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Max Fuchs
Wirkstoff der besonderen Art
Wie Kunst das menschliche Leben
beeinflusst
Wer glaubt, dass es sich bei der Frage nach der
Wirksamkeit der Künste um eine harmlose Frage handelt, wird
schnell eines Besseren belehrt. Denn es scheiden sich hieran die
Geister, wie an kaum einem anderen Problem. Für die einen ist
die Antwort klar: Menschen haben von Anbeginn an ihre
Höhlenwände bemalt, ihre Alltagsgegenstände
"schön" gestaltet, sie haben getanzt, gesungen und musiziert.
Kunst war notwendiger Teil des Lebens. Die Anthropologie
unterstützt diese Ansicht: Ästhetisch-expressiver
Ausdruck diente, so eine These, dem Ordnen der Gefühle.
Vor allem ging es um die Bewältigung von
Angst, Furcht, Entsetzen angesichts einer ständigen
Gefährdung des Lebens. Der Philosoph und Soziologe Arnold
Gehlen stellte die Lust am Schönen in eine Beziehung zur
gewonnenen Freiheit gegen ein früheres Ausgeliefertsein des
Menschen an die Natur. Im Schönen, im Umgang mit Kunst, in der
ästhetischen Alltagspraxis feierte der Mensch letztlich sich
und seine Freiheit. Das Fazit: Ohne Kunst war und ist menschliches
Leben ein unvollständiges Leben. Folgerichtig spricht die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von einem Recht des
Menschen auf Kunst und Spiel. Der Grundbegriff, mit dem dieser
Anspruch formuliert wird, heißt "kulturelle
Teilhabe".
Ein Zweites lehrt der Blick in die
Geschichte. Es gibt eine enge Verbindung der Kunst zur Politik und
zum Sozialen. Gerade Musik und Tanz sind nicht nur soziale
Aktivitäten, sondern tragen auch zur Formierung des Sozialen
bei, sie stärken das Gemeinschaftsgefühl und gelegentlich
die Kampfbereitschaft. Genauso sahen es auch schon die Griechen. So
lässt Platon in seinem "Staat" Sokrates über die richtige
Ordnung der Polis sprechen, in denen er ausführlich
erläutert, warum unter all den Künsten bestenfalls die
Gesänge an die Götter und die Lobpreisungen auf die
Tugendhaften einen Platz in der Polis haben und all die anderen,
Lust oder Schmerz verursachenden Kunstformen aus der Polis verjagt
werden sollten: Diese verderben lediglich die Sitten.
Außerdem, so Sokrates, streiten sich Künste und
Philosophie um das Deutungsrecht in der Gesellschaft. Heute kommen
noch die Soziologie, die Medien, die Religionen, die
Kulturwissenschaften dazu.
Woher kommt also heute der Widerstand
gegenüber der Wirkungsfrage? Oft hört man, dass die
Autonomie der Künste gefährdet sei, wenn man sich zu sehr
für Wirkungen interessiere. Künstler- und
Künstlerinnen selbst sind gegenüber der Wirkung ihrer
Werke allerdings nicht gleichgültig: Man reagiert durchaus
intensiv auf Verkaufszahlen, auf Publikumserfolge, auf
Auszeichnungen und Rezensionen. Man erinnere sich: "Erfinder" der
Kunstautonomie in der Philosophie war Kant. Die
"Zweckmäßigkeit ohne Zweck" macht Sinn in der Architektur
seiner drei Kritiken, wobei es bei diesem Topos speziell um die
Wirkungsweise der ästhetischen Urteilskraft geht. Schiller
gibt in seinem eigenen Werk dem Ganzen sofort eine politische Note:
Nur wenn man den Menschen in einem vom Alltag abgegrenzten Bezirk
"zweckfrei" künstlerisch tätig werden lässt, kann er
Freiheit lustvoll verspüren. Diese Lust auf Freiheit
führt ihn dann dazu, so Schillers Hoffnung, dass er auch
außerhalb dieses Schonraumes humane gesellschaftliche
Verhältnisse auf der Grundlage von Freiheit herstellen
möchte.
Zu verstehen ist eine subtile Dialektik, dass
nämlich die gewünschte politische Funktionalisierung (!)
von Kunst nur mit einer autonomen Kunst funktioniert. Das 19.
Jahrhundert brachte Deutschland in der Folgezeit allerdings nicht
die politische Freiheit. Das Bürgertum suchte stattdessen
für die entgangene politische Mitgestaltung einen Ersatz in
der Kultur. Der Historiker Thomas Nipperdey spricht geradezu von
einer "Kunstreligion", die sich in den Museen, Theatern und
Opernhäusern ihre Kathedralen schafft.
Eine Folge dieser Entwicklung sollte im
gesellschaftlichen Aufbruch der späten 60er- und 70er-Jahren
bekämpft werden: Dass es immer nur wenige Prozent der
Bevölkerung waren, die von den von allen finanzierten
Kunstangeboten profitierten. Das Leitmotiv "Kultur für alle"
kann daher als Bekräftigung des Menschenrechts auf kulturelle
Teilhabe verstanden werden. Allerdings: Während Europarat und
UNESCO über eine "Demokratisierung der Kultur" oder sogar
über eine "kulturelle Demokratie" debattierten, fand der
französische Soziologe Pierre Bourdieu heraus, dass "Kultur"
mitnichten das Gemeinsame und Verbindende, sondern vielmehr das
Trennende in der Gesellschaft ist. Der kleine Unterschied, ob man
dem Wohltemperierten Klavier oder Edith Piaf lauscht, wirkt sich
gesamtgesellschaftlich so aus, dass die einen mit größter
Wahrscheinlichkeit zur Elite der Gesellschaft gehören und die
anderen politisch und ökonomisch in den niedrigeren Regionen
der Gesellschaft ohne Einfluss verbleiben - und dies auch richtig
finden und akzeptieren.
Vielfalt der Kulturen
Bei der Weltkonferenz zur Kulturpolitik in
Mexiko im Jahre 1982 wurde der weite Kulturbegriff verabschiedet,
der besagt, dass "Kultur" nicht bloß die Künste meint,
sondern sich auch auf die Lebensweisen der Menschen insgesamt
bezieht. Positiv an diesem Bekenntnis zum weiten Kulturbegriffs ist
die Anerkennung von unterschiedlichen Lebensformen und der Vielfalt
der Kulturen. Allerdings: Weil jede Lebensform gleichermaßen
wertvoll ist, ist eine besondere Initiative zur Teilhabe an
klassischen Konzerten, an innovativer Gegenwartskunst, an Oper oder
Theater eigentlich überflüssig. Selbst Bourdieu ging dies
zu weit. Deshalb versucht er als Mitverfasser eines nationalen
Curriculums für die Schulen dafür zu sorgen, dass alle
Kinder auch die elaborierten ästhetischen Codes in der Schule
lernen und somit Zugang auch zu den schwierigen Künsten
erhalten.
Offensichtlich führen soziologische
beziehungsweise psychologische Herangehensweisen zu
unterschiedlichen Ergebnissen. In soziologischer Hinsicht geht es
um die Anerkennung von Lebensformen, geht es um Inklusion oder
Exklusion, geht es um den Respekt vor den "Wonnen der
Gewöhnlichkeit" (Thomas Mann). Es geht um die Kultur der
kleinen Leute, um ihre spezifische Art, ihr Projekt des guten
Lebens zu gestalten. Psychologisch und pädagogisch geht es
jedoch auch um unterschiedliche Anregungspotenziale und
Entwicklungschancen, die in den verschiedenen künstlerischen
Werken und Praktiken liegen. Vielleicht ist einstweilen die
folgende These tragfähig: Man sollte sich frei zu jeder
kulturellen oder künstlerischen Ausdrucksform bekennen
dürfen - dies aber auf der Grundlage einer ästhetischen
Entscheidungskompetenz tun können. Und diese muss erworben
werden: im Elternhaus, in der Schule, in außerschulischen
Angeboten, in Kultureinrichtungen.
Kulturpolitik kann lernen
"Kulturelle Teilhabe" ist also nach wie vor
das zentrale kultur- und gesellschaftspolitische Ziel. Die
Kulturpolitik kann hierbei von der Sozialpolitik lernen, die im
Hinblick auf "soziale Teilhabe" sehr genau die notwendigen
Ressourcen und Voraussetzungen studiert: nämlich
ökonomische, rechtliche, politische und
bildungsmäßige Bedingungen, die erfüllt sein
müssen. Angst vor der Frage nach Wirkungen und einer dadurch
beförderten Instrumentalisierung ist nicht nötig. Denn
oft genug hat sich in der Geschichte gezeigt, dass sich die
Eigengesetzlichkeit des künstlerischen Ausdrucks sogar gegen
die politische Absicht der Künstler durchgesetzt hat. Honore
de Balzac etwa, politisch stabil auf der Rechten verankert, musste
fast hilflos hinnehmen, wie sich in seinen Romanen die
härteste Sozialkritik am Frankreich seiner Zeit entfaltete.
Alle müssen daher dafür sorgen, dass Künstler und
Künstlerinnen frei arbeiten können, weil die
humanisierende Kraft der Künste nicht eingeengt werden darf.
Doch müssen deshalb alle auch dafür sorgen, dass eine
allgemeine kulturelle Teilhabe Realität wird.
Max Fuchs ist Direktor der Akademie Remscheid und Vorsitzender des
Deutschen Kulturrats.
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