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Andreas Kolb
Bedrohtes Paradies
Deutschlands Orchester im
Strukturwandel
"Münchner Rundfunkorchester besteht weiter"
- "Deutsches Filmorchester muss erhalten bleiben" - "Bremens
Philharmoniker wollen auf ihr Frackgeld verzichten" -
"Orchesterfusion beschert Halle zweitgrößten
Klangkörper Europas" - "Rundfunkorchester Kaiserslautern und
Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken fusionieren" -
"Deutscher Bühnenverein (DBV) kündigt wesentliche Teile
des Tarifvertrages für Musiker in Kulturorchestern (TVK)".
Schlagzeilen wie diese sind Indiz für
einen tief greifenden Strukturwandel im Bereich der deutschen
Kulturorchester. 136 professionelle, öffentlich
subventionierte Orchester bieten derzeit Planstellen für
10.311 Musiker. Nirgends auf der Welt existiert eine ähnliche
Dichte und ein vergleichbarer Reichtum an Orchesterkultur. Doch die
Tage dieses Idylls, dessen Ursprung weit zurückreicht bis zum
Repräsentationsbedürfnis der deutschen
Fürstenhöfe, scheinen gezählt. Verkleinerungen,
Streichungen, Fusionen bedrohen die noch blühende deutsche
Orchesterlandschaft in ihrer Einzigartigkeit.
Die deutschen Kulturorchester sind im
Wesentlichen in vier Kategorien eingeteilt: es gibt 80
Opernorchester, 35 reine Konzertorchester, sieben Kammerorchester
sowie die Klangkörper der ARD-Anstalten, darunter zwölf
Rundfunkorchester, vier Big Bands und fünf
Rundfunkchöre.
Daneben besteht eine steigende Zahl von
"freien" Orchestern, die oft Spezialensembles für alte oder
neue Musik sind und in denen sich ein bislang seltener Typus des
Orchestermusikers wieder findet, der des Freiberuflers.
1992 - kurz nach der Wiedervereinigung -
betrug die Zahl der Kulturorchester noch 168, die der
Orchesterplanstellen noch 12.159. Die Ursachen für den
dramatischen Schrumpfungsprozess von etwa einem Sechstel liegen in
den drastischen Sparmaßnahmen der öffentlichen Hand sowie
dem unaufhaltsamen Wandel von Musikrezeption und Freizeitverhalten.
Gleichzeitig herrscht ein Überangebot hoch qualifizierter
Musiker: Nur die deutschen Musikhochschulen allein produzieren pro
Jahr etwa 1.500 "neue" Orchestermusiker.
Die Kardinalfragen der Legitimation sind:
Muss jede größere Stadt mindestens ein Orchester haben?
Und ist dessen Größe noch zeitgemäß? Die
Beantwortung sollte nicht allein den Kämmerern und
Finanzpolitikern überlassen werden. Denn ein Orchester kann
niemals das einspielen, was es kostet. Diese Regel gilt nicht nur
im bedrohten Orchesterparadies Deutschland, sondern auch in
Ländern wie der Schweiz oder den USA, wo das Geld im
Wesentlichen nicht von der öffentlichen Hand kommt, sondern
aus der Wirtschaft. Letztlich müssen die Bürger
entscheiden, was ihnen ihr Opernhaus, ihr städtisches
Orchester Wert ist. Auch da wieder ein Blick ins Nachbarland
Schweiz: Die Zürcher Bürger stimmten 2003 mit großer
Mehrheit (70 Prozent) für die Erweiterung des Opernhauses,
obwohl sicher nur ein Bruchteil der Abstimmenden auch
tatsächlich Opernbesucher sein konnten.
Investition statt Subvention
Ob jede größere Stadt mindestens
ein Orchester haben muss, ist also vor allem eine Frage der
kulturellen Identität der Bürger der jeweiligen Stadt.
Verordnungen und Gesetze allein machen noch keine Gesellschaft.
Ohne kulturelles Bewusstsein ist eine Gesellschaft nicht wirklich
lebensfähig, Daher wäre es nur folgerichtig, im
Kulturbereich den Begriff "Subvention" endlich durch "Investition"
zu ersetzen. Das bleibt aber reine Begriffskosmetik, so lange man
sich nicht mit dem ökonomischen, sozialen und kulturellen
Wandel in der Gesellschaft selbst auseinander setzt.
Dazu zählen Forderungen an die
Orchester, selber die Einnahmenseite zu steigern, dazu zählt
die Forderung nach neuen Vermittlungsformen von Orchestermusik -
zahlreiche große und kleine Festivals und Orchester versuchen
sich inzwischen mit unterschiedlichem Erfolg auf diesem Gebiet.
Dazu zählt weiter die Forderung nach mehr
Zeitgenössischem. Das Sinfoniekonzert darf nicht zum
klingenden Museum verkommen, es muss so zeitnah und lebendig werden
wie es etwa die bildende Kunst mit Publikumserfolgen wie der
"MoMa"-Ausstellung in Berlin oder mit den unkonventionellen
Präsentationen des Frankfurter Städel-Museums
vormacht.
Der Philosoph Peter Sloterdijk spricht davon,
dass "die Kunst ja selbst das Fitness-Studio ist, in der die
kapitalistische Psyche geformt wird. Hier, im Fitness-Studio des
Konsumismus, wird eingeübt, immer mehr gut zu finden, immer
mehr zuzulassen, immer mehr zu verstehen und immer noch zu glauben,
man habe Kriterien". An diesem "Fitnessprogramm" nimmt die
zeitgenössische Musik viel zu wenig teil. Sie ist noch gegen
den "Konsumismus" resistent. Darüber kann sich aber
höchsten ein Anhänger der reinen Lehre freuen: Denn wer
nicht gehört wird, hat auch keine Wirkung.
Auf der anderen Seite verändern sich
Rezeptionsverhalten und Musikkonsum dramatisch. Das Konzertangebot
hat sich in den vergangenen zehn Jahren explosionsartig vermehrt,
die Zahl der Spielstätten ebenfalls. Parallel dazu
verschwindet der klassische Konzertgänger - und sein Sinnbild,
der treue Abonnent - von der Bildfläche. Heute überlegt
sich jeder potentielle Konzertbesucher, für welches
"Freizeit-Erlebnis" oder welchen "Event" er sein Geld ausgibt.
Schwindende Kaufkraft trägt ebenfalls dazu bei, hier einen
knallharten Wettbewerb um den Kulturkonsumenten zu
entfachen.
Gespart wird nicht nur im privaten Haushalt,
nicht nur bei den Kommunen, auch innerhalb der ARD-Anstalten ist
eine heftige Spardebatte im Gange. Grotesk mutet derzeit der
Versuch der Rundfunksender an, mehr Gebühren zu fordern und
gleichzeitig ihren Kulturauftrag - und nur der legitimiert sie zur
Gebührenforderung - einzudampfen. Das Argument, es
müssten drastische Einschnitte im Kulturprogramm der Sender
vorgenommen werden, da die Rundfunkgebühren entgegen einer
Empfehlung der KEF (Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der
Rundfunkanstalten) statt um 1,09 Euro lediglich um 88 Cent
angehoben wurden, ist wenig stichhaltig. Es sind gerade die
kulturellen, hintergründigen und nicht dem Quotendruck
ausgelieferten Medieninhalte, die das gebührenfinanzierte
System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
ausmachen.
Die ARD gibt für ihre zwölf
Orchester, fünf Chöre und vier Big Bands rund 155
Millionen Euro aus. Die Kosten liegen bei zirka 36 Cent pro
Gebührenzahler, was rund zwei Prozent der Rundfunkgebühr
entspricht. Für das, was diese Klangkörper im
Zusammenspiel mit den jeweiligen Rundfunkredaktionen in den
vergangenen Jahrzehnten leisteten, und für ihr aktuelles
Potenzial und Schaffen, ist das nicht zu viel. Dabei wäre es
wenig hilfreich, zu sagen, eine Reform der Theater- und
Orchestertarife sei angesichts knapper Kassen völlig
unnötig. Doch Strukturveränderungen sollten vor allem
deshalb vorgenommen werden, um die Klangkörper zu erhalten,
nicht um sie abzuschaffen. Auch müssen Kriterien dafür
erarbeitet werden, was umwandelbar ist oder abgeschafft werden kann
und was nutzlos wird.
Warum nicht Spezialensembles für alte
oder neue Musik einrichten, warum nicht ein Orchester, das sich
experimentellem Jazz widmet, warum nicht die alte Idee des
Orchester-Pools mit neuen inhaltlichen und qualititativen Vorgaben
aufgreifen? Nicht die Formationen müssen um jeden Preis
erhalten und verwaltet werden, die musikalische Betätigung
gilt es zu erhalten und auszubauen. Das gilt nicht nur für die
ARD, es gilt für jeden Träger eines Orchesters. Doch
Umstrukturierungen müssen von kompetenter Hand begleitet
werden: Kürzt man - wie geschehen - den SWR-Chor, von 36
Planstellen auf 24, dann schafft man ihn eigentlich ab, denn er
nimmt aufgrund seiner hochgradigen Spezialisierung und aufgrund
seines auf ihn "zugeschnittenen" Repertoires eine Sonderposition
ein. Überspitzt gesagt wäre es, als ob man dem
Arditti-Quartett den zweiten Geiger wegstreicht.
Mangel und Verschwendung liegen im
Kulturbereich dicht beieinander. Horrende Gagen für Stars und
Dirigenten, Musizieren nach TVK-Tariftabelle bei den
städtischen B- und C-Orchestern, innerhalb des letzten
Jahrzehnts haben sich die Kosten für internationale
A-Orchester verdreifacht, von Solistenhonoraren im oberen
fünfstelligen Bereich ganz zu schweigen. Dagegen herrscht aus
der Not geborene Improvisationskunst bei nicht subventionierten
Ensembles. Doch Jammern nützt nichts, Ideen im
künstlerischen und im Marketingbereich sind gefragt und auch
vorhanden. Ein Beispiel für innovative Orchesterkultur ist
nach wie vor die Junge Deutsche Philharmonie. Gegründet 1974
als demokratisch verfasstes Studentenorchester - angesiedelt
zwischen Studium und Beruf - strahlt sie nach wie vor wichtige
künstlerische und auch berufsständische Impulse in die
heutige Orchesterlandschaft aus.
Frischen Wind brachte auch die Junge
Philharmonie Venezuela nach Deutschland: Gegründet vor drei
Jahrzehnten brachte man dort Sozialarbeit und künstlerische
Spitzenförderung unter einen Hut. Hier wird mit einer
Vitalität und Unbekümmertheit musiziert, die im vom
Karrierekampf geprägten deutschen Jugendorchesterbetrieb schon
lange verloren gegangen ist. "Die Zukunft der klassischen Musik
liegt in Venezuela", sagt Simon Rattle über die Junge
Philharmonie Venezuela. Bedenkt man die bahnbrechenden Impulse, die
er seinen Berliner Philharmonikern mit seinem Education Programm
"Zukunft@BPhil" gegeben, dann zeigt das seinen Respekt, den er vor
diesem Ensemble hat. Vom innovativen Potenzial dieses
Orchesterprojektes kann man sich in Deutschland zwischen dem 23.
und dem 29. September überzeugen. In dieser Zeit gastieren die
Venezuelaner in Bonn, Hamburg, Münster.
Essen, Bremen und Berlin.
Ebenfalls wegweisend für die Zukunft der
Kulturorchester sind Akademien des Ensemble Modern, des Freiburger
Barockensembles mit dem ensemble recherche sowie des Lucerne
Festivals. Aus dieser innovativen Akademiearbeit heraus wachsen
Jahr für Jahr Orchestermusiker heran, für die neue Musik
eine künstlerische Herausforderung ist und kein lästiger
Dienst. Die jungen Musiker erarbeiten die Musik des 20. und 21.
Jahrhunderts und werden später ein kompetentes Netzwerk
bilden, aus dem heraus mit jahrzehntelanger Verzögerung der
Musik des 20. Jahrhunderts endlich einen Platz in den
Konzertsälen erspielt werden kann. Denn nach wie vor gilt das
Postulat des italienischen Pianisten Maurizio Pollini, der wie kein
Zweiter sowohl in der Welt von Chopin, Beethoven und Bach als auch
in der von Nono, Stockhausen oder Schönberg zu Hause ist:
"Neue Musik muss einfach häufiger gespielt werden, dann wird
sie auch besser verstanden und mehr geschätzt."
Ob alle diese jungen Musiker noch in den
alten Strukturen ihren Platz finden werden, ist fraglich. Doch ihr
Können und ihre Motivation sind der wichtigste Garant
dafür, dass auch nach einem Strukturwandel Deutschland seine
einzigartige Orchesterlandschaft weiterhin besitzen wird. In vielen
technischen und naturwissenschaftlichen Feldern ist "Made in
Germany" nicht länger mit Marktführerschaft
gleichzusetzen. Im Sektor Musik, insbesondere in seiner
hochdifferenzierten Orchesterkultur, ist dies noch anders. Heute
werden die Weichen dafür gestellt, dass dies auch in Zukunft
so sein wird.
Der Autor ist Redaktionsleiter der "neue musikzeitung"
(nmz).
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