"Bundestag hat kein Monopol auf
Meinungsbildung"
Interview mit dem neuen Präsidenten des
Deutschen Bundestages Dr. Norbert Lammert
Bundestagspräsident Dr.
Norbert Lammert ist seit einer Woche im Amt. In der
konstituierenden Sitzung des 16. Deutschen Bundestages rief er die
Abgeordneten zu selbstbewusstem Handeln auf – auch
gegenüber der Regierung. Norbert Lammert weiß, welch eine
vielfältige, aber auch schwierige Aufgabe auf ihn zukommt.
Seit 25 Jahren gehört er dem Deutschen Bundestag an, in den
letzten drei Jahren als Vizepräsident. Als Präsident des
Parlaments hat er verschiedene Rollen: Er ist nicht nur Hüter
der Geschäftordnung, sondern auch Chef eines großen
Service-Betriebs, der Bundestagsverwaltung. Im Interview mit
Sönke Petersen spricht er über sein neues Amt, das
Ansehen des Parlaments und den Privatmann Norbert
Lammert.
Das Parlament: Herr
Bundestagspräsident, Sie sind am 18. Oktober mit einem
Rekordergebnis von über 93 Prozent zum 12. Präsidenten
des Deutschen Bundestages gewählt worden und damit
protokollarisch zweiter Mann im Staate. Was haben Sie in diesem
Moment gedacht und gefühlt ?
Norbert Lammert: Ehrlich gesagt, das
Gefühl war in diesem Augenblick nicht so gewaltig wie das
Ergebnis. Möglicherweise kommen solche Empfindungen doch erst
mit einem gewissen zeitlichen Abstand.
Das Parlament: Wie würden Sie
einem Außenstehenden die Bedeutung Ihres Amtes
erklären?
Norbert Lammert: Am liebsten gar
nicht. Das machen andere fast immer besser. Dieses Amt ist
eigentlich mit fast keinem anderen politischen Amt vergleichbar,
weil es erkennbar nicht jenseits der aktiven Politik angesiedelt
ist, sondern mitten in der konkreten operativen Politik und
gleichzeitig - definiert durch seine Geschäftsordnung -
außerhalb des Parteienstreites steht. Dieser gelegentlich
kunstvolle Spagat ist gewissermaßen der dauernde
Intelligenztest, der jedem amtierenden Präsidenten abverlangt
wird.
Das Parlament: Welches
Amtsverständnis haben Sie und wie wird das Ihre
Amtsführung prägen?
Norbert Lammert: Die Rechte und die
Pflichten des Präsidenten sind in der Geschäftsordnung
eindeutig formuliert, und ich glaube nicht, dass irgendjemand
entweder den Ehrgeiz hätte - ich jedenfalls nicht - über
diese dort festgelegten Funktionen hinaus Zuständigkeiten
für sich zu reklamieren. Und noch weniger kann ich mir
vorstellen, dass irgendjemand für sich erklärt oder
beabsichtigt, einer dieser ausdrücklich formulierten Aufgaben
nicht nachzukommen. Die Frage ist also nicht so sehr, wie das
Amtsverständnis jeweils aussieht, sondern mit welcher
persönlichen Handschrift es wahrgenommen wird.
Das Parlament: Jeder Präsident
hat sich bemüht, die Arbeit des Bundestages effektiver,
lebendiger und transparenter zu machen. Werden auch Sie an dieser
permanenten Parlamentsreform arbeiten und welche Schwerpunkte sind
da zu erwarten?
Norbert Lammert: Das Parlament ist ja
ein lebendiges Organ, bei dem es weniger schwierig ist,
sicherzustellen, dass es Veränderungen gibt, als umgekehrt den
Ehrgeiz zu entwickeln, dass alles so bleiben müsse, wie es in
der Vergangenheit immer war. Bei den Veränderungen, die sich
durch die veränderte Zusammensetzung des Parlaments von
alleine ergeben, sowohl was die gewählten
Persönlichkeiten als auch was die Kräfteverhältnisse
angeht, sollte der Präsident nicht den Ehrgeiz entwickeln, als
Chefpädagoge aufzutreten.
Das Parlament: Nun sind die
Verhältnisse nicht ganz einfach. Erstmals seit Jahren gibt es
wieder fünf Fraktionen im Parlament, zudem wird eine
Große Koalition unser Land regieren. Sind das erschwerte
Herausforderungen für den neuen Präsidenten?
Norbert Lammert: Es sind andere, ob es
erschwerte Bedingungen sind, warten wir mal ab.
Das Parlament: Wie wollen Sie der
Gefahr begegnen, dass die kleinen Fraktionen angesichts der breiten
Mehrheit des Regierungslagers unter die Räder kommen? Wie also
wird der Umgang mit den kleinen Fraktionen - also mit der
Opposition - sein? Wir fragen dies auch vor dem Hintergrund des
Eklats der Nicht-Wahl von Lothar Bisky zum Vizepräsidenten bei
der konstituierenden Sitzung. War das ein Fehlstart, ein schlechtes
Omen?
Norbert Lammert: Die beiden Themen
haben zunächst einmal wenig miteinander zu tun. Das eine Thema
ist die Frage, ob unter den Bedingungen einer Großen Koalition
über die Ausgestaltung der Minderheitenrechte der Opposition,
möglicherweise mit Blick auf Quoren für bestimmte
Initiativrechte, Modifizierungen erfolgen. Das muss man sich in
Ruhe ansehen. Wenn konkrete Situationen auftreten, bei denen
Zweifel daran bestehen, ob hier nun eine hinreichend wirkungsvolle
Wahrnehmung der Rechte möglich ist, die eine Opposition haben
muss - übrigens nicht im Interesse der jeweiligen Fraktion,
sondern im Interesse der Aufgaben des Parlamentes - dann werde ich
persönlich ganz sicher ein hartnäckiger Verfechter der
Interessen der Opposition sein.
Die gescheiterten Wahlgänge eines
Vizepräsidenten aus den Reihen der Linkspartei sind ein
anderes Thema, das mit dem ersten ursächlich nichts zu tun hat
- gleichwohl es im Ergebnis und für den Tag der Konstituierung
sicher mehr als ein Schönheitsfehler gewesen ist.
Das Parlament: Es gibt sechs
Vizepräsidenten - so viele wie noch nie. Zusammen mit Ihnen,
dem Präsidenten, stellen Union und SPD vier der insgesamt
sieben Präsidiumsmitglieder, majorisieren also die drei
anderen Fraktionen. Verträgt sich das mit dem Anspruch auf
Fairness?
Norbert Lammert: Ganz sicher. Ich
müsste mich sehr konzentrieren, um Ihnen aus meiner
dreijährigen Zugehörigkeit zum Präsidium ein
Beispiel dafür zu nennen, wann im Präsidium je über
eine Frage streitig abgestimmt worden wäre. Das Präsidium
ist ein Kollegialorgan. Wir haben durchaus im Präsidium
gelegentlich streitige Auseinandersetzungen, aber es ist ganz
selten vorgekommen, dass wir per Mehrheitsentscheid eine
verbindliche Position festgelegt hätten.
Das Parlament: Herr Präsident,
Sie haben gesagt, der Bundestag sei nicht das Vollzugsorgan der
Regierung, sondern sein Auftraggeber. Dennoch ist immer wieder von
Kompetenz- und Machtverlust des Parlaments die Rede. Waren das nur
schöne Worte oder werden Sie die Souveränität des
Parlamentes verteidigen?
Norbert Lammert: Die Bemerkung war
ausdrücklich nicht als rhetorische Floskel gemeint. Wir haben
in Deutschland ein parlamentarisches Regierungssysstem. Das
bedeutet zum einen, dass das Volk, die Wählerinnen und
Wähler, nicht die Regierung wählen, sondern das
Parlament. Und dass das Parlament durch die durch
Wählerentscheid gegebenen Mehrheitsverhältnisse eine
Regierung bestellt und gegebenenfalls auch abberuft. Daraus ergibt
sich wiederum zwangsläufig eine viel stärkere Zuordnung
von Regierungsarbeit und Parlamentsarbeit der Mehrheitsfraktionen,
als dies in anderen politischen Systemen mit stärkerer
Trennung zwischen Regierung und Parlament der Fall ist. Weil das so
ist, muss man um so mehr, jedenfalls von Zeit zu Zeit, daran
erinnern, dass diese unvermeidliche, durch unsere Verfassung
gewollte Zusammenarbeit eben nicht bedeutet, Zentrum des
politischen Systems sei die Regierung und zu den Hilfsorganen
gehöre das Parlament. Wenn überhaupt, ist es
umgekehrt.
Das Parlament: Nun neigt gerade eine
Große Koalition gerne dazu, wichtige politische Entscheidungen
in kleine Zirkel und Koalitionsrunden zu verlegen. Fürchten
Sie, dass dies auch jetzt wieder passieren wird?
Norbert Lammert: Ich gehe fest davon
aus, dass es in dieser Legislaturperiode, wie in allen Perioden
zuvor, neben der förmlichen Arbeit an Gesetzen,
Entschließungen und politischen Initiativen auch informelle
Gremien gibt, die solche Arbeiten vorbereiten und begleiten. Ich
finde das auch vollständig unproblematisch. Es ist eine
Fehleinschätzung, dass das eine Fehlentwicklung der letzten
Jahre sei. Ich finde im Übrigen das, was sich im Umfeld des
Parlaments an solchen Gremien bildet, noch weniger problematisch
als das, was sich im Umfeld von Regierungen bildet. Das im
Regierungshandeln versteckte Vorarbeiten ist regelmäßig
viel weniger öffentlich transparent.
Das Parlament: Herr Präsident,
was kann man tun, um das Selbstbewusstsein des Parlaments zu
stärken? Immerhin ist der Bundestag als einzig direkt
gewähltes Verfassungsorgan unser höchster
Souverän.
Norbert Lammert: Ich habe nicht den
Eindruck, dass man einen Freundeskreis zur Unterstützung
vergrößerten Selbstbewusstseins der Parlamentarier
gründen müsste. Dieses Selbstbewusstsein ist schon da,
individuell in der Regel prächtig entwickelt. Das Parlament
sollte sich in bestimmten Situationen vielleicht auch als
Institution stärker zu Wort melden. Also ich mache mir keine
Sorgen, dass wir uns in Zukunft mit Minderheitskomplexen
auseinandersetzen müssen.
Das Parlament: Es hat viel Kritik an
der Auflösung des Parlaments über die gezielte
Vertrauensfrage gegeben. Wie stehen Sie zum
Selbstauflösungsrecht des Bundestages?
Norbert Lammert: Diese Diskussion ist
ja nicht neu, sie wird nur in regelmäßigen Abständen
neu geführt. Es gibt beachtliche Argumente für ein
ausdrückliches Selbstauflösungsrecht des Parlaments, aber
auch beachtliche dagegen. Mein Eindruck ist, dass wir eine
neuerliche, vielleicht auch formalisierte Debatte zu diesem Thema
bekommen werden, weil es eine Reihe entsprechender
Ankündigungen gibt. Ich empfehle uns allerdings sehr, diese
Diskussion dann sorgfältig zu führen und dabei auf beiden
Seiten den Eindruck zu vermeiden, als sei völlig klar, dass
wir hier eine Verfassungslücke dringend schließen
müssten. Ich persönlich gehe mit dem Thema eher etwas
zögerlicher um, weil ich nach der jüngsten Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts noch weniger eine Lücke in der
Verfassung erkenne als zuvor.
Das Parlament: Zum Thema Parlament und
Öffentlichkeit: Was sagen Sie zu der Kritik, manche Talkshow
im Fernsehen sei inzwischen politisch wichtiger und ergiebiger als
viele Parlamentsdebatten?
Norbert Lammert: Dazu drei
Bemerkungen: Auf die Programmgestaltung der
öffentlich-rechtlichen wie schon gar der privaten Rundfunk-
und Fernsehanstalten hat der Deutsche Bundestag keinen Einfluss,
will er auch keinen Einfluss nehmen. Ob es zu Glanz- und
Strahlkraft der Fernsehanstalten beiträgt, dass zu jeder
Tages- und Nachtzeit auf den allermeisten Kanälen diese
Talkshows zu besichtigen und anzuhören sind, mögen andere
entscheiden.
Zweitens: Der Deutsche Bundestag hat kein
Monopol auf Meinungsbildung, nie gehabt, weder qua Verfassung, noch
in der politischen Realität.
Aber Drittens: Dass er das entscheidende
politische Forum der Nation ist, steht genauso außerhalb jeder
ernsthaften Debatte. Selbst eine Multiplizierung der
Anzahl der Talkshows würde nichts daran ändern, dass der
prinzipielle Unterschied zwischen einer Talk-show und einer
Parlamentsdebatte darin besteht, dass letztere zu einer
Entscheidung führt und dass die erste, wenn es gut geht, zur
Information, meist aber mehr zur Unterhaltung
beiträgt.
Das Parlament: Welchen Stellenwert hat
für Sie die öffentliche Darstellung des Parlaments? Und:
Was wäre hier verbesserbar?
Norbert Lammert: Es ist überall
etwas verbesserbar. Ich habe in meiner Antrittsrede
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass weder Parteien noch
Parlamente, weder Regierungen noch Oppositionen sich
gegenwärtig auf dem Höhepunkt ihres öffentlichen
Ansehens befinden. Dafür gibt es viele Gründe, allerdings
keinen einfachen und keinen eindeutigen Zusammenhang. Wir
müssen das ernst nehmen. Gerade weil es kein Patentrezept gibt
und weil wir auch nicht die einzigen sind, die auf das Ansehen von
Parlamenten Einfluss haben, müssen wir jedenfalls den
Einfluss, den wir selber haben, tatsächlich
wahrnehmen.
Das Parlament: Rund 2,6 Millionen
Menschen besuchen im Jahr die gläserne Kuppel auf dem
Reichstagsgebäude. Fällt mit diesem großen Zuspruch
auch Glanz auf das Parlament?
Norbert Lammert: Ich würde lieber
fragen, ob es nicht ein schöner Nachweis für die
Attraktivität des deutschen Parlaments ist, dass der Sitz des
Bundestags gleichzeitig die mit Abstand größte Berliner
Touristenattraktion ist. Ich denke schon, dass die
Attraktivität der Kuppel mit dem atemberaubenden Blick auf die
Stadt auch mit einem gewissen Interesse an der Arbeitsweise des
Bundestages gekoppelt ist.
Das Parlament: Zum eher privaten
Norbert Lammert. Wer Ihre Homepage betrachtet, kann dort
meinungsfreudige Kritiken über Theater- oder
Konzertaufführungen, über Harald Schmidt und Herbert
Grönemeyer lesen. "Wir denken selber", heißt Ihre Antwort
auf die Kritik, die CDU sei zu fern von den Intellektuellen und der
Kulturszene. Ist Norbert Lammert ein bekennender
Intellektueller?
Norbert Lammert: Das ist wieder eine
Frage, die andere beantworten müssen. Meine richtig zitierte
Antwort bezog sich auf die Vermutung eines deutschen
Wochenmagazins, dass die mit uns konkurrierende große
Volkspartei über eine Fülle von Intellektuellen
verfüge, die für sie dächten. Und die Frage, wer das
eigentlich bei uns tue, habe ich in der Tat so beantwortet: Das
machen wir in der Regel selber.
Das Parlament: Herr
Bundestagspräsident, verraten Sie uns zum Schluss einen
Wunsch, mit dem Sie in diese Amtsperiode gehen?
Norbert Lammert: Ich habe mir diese
Frage selber nie vorgelegt. Aber wenn mich das bei meiner Wahl
außergewöhnliche Maß an Sympathie und Vertrauen
meiner Kolleginnen und Kollegen durch die ganze Legislaturperiode
begleiten würde, bliebe eigentlich kaum noch etwas zu
wünschen übrig.
Das Parlament: Herr
Bundestagspräsident, wir danken Ihnen für das
Gespräch.
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