Oliver Scheytt
Die schönste Form der Freiheit in einer
demokratischen Gesellschaft
Eine Garantie für die "kulturelle
Grundversorgung"
Kultur in Deutschland ist geprägt von einem Zusammenspiel
öffentlicher und privater Akteure: Das Spektrum reicht von
staatlich und kommunal getragenen Kultureinrichtungen über
öffentliche und private Kulturförderung sowie
bürgerschaftliches Engagement, die
öffentlichen-rechtlichen und privaten Medien bis hin zur
Kulturwirtschaft. Dem vielfältigen Angebot steht eine
Nachfrage der interessierten Bevölkerung gegenüber, die
als Bürgerschaft das kulturelle Angebot der Kommunen und
Länder ebenso wahrnimmt, wie sie als Kunde kulturelle
Dienstleistungen am Markt abnimmt.
Im Wechselspiel von Kulturgesellschaft und Individuum,
kommerziellen Angeboten und öffentlichen Kulturinstitutionen
hat der "aktivierende Kulturstaat" mit seinen Kompetenzen und
Potenzialen einen auch verfassungsrechtlich gebotenen
Kulturgestaltungsauftrag wahrzunehmen. Dieser würde durch die
von der Kultur-Enquete-Kommission vorgeschlagene
Staatszielbestimmung: "Der Staat schützt und fördert die
Kultur" jenseits von Artikel 5 Absatz 3 Grundgesetz
(Kunstfreiheitsgarantie) ausdrücklich normiert.
Wofür stehen Staat und Kommunen?
Eine zentrale Frage ist, wofür Staat und Kommunen in der
kulturellen Vielfalt von Akteuren und Angeboten stehen. Zur
Beantwortung der Frage ist es grundlegend, die politischen
Auftragsgrößen und Zielsetzungen nicht abstrakt, sondern
mit Blick auf die jeweilige kulturelle Aufgabe und deren Charakter
herauszuarbeiten: Die Verantwortung von Bund, Ländern und
Kommunen ist hinsichtlich der sehr unterschiedlichen
Aufgabenbereiche der verschiedenen staatlichen Ebenen
auszudifferenzieren. Dabei bieten sich insbesondere vier
größere Komplexe an:
- die Künste, deren Entfaltung und Freiheit zu garantieren
ist,
- die kulturelle Bildung, die allgemein zugänglich
angeboten werden sollte,
- das kulturelle Erbe, das es zu erhalten und zu pflegen
gilt,
- der öffentlich-rechtliche Rundfunk.
Diese Bereiche haben jeweils einen sehr unterschiedlichen
Charakter, auch wenn sie unter dem Oberbegriff "Kultur"
zusammengefasst werden. Sie haben unterschiedliche
verfassungsrechtliche Bezüge und es gibt je nach Ebene des
Staates unterschiedliche Verantwortlichkeiten de facto und de jure
sowie unterschiedliche Akteurs- und Trägerstrukturen.
Die Begriffe "Kulturelle Grundversorgung" und "Kulturelle
Daseinsvorsorge" (Deutscher Kulturrat) haben in der Kulturpolitik
der vergangenen Jahre verstärkt Konjunktur. Dabei geht es
darum, Kulturpolitik in einer Weise argumentativ zu begründen
und politisch durchzusetzen, dass der Kulturstaat Deutschland seine
Errungenschaften im vereinigten Europa sichern kann. Die
Begründung der öffentlichen Verantwortung hat mit Blick
auf die GATS-Verhandlungen und die Dienstleistungsrichtlinien der
EU eine konstitutive Bedeutung erhalten, da klar abzugrenzen ist,
wofür der Staat auf der einen, der Markt auf der anderen Seite
steht.
Die Perspektive des Bürgers
Die Sicherstellung der kulturellen Grundversorgung ist zudem in
einen größeren gesellschaftlichen und politischen Kontext
zu stellen: Herausforderungen der Demografie, der Globalisierung,
der Medialisierung etc. sind bei der Herausarbeitung des
öffentlichen Kulturauftrages zu berücksichtigen.
Kulturpolitik ist und bleibt Gesellschaftspolitik. Meine
Vorstellung von kultureller Grundversorgung nimmt demzufolge nicht
den Staat, sondern Gesellschaft und Individuum zum Ausgangspunkt.
Die Perspektive des Bürgers, nicht die Perspektive des Staates
ist entscheidend. Der Bildungs- und Kulturbürger steht im
Mittelpunkt der Kulturpolitik. Kulturelle Grundversorgung ist daher
als Angebot der öffentlichen Hände an den Einzelnen
auszugestalten. Ein so verstandenes Angebot zielt auf etwas, das
sich im Englischen vielleicht besser ausdrücken lässt als
im Deutschen: auf "Cultural Empowerment". Dabei geht es nicht um
eine wie auch immer verstandene "Kulturhoheit", einen
obrigkeitlichen Kulturstaat, weshalb die schon seit einiger Zeit
andauernde Kritik an diesem Begriff richtig ist. Der Kulturstaat
wird heute nicht - wie noch bei Hegel - als sittlich allgemeine
Institution gesehen, die "von oben" und in eigenem Recht tätig
wird, um die kulturelle Homogenisierung des Volkes als Untertan zu
betreiben. Der "aktivierende Kulturstaat" ist das Leitbild, das
eben gerade nicht von einem fürsorglich paternalistischem
Handeln geprägt ist. Der zeitgemäße Kulturstaat ist
zwar selbst Akteur, sorgt aber gleichzeitig dafür, dass andere
Kulturakteure - ob in Wirtschaft oder Gesellschaft - optimale
Rahmenbedingungen vorfinden, um ihrerseits Kultur zu produzieren
und zu präsentieren. Kulturelle Grundversorgung leistet in
diesem Sinne einen Beitrag dazu, kulturelle Leistungen,
Einrichtungen und Qualitätsstandards in einer Weise zu werten
und zu verteidigen, dass ihre Bedeutung als Conditio sine qua non
zur Sicherung der Grundlagen unseres Kulturlebens nachvollziehbar
wird. Auf dieser Basis entstehen öffentliche Angebote (Kultur
ist ein "öffentliches Gut"!), die nicht allein den
Marktmechanismen der Kommerzkultur folgen, sondern die Freiheit der
Kultur jenseits ökonomischer Zielsetzungen garantieren, ganz
im Sinne der Formulierung Michael Naumanns, ehemaliger
Kulturstaatsminister: "Kultur ist die schönste Form der
Freiheit in einer demokratisch verfassten Gesellschaft". Um
kulturelle Grundversorgung im Einzelnen zu gewährleisten, sind
normative Entscheidungen zu treffen. Im Grundsatz meist von
politisch besetzten Gremien.
Diese normativen Grundlagen, ausgeprägt in Zielsetzungen
und Auftragsgrößen, sind in den vier Handlungsfeldern
sehr unterschiedlich: Die Künste leben von freier Entfaltung,
bedürfen aber auch der Vermittlung. Für die kulturelle
Bildung ist der allgemeine Zugang zu garantieren, ein
flächendeckendes Angebot ist sicherzustellen. Das kulturelle
Erbe ist zu erhalten, zugänglich zu machen und in seiner
geschichtlichen Bedeutung zu vermitteln. Der
öffentlich-rechtliche Rundfunk hat einen dezidierten
Kultur(-vermittlungs)auftrag, der der reinen Quotenorientierung
zuwider läuft. Diese Auftragslage ist im Einzelnen
herauszuarbeiten.
Bei einer genaueren Analyse stellt sich demzufolge heraus, dass
die Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen in den
jeweiligen Aufgabenbereichen einen unterschiedlichen Charakter und
eine je nach Aufgabenbereich differenzierte Pflichtenlage zur Folge
hat. Exemplarisch benannt sei etwa die kulturelle Bildung, die
sowohl auf kommender Ebene durch Musik- und Kunstschulen,
Bibliotheken und Volkshochschulen als auch durch das allgemeine
öffentliche Schulwesen ausgestaltet wird und bei der die
Länder letztlich stärkere Verantwortung haben als Bund
und Kommunen. Gleichwohl vernachlässigen die Länder
vielfach ihre Verantwortung, beispielsweise, wenn Kunst- und
Musikunterricht ausfallen.
Rahmenbedingungen
Zur Wahrnehmung der Verantwortung gemäß der
Auftragslage und des Aufgabencharakters gibt es unterschiedliche
Instrumente: Setzen von rechtlichen und finanziellen
Rahmenbedingungen (kulturelle Ordnungspolitik), unmittelbare
Gestaltung von Einrichtungen (Trägerschaft), Ausgestaltung mit
Blick auf die Einbeziehung privater Förderer oder von
bürgerschaftlichem Engagement (Verantwortungspartnerschaft).
Diese Gestaltungsinstrumente stehen den verschiedenen Ebenen des
Kulturstaates Deutschland in je spezifischer Ausprägung zur
Verfügung (Gesetzgebung, Satzungsrecht, Fördermittel,
Verträge, Vergabegremien, Personalentscheidungen etc.).
Kulturelle Grundversorgung bedarf der Diskussion und Festlegung
von (Qualitäts-) Standards: Es muss herausgearbeitet werden,
mit welcher Qualität die staatlichen und kommunalen Leistungen
zu erbringen sind. Ohne Standards läuft die Garantiefunktion
leer. Dies gilt auch für die großen Produktions- und
Vermittlungsinstanzen der öffentlich-rechtlichen Medien.
Verantwortungspartnerschaften mit privaten Anbietern und
Förderern sowie Bürgerinnen und Bürgern können
anhand vielfach erprobter Modelle (private-public-partnership,
Vereine und Stiftungen) im Einzelnen ausgestaltet werden. Auf
diesem Feld ist der Informations- und Erfahrungsaustausch im Sinne
einer offensiven "Kulturstrukturpolitik" nachhaltig zu
fördern.
Für die kulturpolitische Konkretisierung und die
Einlösung des Auftrages zur kulturellen Grundversorgung und
Sicherung der kulturellen Infrastruktur ergibt sich somit die
gedankliche Schrittfolge: Öffentlicher Auftrag -
Qualitätssicherung - Verantwortungspartnerschaften -
Ausgestaltung. Dies ist ein tragfähiges und praxiserprobtes
kulturpolitisches Grundmodell, das dem Leitbild eines
"aktivierenden Kulturstaates" entspricht.
Der Autor ist Beigeordneter für Bildung, Jugend und Kultur der
Stadt Essen, Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft und
Mitglied der Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland" des
Deutschen Bundestages.
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