Guido Rijhoek
Eine neue Tür zur Mathematik
geöffnet
In Gießen versucht ein Mitmachmuseum die
Rechenkunst anschaulich zu machen
Für Mathelehrer und engagierte Eltern ist es ein
Gefühl wie Weihnachten: Die eigenen Schüler oder
Sprösslinge, sonst eher mäßig an Geometrie oder
Zahlen interessiert, basteln Fußbälle aus Fünf- und
Sechsecken, staunen über Kantenmodelle oder experimentieren
begeistert mit Würfeln oder Tetraedern. Mathematik sinnlich
erfahrbar zu machen, ist das Ziel des im Herbst 2002
eröffneten Mathematikmuseums in Gießen. "Das ist eine
neue Tür zur Mathematik", betont Museumschef Albrecht
Beutelspacher.
Experimente geben Impulse
"Pythagoras zum Wiegen" heißt eines der Experimente. Hier
kann der Besucher den Lehrsatz des großen Mathematikers mit
einer simplen Postwaage nachvollziehen. Handliche Quadrate liegen
um ein Dreieck herum und siehe da: bei einem rechtwinkligen Dreieck
sind die Quadrate über den beiden Katheten gemeinsam gleich
schwer - und also auch gleich groß - wie das Quadrat über
der Hypotenuse. "Jedes Experiment ist ein Impuls, das den Besucher
in Bewegung versetzt", erklärt Beutelspacher: "Der Kopf wird
eingeschaltet und denkt automatisch mit."
Immer wieder hat sich der Professor mit den Spezialgebieten
Geometrie und Kryptographie über die mangelhafte
Anschaulichkeit der Rechenkunst im deutschen Schulalltag
geärgert: "Kaum jemand hat positive Erinnerungen an den
Matheunterricht." Während Physiker seit Jahrhunderten
interessante Experimente sammelten, herrsche in der Mathematik
allerdings völlige Fehlanzeige.
Vor zehn Jahren begann Beutelspacher erstmals mit Studenten,
mathematische Experimente zu bauen und die Ergebnisse auszustellen
- mit verblüffendem Erfolg. Die gesammelten Experimente wurden
zunächst auf mehreren Wanderausstellungen gezeigt und fanden
im Herbst 2002 ihre endgültige Heimstatt im ehemaligen
Gießener Hauptzollamt. Mit 60.000 Besuchern pro Jahr habe er
ursprünglich kalkuliert, erklärt der Matheprofessor.
Tatsächlich kamen im ersten Jahr 130.000, im zweiten schon
160.000 Besucher. Der Bedarf an einer anschaulichen Mathematik ist
erkennbar groß. Die enorme Resonanz hat dazu geführt,
dass das Museum die laufenden Kosten von rund einer Million Euro
jährlich komplett über eigene Einnahmen finanziert. Die
Kosten für den Umbau des früheren Zollamts von rund 3,5
Millionen Euro übernahmen das Land Hessen, die EU sowie
private Spender.
Würde in jeder Mathematikklasse mindestens einmal im Jahr
mit anschaulichen Beispielen gearbeitet, würde sich das Image
der Rechenkunst grundlegend wandeln, glaubt Beutelspacher. Damit es
nicht beim einmaligen Staunen vor schönen Experimenten bleibt,
bietet das Mathematikum mehr und mehr Veranstaltungen an.
Kindervorlesungen, bei denen mathematische Phänomene vertieft
behandelt werden, stehen genauso auf dem Programm wie
Fortbildungsseminare für Lehrer. Sie können sich beraten
lassen, welches Experiment für welche Jahrgangsstufe geeignet
ist.
Mathematik macht glücklich
Macht Mathematik glücklich? Auch wer in der Schule einen
zähen Rechenunterricht genossen hat, kann sich nach dem Besuch
des Gießener Mathematikums zu einem vorsichtigen Ja
durchringen. Für Museumschef Beutelspacher kann es keinen
Zweifel geben: "Das Mitdenken und Mitmachen führt zu einer
sehr emotionalen Befriedigung", betont der Professor: "Die Besucher
verlassen das Museum glücklicher als sie herein gekommen
sind."
Der Autor ist freier Journalist, Wiesbaden.
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