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Frauke Hamann
Endspiel und Trauma eines Wahns
Walter Kempowski hat sein Meisterwerk
vollendet
Dieses Buch fesselt, man kann sich ihm
unmöglich entziehen. Walter Kempowski versammelt und montiert
in seinem "Abgesang '45" Zeugnisse über vier markante Tage:
den 20., den 25. und den 30. April sowie über den 8./9. Mai
1945. Angefangen bei Adolf Hitlers letztem Geburtstag über das
Zusammentreffen von Amerikanern und Russen bei Torgau an der Elbe
und die Gründung der Vereinten Nationen bis zum Selbstmord des
"Führers" und der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands.
Kempowski hat aus seinem vor über 20 Jahren begonnenen
Tagebücher- und Zeitzeugen-Archiv das Endspiel des Dritten
Reiches so wahrhaftig und fesselnd choreografiert, wie nur er es
vermag.
Kempowski ist mit seinem Echolot-Projekt zum
Komponisten der Erinnerung geworden, er ist für uns
hinabgetaucht in die Vielstimmigkeit der Zeitzeugenschaft. Das Buch
gleicht einer Zeitreise zurück in die letzten Tage des
NS-Regimes, des Zweiten Weltkrieges, einer unerhörten,
für die Beteiligten kaum fassbaren Situation. Soldaten
verschiedener Nationen kommen zu Wort, aber auch militärisch
und politisch Verantwortliche; Schriftstellerkollegen wie Erich
Kästner, Elias Canetti und Ernst Jünger äußern
sich, vor allem aber Menschen aller Schichten.
Der große Choreograf Kempowski zeigt
sich in der Qualität seiner short cuts. "Die Welt wird
schöner mit jedem Tag", mit diesem Vers aus Ludwig Uhlands
Frühlingsglaube grundiert er den ersten Tag, an dem Adolf
Hitler seinen 56. Geburtstag begeht, "während ringsum in
Berlin alles brennt" und Reichspropagandaminister Joseph Goebbels
in der Lagebesprechung im Führerbunker kundtut, durch das
Ausharren in Berlin "könne man einen moralischen Welterfolg
erzielen".
Zu diesem Aberwitz kontrastiert, was ein
US-Kriegsberichterstatter angesichts der Ströme von befreiten
Zwangsarbeitern und alliierten Kriegsgefangenen empfindet: "Sie
waren das Treibgut Europas." Beim Zusammentreffen von Amerikanern
und Russen bedauert einer der Beteiligten angesichts des
historischen Augenblicks: "Keiner brachte einen unsterblichen Satz
zustande." Ein Kriegsgefangener spürt "wirkliche
Gottverlassenheit", ein anderer kann nur denken: "Was wird, was
kommt, wie lange noch?", während die in Auschwitz befreite
Jüdin Ruth Klüger begreift: "Nicht unsretwegen war in
diesem Krieg gekämpft worden."
So wie sich die Ereignisse überlagern,
tun es auch die Empfindungen. Das Buch versammelt eine Fülle
von Gefühlen, von Denk- und Verhaltensweisen. Während die
Schlacht um Berlin tobt, liest Ernst Jünger "weiter im Hiob.
Mehr erfasst keine Philosophie."
Richard Strauss wimmelt derweil in Garmisch
amerikanische Soldaten ab, die sein Haus requirieren wollen - indem
er den "Rosenkavalier" spielt und zufrieden notiert: "Abwehrerfolg
durch den Geist." Walter D., Kriegsgefangener in Texas, vermerkt:
"Deutschland hat den Krieg verloren. Diese Worte sind unsagbar
schwer zu schreiben." Und Dieter Wellershoff in Mecklenburg gesteht
sich ein: "Ich bin nicht im geringsten mit all dem fertig, was
passiert. Ich kann es in Wirklichkeit überhaupt nicht
fassen."
Gebirge von Erinnerungen
Alfred Döblin bekennt, dass sein
"persönlicher Bedarf an historischen Ereignissen nun
völlig gedeckt" sei. Ein Rotarmist hat "Sehnsucht nach Stille"
inmitten des Kampflärms. Knut Hamsun erfährt von Hitlers
Selbstmord und bekundet: "Wir, seine treuen Anhänger, neigen
nun unser Haupt." Heimito von Doderer hingegen schreibt: "Man kann
durch Dulden schuldig werden. So, letzten Endes, hat der totale
Staat den Menschen eingesackt."
Kompositorisches Können und Vertrautheit
mit der historischen Situation wie dem Zeitzeugen-Material
ermöglichen die Intensität des "Abgesang '45". Aus einem
Gebirge von Erinnerungstexten hat Kempowski jene geborgen, die die
historische Situation treffen, die aber auch uns treffen - ihre
Vielstimmigkeit ergibt eine Fülle der Perspektiven.
Nach den ersten vier "Echolot"-Bänden
von 1993, der ebenfalls vierbändigen "Fuga furiosa" von 1999
über den Januar und Februar 1945 und dem einbändigen
Prolog "Barbarossa '41" ist das Echolot-Projekt nun meisterlich
vollendet - und als Hauptwerk Kempowskis sichtbar. Vor 25 Jahren
hatte Kempowski beschlossen, alle Tantiemen für den Aufbau und
Erhalt seines Archivs von unterdessen mehr als 8.000
Tagebüchern und biographischen Texten zu verwenden. Er sieht
sich als Vertreter einer "Literatur der Objektivität". Lange
sei er abgestempelt gewesen "als Halbidiot, weil ich humorvoll
geschrieben habe. Seit dem Echolot ist das anders. Es gibt zwischen
meiner Familienchronik und dem Echolot ein Wechselspiel: Das eine
ist mehr subjektiv erzählt und das andere ist eine Versammlung
der Vielen - dadurch bekommt es einen objektiven
Charakter."
Kempowski trifft die Auswahl: "Ich halte die
Tür offen und lasse nicht jeden rein. Und wie ich die Aussagen
der Menschen komponiere, zusammenfüge und dialogisiere, sie
zueinander in Beziehung setze und ins Licht rücke - damit eben
äußere ich meine Meinung." Das letzte Wort hat
Hölderlin, bei dem es heißt: "Der Menschen
Thätigkeit beginnt mit neuem Ziele,/So sind die Zeichen in der
Welt, der Wunder viele."
Walter Kempowski
Das Echolot. Abgesang '45.
Albrecht Knaus Verlag, München 2005;
496 S., 49,90 Euro
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