrauch des
Flämischen im Justiz bereich, dann im Verwaltungswesen (1878)
und schließlich im Unterrichtswesen (1883). Ab 1914 wird in
Flandern der Ruf nach einer anderen belgischen Staatsform laut,
damit Flandern anerkannt ist und nicht länger durch einen
Staat unterdrückt wird, der mehr frankophon als belgisch ist.
Damit der flämische Landesteil an Macht und Bedeutung gewinnen
kann, wird verschiedentlich die Schaffung eines eigenen
flämischen Staates gefordert. Andere wiederum denken eher an
mehrere Teilstaaten, die aber miteinander verbunden bleiben
sollen."
Die Flamen im Norden und die Wallonen im
Süden entfremden sich zunächst weiter voneinander. Aus
Angst vor der Übermacht des Flämischen wollen auch einige
Wallonen die Trennung der beiden Regionen und das Ende eines
gemeinsamen Staates. Doch es kommt anders. Mitte des 20.
Jahrhunderts verändern sich in Belgien die wirtschaftlichen
Verhältnisse. Wallonien - bis dahin Zentrum der Industrie -
verliert gegenüber den flämischen Provinzen an Bedeutung.
Welche Sprache und Kultur die vorherrschende sein soll, wird im
Streit zwischen den beiden Regionen unbedeutender. Die
französischsprachigen Wallonen fordern jetzt vor allem die
Autonomie in der Wirtschaftspolitik. Es geht darum, eine neue Form
von Eigenständigkeit zu schaffen: Jede Region soll über
die Dinge, die sie betreffen, selbst entscheiden
dürfen.
Die erste Staatsreform legt 1970 die
Grundlagen für einen Föderalstaat. Die Aufteilung
Belgiens in vier Sprachgebiete und drei Kulturgemeinschaften wird
in der Verfassung verankert: das französischsprachige Gebiet,
das niederländischsprachige Gebiet, die Hauptstadt
Brüssel, wo man Niederländisch und Französisch
spricht, und das deutschsprachige Gebiet.
Bei der Region, in der Deutsch gesprochen
wird, handelt es sich um Gemeinden, die an der Grenze zu
Deutschland liegen. Bis 1920 gehörten sie zum Königreich
Preußen. Im Kampf um die Eigenständigkeit gehören
sie nicht zu den Akteuren, doch sie profitieren von dem Ergebnis.
1980 werden die drei Kulturgemeinschaften schließlich zu
Gemeinschaften mit Selbstverwaltungsrechten: die Flämische
Gemeinschaft, die Französische Gemeinschaft und die
Deutschsprachige Gemeinschaft haben jeweils ein eigenes Parlament
und eine eigene Regierung. Darüber hinaus werden die vier
Sprachgebiete in drei (Wirtschafts-) Regionen zusammengefasst: Die
Flämische Region, die Wallonische Region und die Region
Brüssel. Die Deutschsprachige Gemeinschaft gehört auf
dieser Ebene zur Wallonischen Region. Die Regionen haben ebenfalls
eine eigene Regierung und ein eigenes Parlament. Der belgische
Föderalismus ist geboren.
Drei Regionen, drei Gemeinschaften, drei
Sprachen, vier Sprachgebiete - ein Staat. Das System ist
kompliziert. Aber bis heute sind die Belgier stolz auf ihren
Föderalismus, denn sie sind sich sicher, dass er die Spaltung
ihres Landes verhindert hat. Jeder darf darüber, was ihn
betrifft, selbst entscheiden - was alle betrifft, regeln alle
gemeinsam. Nach diesem Grundgedanken gibt jedes Individuum und jede
Kulturgemeinschaft nur so viel Souveränität ab, wie
nötig. Das Prinzip funktioniert so: Der Föderalstaat
kümmert sich um das Land in seiner Gesamtheit. Egal in welcher
Region man lebt und welche Sprache man spricht - die
Entscheidungen, die auf dieser Ebene getroffen werden, betreffen
alle Einwohner. Konkret bedeutet das: Die Staatsregierung
kümmert sich um die nationale Wirtschaft und Währung, um
die Justiz, die Sicherheit im inneren und äußeren
(Polizei, Armee), um die soziale Sicherheit (zum Beispiel Rente,
Arbeitslosengeld) um nationale Forschung und Kultur und um das
öffentliche Gesundheitswesen.
Die Regionalregierung entscheidet über
verschiedene Teilbereiche des Zusammenlebens, vor allem in der
Region, also zum Beispiel über den Umweltschutz, die
Raumordnung, den Wohnungsbau, die Versorgungswirtschaft, die
regionale Wirtschafts- oder die Energiepolitik.
Die Gemeinschaften werden vor allem als
kulturelle Einheiten gesehen. Sie haben das Recht, über alles
zu entscheiden, was mit der freien Entfaltung der Person zu tun
hat: also zum Beispiel über das Unterrichtswesen, die
Medienpolitik, die Gesundheitspolitik, den Sport, den Tourismus,
die Sozialhilfe, die Zusammenarbeit zwischen den Gemeinschaften und
die internationale Zusammenarbeit. Die Regierungen der
Gemeinschaften können daher sogar eigenständig
internationale Verträge abschließen - ein Recht, das
solche kulturellen Einheiten in anderen Ländern nicht
haben.
Trotz der großen Freiheit gibt es
allerdings auch kritische Stimmen. Viele Belgier sind beispielweise
auch heute noch der Meinung, dass dem Land der Sinn für das
Gemeinsame und für eine gemeinsame nationale Identität
fehlt. Tatsächlich unterscheiden sich im alltäglichen
Leben nicht nur Sprachen und Gesetze, sondern auch die
Lebensgewohnheiten.
Die deutschsprachige Gemeinschaft
beispielsweise ist in ganz Belgien bekannt dafür, präzise
und zuverlässig zu sein wie die Deutschen, erzählt ein
Ostbelgier. Die Flamen seien fleißig, aber manchmal eben auch
geizig wie die Holländer. Die französischsprachigen
Wallonen gelten dagegen in jeder Hinsicht als eher locker.
Andererseits halten sich die Menschen im Hinblick auf ihre
Besonderheiten und Vorlieben nicht immer streng an die kulturellen
und sprachlichen Grenzen. In Eupen beispielsweise sprechen die
meisten Menschen deutsch. Gegessen wird hier aber eher
französisch. Was ist also belgisch?
"Typisch belgisch ist, dass die
Hochzeitsfeier unseres Prinzen fast drei Mal so lange dauert wie in
jedem anderen Land, weil hier die Zeremonie in allen drei Sprachen
abgehalten wird", spottet ein Belgier. "Oder wenn in Brüssel
zuerst die Wallonen eine Straße aufreißen, um ihre
Stromkabel zu verlegen, und eine Woche später die Flamen die
gleiche Straße noch mal aufreißen."
Auch heutzutage gibt es in Belgien wieder
Stimmen, die sagen, eine staatliche Trennung wäre für
alle das beste. Doch die meisten empfinden den belgischen
Föderalismus mit all seinen Kuriositäten und
Schwächen als etwas wahrhaft Besonderes: "In gewisser Weise
ist Belgien wie ein kleines Europa - wir sind alle unterschiedlich
und bilden doch eine Gemeinschaft", betont ein Eupener, nachdem
ganz Belgien gemeinsam getanzt hat. Und weil die Stimmung gerade so
schön patriotisch ist, fügt er hinzu: "Unser
Föderalismus könnte für Europa ein gutes Vorbild
sein."
Zurück zur Übersicht
|