Karl-Otto Sattler
Hitzige Kämpfe um die "kleine
Wiedervereinigung"
Vor 50 Jahren lehnten die Saarländer die
Trennung von Deutschland ab
Moodels präsentierten bei einer Modenschau das Outfit der
50er-Jahre, Musik vergangener Jahrzehnte erklang, alte Werbeplakate
entführten das Publikum in die Welt von anno dunnemals. Bei
einem Bürgerfest in Saarbrücken konnten die Einheimischen
am Sonntag eine Zeitreise unternehmen. Zu einem Staatsakt in der
Ludwigskirche war sogar Bundespräsident Horst Köhler
angereist: Am 23. Oktober 1955 ebneten die seit Kriegsende von
Deutschland separierten Saarländer bei einer legendären
Volksabstimmung mit Zwei-Drittel-Mehrheit den Weg zu der 1957 und
1959 in zwei Schritten vollzogenen Eingliederung in die
Bundesrepublik - eine "kleine Wiedervereinigung" lange vor der
gesamtdeutschen Einheit 1990.
Zum 50. Jubiläum lässt sich jener aufwühlenden
Epoche mit festlicher Gelassenheit gedenken. Seinerzeit provozierte
der hitzige Kampf indes eine tiefe Spaltung der Bevölkerung,
die bis in die Familien hinein Befürworter und Gegner des
Saarstatuts, die "Ja-Sager" und die "Nein-Sager",
unversöhnlich auseinanderdividierte. Formell stand die
Wiedervereinigung gar nicht zur Abstimmung. Ein Ja für das
Statut war ein Votum für ein Saarland mit begrenzter Autonomie
unter der Ägide der Westeuropäischen Union (WEU) samt
einer engen wirtschaftlichen Verflechtung mit Frankreich. Das
zuletzt siegreiche Nein bedeutete die Absage an diese
"Europäisierung" der Saar, die von den Gegnern als Trennung
von Deutschland befehdet wurde - und insofern war das Nein ein Ja
zum Anschluss an die Bundesrepublik.
Oberaufsicht durch Frankreich
Regiert wurde der "Saarstaat" seit 1947 von Johannes Hoffmann
("Joho") und seiner Christlichen Volkspartei (CVP) zunächst
zusammen mit der Sozialdemokratischen Partei Saar (SPS),
später allein ohne Koalition. Vor dem Krieg war der
Zentrumspolitiker Hoffmann als Hitler-Gegner in die Emigration
gegangen. Grundlage des mit Flagge und Hymne ausgestatteten
Saarstaats, der eine eigene Fußballmannschaft in die
internationalen Stadien und 1952 ein Olympia-Team zu den Spielen
nach Helsinki schickte, war eine 1947 vom Landtag verabschiedete
Verfassung: Deren Präambel dekretierte die Wirtschafts-,
Währungs- und Zollunion mit Frankreich ebenso wie die
politische Unabhängigkeit der Saar von Deutschland und deren
außenpolitische Vertretung durch Paris. Als eine Art
Oberaufseher agierte in Saarbrücken Frankreichs Gouverneur
Gilbert Grandval.
Von der Besatzungsmacht zugelassen wurden zu den Wahlen von 1947
nur Parteien, die diese Prinzipien anerkannten. Ausnahme waren die
Kommunisten, die einen Anschluss an Frankreich ablehnten und im
Landtag gegen die Verfassung votierten: In der Nachkriegszeit mit
ihren Vier-Mächte-Gesprächen duldete Paris die Saar-KP
aus Rücksicht auf die Siegermacht Sowjetunion. Die anderen
prodeutschen Kräfte jedoch wurden verboten und
unterdrückt, ob Parteien, Gewerkschaften oder Medien: Für
dieses Lager galten die in der Verfassung garantierten
demokratischen Grundrechte nicht. Hoffmanns
klerikal-autoritäres Regime attackierten dessen Gegner nicht
nur als separatistisch, sondern auch als Polizeistaat, als
"Demokratur".
Dies war die Crux des Saarstaats, die den mit einer beachtlichen
Leibesfülle ausgestatteten "Joho" bei vielen Bürgern
zusehends verhasst machte und die dann beim Abstimmungskampf 1955
der Parole "Der Dicke muss weg" zu durchschlagendem Erfolg
verhelfen sollte. Deutsch orientierte Sozial- und Christdemokraten
agierten im Untergrund und schmuggelten in der Pfalz gedruckte
Zeitungen ins Land. Abhörskandale wurden aufgedeckt: Die
Sureté, der französische Geheimdienst, horchte jahrelang
Oppositionelle aus. Hoffmann und Innenminister Edgar Hector
verboten 1951 auch die später in der FDP aufgehende
Demokratische Partei Saar (DPS): Als Begründung dienten
Telegramme, die ein Zusammenspiel zwischen der DPS und der
neonazistischen Sozialistischen Reichspartei in der Bundesrepublik
beweisen sollten - eine fingierte Intrige seitens der Regierung,
denn die "Belege" waren gefälscht. Heinrich ("Heini")
Schneider, dem führenden Kopf der DPS, waren nationalistische
Töne im Übrigen nicht fremd; vor 1937 war er zeitweise
NSDAP-Mitglied gewesen.
Schließlich handelten Kanzler Konrad Adenauer und der
Pariser Premier Pierre Mendès-France zur Lösung der
schwelenden Saarfrage das Statut aus. Danach hätte im Rahmen
der WEU ein europäischer Kommissar die Außenpolitik des
im Innern autonomen Saarlands übernehmen und dessen Regierung
kontrollieren sollen. Die ökonomische Verflechtung mit
Frankreich sollte Paris den Zugriff vor allem auf die Kohle und die
Stahlindustrie ermöglichen, damals Wirtschaftsfaktoren ersten
Ranges.
Erst drei Monate vor dem Referendum wurde die volle politische
und Pressefreiheit gewährt. CDU, SPD und DPS, nun zugelassen,
schlossen sich zum prodeutschen Heimatbund zusammen. Heiße und
spannende Wochen hoben an, nie mehr sollte das Saarland so im
Blickpunkt der Weltöffentlichkeit stehen wie seinerzeit. Bei
Kundgebungen gerieten Anhänger und Gegner des Statuts auch
handgreiflich aneinander, Steinwürfe blieben nicht aus, bei
Demonstrationen wurden schon mal Kleinbusse und Autos umgeworfen,
die Polizei war im Dauereinsatz.
Das Ergebnis am 23. Oktober war eindeutig: 67,7 Prozent der
Saarländer waren gegen das Statut, 32,3 Prozent dafür.
Hoffmann trat noch am Abend zurück. Frankreich akzeptierte den
Volkswillen. Im Luxemburger Abkommen vom Oktober 1956 einigten sich
Paris und Bonn auf die Rückgliederung der Saar in die
Bundesrepublik. Im Januar 1957 fand die politische, im Juli 1959
die wirtschaftliche Integration statt.
Weg zur Europäischen Einigung
So paradox es anmuten mag: Die Ablehnung der
"Europäisierung" der Saar, deren Umsetzung vermutlich
dauerhaft zu Konflikten geführt hätte, brachte die
europäische Einigung voran - ein deutsch-französischer
Stolperstein war endgültig aus dem Weg geräumt. Auch vor
Ort sind alte Wunden längst verheilt: Inzwischen sind die
politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und menschlichen
Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen nirgendwo so eng wie
in dieser Region. Saarländer wohnen zu Hauf in Lothringen,
Franzosen pendeln zu Tausenden zur Arbeit an die Saar. Die
Deutsch-Französische Hochschule hat ihren Sitz in
Saarbrücken. Der 1955 dominierende nationale Aspekt verlor
zusehends an Bedeutung, die Klärung der Identitätsfrage
ermöglichte erst die Öffnung hin zu Europa.
Eines aber macht dem Saarland weiterhin zu schaffen: Erst Ende
der 50er-Jahre klinkte man sich in das deutsche "Wirtschaftswunder"
ein, und der ökonomische Rückstand ist immer noch nicht
ganz aufgeholt. Nach wie vor hängt die Saar am Tropf des
Länderfinanzausgleichs, auch 6,5 Milliarden Euro
zusätzliche Bundesgelder zwischen 1995 und 2004 konnten die
Probleme nicht lösen. Der Bevölkerungsschwund
beschleunigt sich, vor allem Gutqualifizierte wandern ab. Sicher
spielen auch eigene Fehler eine Rolle: So setzte man zu lange auf
die Montanindustrie und kümmerte sich nicht rechtzeitig um
Zukunftsbranchen. Doch der Wechsel von einem Wirtschaftssystem in
ein anderes zeitigt offenbar langwierige Verwerfungen. Heutzutage
droht der saarländischen Identität neue Gefahr: Wegen der
chronischen Finanzschwäche will die Debatte über den
Verlust der Eigenständigkeit im Zuge einer
Länderneugliederung nicht verstummen. Aber darüber
müsste es eine Volksabstimmung geben. Und an den Urnen
können die Saarländer ganz eigensinnig sein.
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