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Hermann Glaser
Offenheit als ein Überlebensmittel
Die Visionen des Matthias Horx
Das Buch von Horx handelt von der Kultur der Zukunft. "Über
die Frage, wie sich Zukunft anfühlt. Über Alltag, Leben,
Tod. Es bewegt sich entlang der Frage, wie Komplexität in
menschlichen Systemen entsteht und voranschreiten könnte.
Technologie wird hier nicht als Trägerwelle, sondern als
Produkt des Menschlichen betrachtet, als Ausdruck letztlich
sozialer menschlicher Wünsche, Kränkungen und
Phantasien."
Fast 300 Titel listet der Verfasser, ein bekannter Trend- und
Zukunftsforscher, am Ende auf; und da er viel und trefflich zitiert
und da auch insgesamt deutlich wird, dass er sehr gut Bescheid
weiß über die Erkenntnisse einer heutzutage
undogmatischen Futurologie, ist dies auch kein Imponiergehabe.
Wie wir leben werden, ist nicht determiniert. Der Fehler der
"alten" Zukunftsforschung bestand darin, dass man davon
überzeugt war, inhaltlich präzise Prognosen geben zu
können. Entscheidend kommt es - zumindest in demokratischen
Gesellschaften - darauf an, wie wir leben wollen und ob dieses
Wollen aus dem Zustand unartikulierten, oft nur unbewussten
Fühlens zum politisch manifesten und auch durchgesetzten
Willen wird.
Dabei ist die von Immanuel Kant als das Wesentliche von
Aufklärung erhobene Forderung "Sapere aude! Habe Mut, dich
deines eigenen Verstandes zu bedienen" nur dann erfolgreich, wenn
der Verstand sich ständig mit Hilfe von Wissen, das auf
Weisheit transzendiert, auszubilden vermag.
Dabei hilft dieses Buch. Es reflektiert sachkundig über die
wesentlichen Fragen des Menschseins, über Geburt, Lernen,
Liebe, Arbeit, Wohlstand, Krieg, Politik, Glaube und Tod - damit
der Informationsverschmutzung, zu der das Surfen in einem
konturlosen Internet oft beiträgt, konsequent
gegensteuernd.
Es geht darum, Zusammenhänge sowie Wechsel- und
Gegenwirkungen, also die Komplexität unserer Welt und
Gesellschaft, zu erkennen. "Während sich der Horizont des
Lebens weitet, multiplizieren sich die Rollenmöglichkeiten zur
Multi-Identität. ,Ich will so werden, wie ich bin' - dieses
Credo bedeutet in der Ära der erweiterten Biographie: Ich will
viele werden und diese Vielfalt gleichzeitig zu einem
kohärenten Charakter bündeln. Meine Lebenserzählung,
mein Selbstkunstwerk, bildet einen ,Schwarm' von Identitäten."
Selbst-Sicherheit bedeutet in einer globalisierten Welt: Soll es
nicht zum "Kampf der Kulturen" (Huntingtons Buch fehlt
übrigens in der Literaturliste!) kommen, dann muss man
gegenüber pluralen, gerade auch unterschiedlichen
religiösen Seinsweisen ein "aktives Verständnis"
zeigen.
Wer heute seine Gedanken und Anregungen erfolgreich auf den
Markt bringen will, darf nicht nur begrifflich denken, sondern muss
zudem noch erzählend vorgehen. Das wusste schon die
Popularaufklärung: Fabula docet! Die Fabel (be-)lehrt. Horx
beherrscht diese Methode, doch wird er dabei aus meiner Sicht oft
sehr weitschweifig, ja geschwätzig, so dass das Narrative als
Masche erscheint. Man kann Kassandra, diesen Urtyp düsterer
Prognostik, durchaus verstehen, wenn man sie nicht trivial
aufmotzt. "Kassandra nimmt … mit einem Stoßseufzer an
der linken Seite unseres Tisches Platz. Sie zieht sich die Kekse
und die Kaffeekanne herüber. Und zündet sich - ohne zu
fragen, ob es jemanden stört - mit einem klickenden, goldenen,
gerippten Feuerzeug eine Zigarette an. Gauloise, schweres
Kaliber."
Wenigstens ernst gemeinte Bücher täten gut daran, das
durch die nichtssagende Bilderflut des Fernsehens sowieso dem
begrifflichen Denken entwöhnte Publikum nicht auch noch
ihrerseits mit volksnah gemeinten Platitüden zu bedienen.
Matthias Horx
Wie wir leben werden. Unsere Zukunft beginnt jetzt.
Campus Verlag. Frankfurt/ New York 2005; 397 S., 24,90
Euro
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