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Carsten Hauptmeier
Was Deutschlands Schulen von Finnland lernen
können
Bildungsschlaraffenland oder hochstilisierter
Mythos?
"In Deutschland ist alles ganz fantastisch - bis
auf die Schule." Dieses wenig schmeichelhafte Urteil fällen
finnische Austauschschüler nach den Worten des
Deutsch-Koordinators der Schulbehörde Finnlands, Rainer
Domisch, nachdem sie den deutschen Unterricht kennen gelernt haben.
Die deutschen Schüler würden dagegen am liebsten nie
wieder zurückgehen. Am meisten seien die jungen Deutschen
davon beeindruckt, dass die Lehrer individuell auf sie eingingen
und fragten, wo sie Hilfe bräuchten, erzählt Domisch.
Im hohen Norden scheint das Schlaraffenland
der Bildung zu liegen. Seit Finnland als klarer Sieger aus der
internationalen PISA-Studie hervorging, gilt das kleine Land als
Vorbild für ein erfolgreiches Schulsystem. Deutschland landete
bei der Vergleichsstudie der Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bekanntermaßen nur im
Mittelfeld. Was liegt also näher, als den Schlüssel
für künftige eigene Erfolge in Finnland zu suchen.
Tatsächlich pilgerten deutsche Politiker in den vergangenen
Jahren eifrig nach Helsinki, um sich die dortigen Schulen genauer
anzusehen. Doch mit der Suche nach Ideen in Skandinavien tauchte
auch die Frage auf: Lässt sich das Schulsystem eines
Fünf-Millionen-Volkes am Rande Europas überhaupt mit der
80 Millionen Einwohner zählenden Bundesrepublik
vergleichen?
Es dürfte zwar kaum jemand ernsthaft
glauben, dass sich ein Schulsystem eins zu eins übertragen
lässt - doch Lehren lassen sich nach Überzeugung
zahlreicher Experten durchaus ziehen. Der Hamburger
Erziehungswissenschaftler Peter Struck drückt es so aus:
Deutschland könne sich von "einigen Leitgedanken" wie dem
starken Augenmerk auf die jüngsten Schüler anregen
lassen. Im Kern dreht sich die deutsche Debatte um das Vorbild
Finnland aber um die Schulstruktur: Statt die Kinder wie in
Deutschland nur vier Jahre gemeinsam in der Grundschule lernen zu
lassen, bleiben die jungen Finnen nach einem von fast allen Kindern
wahrgenommenen Vorschuljahr neun Jahre lang zusammen auf einer
Gemeinschaftsschule. Erst danach müssen sie sich entscheiden,
ob sie in einer dreijährigen gymnasialen Oberstufe das Abitur
machen oder eine Berufsschule besuchen wollen.
Sitzenbleiben gibt es nicht
Doch bis dahin lernen eben alle Kinder
gemeinsam - egal, wie hoch oder niedrig ihr Leistungsniveau ist.
Auch Sitzenbleiben gibt es in der Regel nicht. Für den
Erziehungswissenschaftler Struck bedingt dies auch einen anderen
Umgang der Lehrer mit den Kindern und Jugendlichen: Wenn man wisse,
dass man einen Schüler nie wieder loswerde, stelle man sich
auf ihn ein, sagt Struck. Anders in Deutschland: Kommt ein
Schüler etwa auf dem Gymnasium nicht mehr mit, findet er sich
womöglich bald auf der Realschule wieder. Dass dies in
Finnland nicht geht, nennt der Leiter des Instituts für
Schulentwicklungsforschung in Dortmund, Hans-Günter Rolff,
einen "heilsamen Zwang". Die gerade in Deutschland stark
verbreitete Meinung, dass unter diesen Umständen zwar die
schwächeren Schüler profitieren, aber die guten unter
ihren Möglichkeiten bleiben, hält der Wissenschaftler
für falsch: Auch die besten fünf Prozent in Finnland
seien besser als die deutschen Spitzenschüler. PISA habe
gezeigt, dass von heterogenen Gruppen alle Kinder profitierten,
sagt Rolff.
In Deutschland erscheint dies vielen Eltern
vermutlich auch deshalb schwer vorstellbar, weil sie das Modell der
deutschen Gesamtschule vor Augen haben. Dieser Vergleich hinkt
allerdings: In Finnland gibt es nur Gesamtschulen, hierzulande
haben Lehrer und Eltern aber die Wahl zwischen Hauptschule,
Realschule, Gymnasium oder Gesamtschule. In Deutschland streiten
nun die politischen Lager immer heftiger darum, ob nach
skandinavischem Vorbild alle Schüler eine Gemeinschaftsschule
besuchen sollen. Während sich bei der SPD entsprechende
Forderungen mehren, hält die Union am bisherigen System
fest.
Domisch, der Kenner des deutschen und
finnischen Schulwesens, hält einen Systemwechsel für
unumgänglich: Ohne eine andere Struktur werde in Deutschland
nicht "der große Wurf" gelingen. Er räumt allerdings auch
ein, dass dies nicht allein den Unterschied ausmache. Es gebe auch
andere Länder mit einer Gesamtschule wie etwa
Großbritannien, das aber dennoch in den Schulen auf Konkurrenz
setze. Es müsse sich mit der anderen Struktur auch eine eigene
Kultur entwickeln, sagt Domisch. Dazu zählt in Finnland etwa
das umfangreiche Fördersystem an den dortigen
Gemeinschaftsschulen, das zum Beispiel eine gezielte Förderung
in Kleingruppen vorsieht. Den Pädagogen steht zudem mit
Psychologen oder so genannten Kuratoren, eine Art Sozialarbeiter,
ein ganzes Team von Helfern zur Seite. Nicht umsonst gilt Finnland
besonders bei der Förderung und Integration von
schwächeren Schülern als Vorbild. Ein weiteres Merkmal
des finnischen Modells ist die stark ausgeprägte
Schulautonomie. Zu dem System gehöre eine sehr starke
Unabhängigkeit und Selbstverantwortung der Schulen, sagt
Domisch, der vor seinem Wechsel zur finnischen Schulbehörde in
Baden-Württemberg als Lehrer arbeitete.
Kennzeichnend für das in Finnland
herrschende Schulklima ist auch, dass die Lehrer ein enorm hohes
Ansehen genießen. Die Zahl der Bewerber für ein
Lehramtsstudium übersteigt deutlich die Zahl der vorhandenen
Plätze. Am Geld kann dies allerdings nicht liegen, da deutsche
Pädagogen besser als ihre finnischen Kollegen verdienen.
Domisch sieht das hohe Renommee der Lehrer in den eigenen
Schulerfahrungen der Finnen begründet. Die Menschen
hätten früher nicht die Erfahrung gemacht, dass
Schüler von ihren Lehrern beschämt worden seien. In
Deutschland berichteten Erwachsene dagegen immer wieder von
negativen Erfahrungen in ihrer Schulzeit wie Beleidigung und
Ausgrenzung, sagt Domisch.
Bleibt bei allem Lob für das finnische
Modell die Frage, ob dies auch unter den gesellschaftlichen
Verhältnissen Deutschlands den Weg aus der Krise weisen kann.
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus,
bezweifelt dies. Finnland sei ein bisschen "zu einem Mythos
hochstilisiert" worden, dabei bestünden dort völlig
andere Rahmenbedingungen, sagt der Direktor eines bayerischen
Gymnasiums. So ist ein Vergleich aus seiner Sicht schon deshalb
schwer möglich, weil der Anteil von ausländischen Kindern
in Finnland weitaus geringer ist. Es gebe also eine ausgesprochen
homogene Schülerschaft, betont Kraus.
Geradezu "familiär"
Diesen Unterschied kann auch die
Schulexpertin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW),
Marianne Demmer, nicht wegdiskutieren. Sie gibt aber zu bedenken,
dass die Einwohnerzahl und der Migrantenanteil Finnlands ziemlich
genau denen von Sachsen entsprächen. "Dann müsste man
also Sachsen und Finnland miteinander vergleichen - das Ergebnis
würde für Sachsen nicht so toll ausfallen", argumentiert
die Gewerkschafterin. Domisch weist zudem auf das spezielle
Fördersystem für "Kinder mit anderer Muttersprache" in
Finnland hin. Schon in der Vorschule erhielten sie 20 Stunden
Finnisch-Unterricht pro Woche, um sie auf die erste Klasse
vorzubereiten.
Kraus sieht aber noch weitere Unterschiede:
In Finnland seien die Schulen geradezu "familiär", etwa die
Hälfte von ihnen habe weniger als 50 Schüler, sagt der
Schuldirektor mit Blick auf die weitaus höheren Zahlen an
deutschen Schulen. Auch kulturelle Unterschiede müssen aus
seiner Sicht berücksichtigt werden. Als Beispiel nennt er die
"ausgeprägte Lesekultur" im Norden. Kraus führt dies
unter anderem darauf zurück, dass die Finnen auf ihre Sprache
sehr stolz seien. Der Pädagoge erinnert zudem daran, dass in
Finnland ausländische Filme nicht synchronisiert, sondern mit
finnischen Untertiteln ausgestrahlt werden. Die Folge liegt auf der
Hand: Auch die Fernsehkinder wollen schnell Lesen
lernen.
Doch auch Kraus streitet nicht ab, dass
Deutschland von Finnland lernen kann. Vorbildhaft findet er
beispielsweise die individuelle Förderung von
Risikoschülern. Domisch glaubt natürlich erst recht, dass
sich "eine ganze Menge" des finnischen Modells auf Deutschland
übertragen lässt. Die lebhafte Diskussion um die
Unterschiede zwischen den beiden Ländern erklärt er sich
so: Um die Debatte in Deutschand zu entschärfen, "versteckt
man sich auch hinter der Nicht-Vergleichbarkeit".
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