Dokumentation
In der Demokratie wird Macht nur auf Zeit
verliehen
Ansprache von Alterspräsident Otto Schily
während der konstituierenden Sitzung des 16. Deutschen
Bundestages
Guten Morgen, meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen!
Ich darf Sie zur konstituierenden Sitzung des 16. Deutschen
Bundestages herzlich begrüßen.
Nach der Tradition des Deutschen Bundestages und entsprechend
§ 1 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
eröffnet bei Beginn einer neuen Legislaturperiode das an
Jahren älteste Mitglied, das im Saale ist, die Sitzung und
führt den Vorsitz bis zur Wahl der Präsidentin oder des
Präsidenten des Parlaments. Ich bin nachweislich am 20. Juli
1932 geboren und darf fragen, ob ein Mitglied des Hauses unter uns
ist, das mich an Alter übertrifft.
(Heiterkeit)
- Das scheint nicht der Fall zu sein.
Meine Damen und Herren, damit rufe ich Punkt 1 der Tagesordnung
auf:
Eröffnung der Sitzung durch den Alterspräsidenten
Ich eröffne also die Sitzung und begrüße allen
voran besonders herzlich den verehrten Herrn
Bundespräsidenten. Wir freuen uns sehr, Herr
Bundespräsident, dass Sie an dieser Sitzung teilnehmen.
(Beifall)
Des Weiteren begrüße ich herzlich den Herrn
Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts.
Ebenso begrüße ich herzlich den
Altbundespräsidenten Herrn Walter Scheel,
(Beifall)
sowie die ehemalige Präsidentin des Deutschen Bundestages
Frau Annemarie Renger. Herzlich willkommen!
(Beifall)
Mein herzlicher Gruß gilt auch den Botschaftern und
Missionschefs zahlreicher Staaten sowie allen weiteren Gästen,
die auf der Tribüne an dieser Sitzung teilnehmen. Herzlich
willkommen!
(Beifall)
Außerdem möchte ich Frau Kollegin Gudrun Kopp und
Herrn Kollegen Florian Toncar zu ihrem heutigen Geburtstag sehr
herzlich gratulieren und die Glückwünsche des Hauses
übermitteln.
(Beifall)
Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine private, aber strikt
überparteiliche Zwischenbemerkung - ich bitte Sie, sie mir
nicht zu verargen -: Besonders herzlich begrüße ich ein
junges Nachwuchstalent im Parlament, den FDP-Abgeordneten Dr.
Konrad Schily, meinen Bruder,
(Beifall)
der im jugendlichen Alter von 67 Jahren eine hoffnungsvolle
politische Karriere beginnt.
(Heiterkeit und Beifall)
Ebenso herzlich begrüße ich selbstverständlich
alle anderen neu gewählten Bundestagsabgeordneten. Mein
herzlicher Gruß gilt gleichermaßen allen
Bundestagskolleginnen und -kollegen, die wiedergewählt worden
sind. - So viel zu meiner ungewohnten Herzlichkeit.
(Heiterkeit und Beifall)
Bis zur Beschlussfassung über die Geschäftsordnung,
die sich der 16. Deutsche Bundestag nach der Wahl des
Bundestagspräsidenten geben wird, verfahren wir nach den
Regeln, die für den 15. Deutschen Bundestag gegolten
haben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, als Alterspräsident hat
man das Privileg, einige einleitende Sätze sagen zu
dürfen. Sie müssen aber nicht damit rechnen, dass ich
fünf Stunden reden werde.
(Zuruf von der FDP: Oh, wie schade!)
Meine Damen und Herren Kollegen, das Volk hat die unbequeme
Angewohnheit, Regierungen abzuwählen und neue Mehrheiten im
Parlament herbeizuführen. Das ist für die amtierende
Regierung schmerzlich und für Teile der bisherigen Opposition
erfreulich. Es ist aber zugleich für die künftige
Regierung eine Warnung und für die künftige Opposition
eine Hoffnung.
(Michael Glos [CDU/CSU]: Na also!)
In der Demokratie wird Macht nur auf Zeit verliehen. Diesen
Grundkonsens erkennen wir alle dankenswerterweise an.
Jenseits der jeweiligen Aufgaben, die sich den
Regierungsfraktionen und den Oppositionsfraktionen in Zukunft
stellen, haben wir die gemeinsame Verantwortung, zum Besten unseres
Landes zu wirken. Wir werden dieser Verantwortung umso eher gerecht
werden, wenn wir die Politik einer sowohl geographisch als auch
zeitlich weiträumigen Perspektive öffnen, die imstande
ist, unsere eigenen Interessen in konstruktiver und solidarischer
Weise mit den Interessen anderer zu verbinden.
Deutsche Politik muss daher zuallererst europäische und
weiter gehend international ausgerichtete Politik sein. Eine auf
den nationalen Horizont verengte Politik kann unter den Bedingungen
der Globalisierung und im Blick auf die deutsche Geschichte nicht
erfolgreich sein.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wenn wir uns in dieser Grundbestimmung einig sind, muss es uns
zugleich willkommen sein, dass wir unterschiedliche
Überlegungen entwickeln und gegenüberstellen, welche
konkreten Maßnahmen geboten sind und welche besser
unterblieben. Jeder darf sich in diesem Streit selbst daran
erinnern, dass Fairness und Respekt vor dem politischen Gegner der
Schärfe des Arguments nicht schadet, sondern eher nutzt. Einen
nachhaltigen Legitimationsgewinn erreicht das Parlament nur durch
einen sachorientierten, möglichst vorurteilsfreien,
aufklärerischen und ehrlichen Debattenstil, der eine
gehörige Portion Polemik nicht scheuen muss, der sich gewiss
nicht in langweiliger Routine und Phrasentausch erschöpfen
darf und der die gesellschaftliche Debatte aufnimmt, aber der
dieser gesellschaftlichen Debatte seinerseits neue Impulse zu
verleihen versucht.
Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen, Politik, wo
immer sie sich realisiert - in der Legislative, in der Exekutive
und in der Judikative -, greift nicht selten massiv in die
Lebensverhältnisse der Menschen, in ihre Lebensentwürfe
und in ihre Lebensgewohnheiten ein. Umso größer sind
unsere Verantwortung und der damit verbundene
Erklärungsbedarf. Es besteht aber auch Erklärungsbedarf
insofern, als Politik nur ein gesellschaftliches Wirkungsfeld unter
anderen ist. Wirtschaft, aber auch Kultur und Wissenschaft folgen
anderen Gesetzmäßigkeiten und organisieren sich in erster
Linie nicht nach politischen Vorgaben. Wir sollten uns weder
einbilden noch anmaßen, dass sich alle anderen
gesellschaftlichen Bereiche staatlicher Bevormundung zu fügen
haben oder dass sie staatlicher Beeinflussung überhaupt
ausnahmslos zugänglich sind.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Eine umfassend verstaatlichte Gesellschaft endet in der
Schreckensherrschaft des totalitären Staates. Weil der
demokratisch-rechtsstaatliche Grundkonsens die Macht des Staates
begrenzt, ist darin auch eine Verantwortungsteilung enthalten, die
in der Kritik an den Wirkungsmöglichkeiten von staatlicher
Politik nicht selten aus dem Blickfeld gerät. Das kann
freilich nicht heißen, die eigene Verantwortung irgendwo
anders abzuladen. Wir sollten stattdessen die Verantwortung immer
zuerst bei uns selbst suchen - was bekanntlich niemandem immer ganz
leicht fällt.
Im Sinne dieser uns gemeinsam auferlegten Verantwortung hoffe
ich sehr, dass es uns gelingt, den Menschen in Deutschland wieder
mehr Optimismus, Selbstvertrauen und Zuversicht, aber auch die
Gewissheit zu vermitteln, dass ihre Sorgen in angemessener Weise im
Parlament zur Sprache gebracht werden und ihre Fragen klare
Antworten finden, auch wenn die Antworten sicherlich höchst
unterschiedlich ausfallen werden. Wir sollten dagegen endlich
aufhören, das eigene Land wider besseres Wissen schlecht zu
reden, nur um politische Geländegewinne zu erzielen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Lothar Bisky [DIE LINKE.])
Überhaupt muss ich mich jetzt sehr zusammennehmen und mehr
als jemals alles Polemische an mir vorübergehen lassen. Der
Mensch hat wirklich viel zu tun, wenn er sein eigenes Positive bis
ans Ende durchführen will. Glücklicherweise bleibt uns
zuletzt die Überzeugung, daß gar vieles nebeneinander
bestehen kann und muss, was sich gerne wechselseitig
verdrängen möchte: Der Weltgeist ist toleranter, als man
denkt.
Die letzten vier Sätze stammen aus einem Brief von Johann
Wolfgang von Goethe an den Grafen Karl Friedrich von Reinhard vom
12. Mai 1826.
Es gehört zum demokratischen Wettbewerb, sich wechselseitig
die Plätze streitig zu machen. Aber der tolerante Weltgeist,
wenn er denn hoffentlich bei Gelegenheit auch bei uns
vorbeischaut,
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE
GRÜNEN)
wird auch in Zukunft dafür sorgen, dass vieles
nebeneinander bestehen kann und bestehen bleiben wird.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein dialogisches
und spannendes Parlament sowie die Kraft, ihr jeweils eigenes
Positive bis ans Ende durchzuführen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
(Beifall im ganzen Hause)
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