Dokumentation
Wir sind Deutschland, jeder auf seine Weise
Ansprache von Bundestagspräsident Norbert
Lammert während der konstituierenden Sitzung des 16. Deutschen
Bundestages
Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Gäste! Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber
inne - für mich persönlich allerdings, das werden Sie
gewiss verstehen, diesem Anfang schon. Seit meiner ersten Wahl im
Oktober 1980 gehöre ich dem Deutschen Bundestag nun seit genau
25 Jahren an. Ich weiß um die Bedeutung wie um die Grenzen des
Amtes, in das Sie mich heute gewählt haben, und ich bedanke
mich für das Vertrauen, das ich hoffentlich rechtfertigen
kann. Ich bin ganz überwältigt, geradezu erschüttert
von dem Vertrauensvorschuss, den Sie mir in dieses Amt mitgegeben
haben.
Mein besonderer Gruß gilt allen meinen Vorgängern in
diesem Amte - denen, die heute freundlicherweise gekommen sind, wie
denen, die leider nicht dabei sein können -, ganz besonders
aber Wolfgang Thierse, der dem Bundestag sieben Jahre als
Präsident gedient hat und dem ich für seine Arbeit,
sicher im Namen des ganzen Hauses, herzlich danken möchte.
(Beifall im ganzen Hause)
Mit Antje Vollmer, die dem Präsidium elf Jahre
angehört hat, danke ich zugleich allen Kolleginnen und
Kollegen, die dem 16. Deutschen Bundestag nicht mehr angehören
und zum Teil über viele Jahre, manchmal auffällig, in der
Regel gänzlich unspektakulär, ihre Arbeit für unser
Land geleistet haben. Schließlich will ich dem
Alterspräsidenten Otto Schily danken, der nun schon zum
zweiten Mal ein neu gewähltes Parlament routiniert und
souverän mit - Zitat - "ungewohnter Herzlichkeit", aber dem
gewohnten Hauch an Grandezza aus dem Wahlkampf, der hinter uns
liegt, an die Schwelle der gemeinsamen Arbeit geführt hat.
(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)
Mein herzlicher Gruß geht auch an alle Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Bundestages. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit
und ganz besonders freut mich, dass viele mir bereits signalisiert
haben, dass es ihnen ganz genauso geht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute konstituiert sich der 16.
Deutsche Bundestag. Er setzt sich anders zusammen als gemeinhin
erwartet, hat andere, knappere Mehrheitsverhältnisse zwischen
den Parteien, als manche erhofft und andere gefürchtet haben.
Selbst die meisten Wähler sind - sofern man Umfragen
überhaupt noch trauen darf -
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
von dem überrascht, was sie selbst entschieden haben.
(Heiterkeit)
Aber sie haben entschieden und sie erwarten, dass alle von ihnen
in diesen Bundestag gewählten Abgeordneten auf dieser Basis am
Wohl des Landes mitarbeiten - Regierung wie Opposition.
(Beifall im ganzen Hause)
Etwa ein Viertel der Mitglieder des heute konstituierten
Bundestages ist erstmals ins Parlament gewählt. Gegenüber
dem Beginn der letzten, verkürzten Legislaturperiode hat sich
die Zusammensetzung des 16. Bundestages mit insgesamt rund 300
neuen Abgeordneten fast zur Hälfte verändert.
Kontinuität und Wandel - ein schöner Beleg für die
längst etablierten Mechanismen einer parlamentarischen
Demokratie. Dies gilt auch für den Wechsel im Amt des
Präsidenten und in der Zusammensetzung des
Präsidiums.
Heute beginnt eine neue Legislaturperiode, aber keine neue
Ära des Parlamentarismus. Auch ein Regierungswechsel
gehört zur Normalität der Demokratie, in der die
Wähler und nicht die Parteien darüber entscheiden, von
wem sie repräsentiert und regiert werden wollen. Er ist sicher
kein alltägliches Ereignis, aber gewiss nicht zu verwechseln
mit der Neuerschaffung der Welt. Es wird gewiss nicht alles anders
werden, aber hoffentlich manches besser.
(Heiterkeit)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Arbeit wie für
das Ansehen des Parlaments ist die Opposition im Übrigen nicht
weniger wichtig als die Regierung. Regiert wird überall auf
der Welt, von wem und unter welchen Bedingungen auch immer. Was ein
politisches System als Demokratie qualifiziert, ist nicht die
Existenz einer Regierung, sondern die Existenz eines Parlamentes
und seine gefestigte Rolle im Verfassungsgefüge wie in der
politischen Realität.
(Beifall im ganzen Hause)
Hier schlägt das Herz der Demokratie oder es schlägt
nicht.
Das Parlament ist im Übrigen nicht Vollzugsorgan der
Bundesregierung, sondern umgekehrt sein Auftraggeber.
(Beifall im ganzen Hause)
Gerade in Zeiten Großer-Koalitions-Mehrheiten ist das
Selbstbewusstsein des Parlaments gegenüber der Regierung
besonders gefordert.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Alle in diesen Bundestag gewählten Mitglieder haben das
gleiche Mandat, die gleiche Legitimation und unabhängig von
ihren späteren Rollenzuweisungen auf der Seite der Regierung
oder der Opposition prinzipiell die gleichen Rechte und Pflichten.
Die ungeschriebenen Rechte der Opposition, die große
Fraktionen ganz unangefochten für sich reklamiert haben,
müssen bei einer großen Koalition selbstverständlich
auch für die kleinen Fraktionen gelten.
(Beifall im ganzen Hause)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, "Wir sind Deutschland" - nicht
nur als flüchtige Botschaft einer ehrgeizigen Kampagne. Wir
sind Deutschland, jeder Bürger dieses Landes, jeder auf seine
Weise. Aber dieses Haus, der Deutsche Bundestag, muss es auf ganz
besondere Weise sein. Er muss diesen Anspruch im Alltag
einlösen.
Der Bundestagspräsident ist der erste Repräsentant
dieses Hauses, nicht der Dienstvorgesetzte seiner Mitglieder.
Deshalb sollte man ihn auch nicht in eine solche Rolle
drängen, wie das zum Teil durch vom Parlament selbst
beschlossene Regeln geschieht. Erst kürzlich hat der 15.
Bundestag zum wiederholten Mal seine Verhaltensregeln
fortgeschrieben, schon unter dem Vorzeichen bevorstehender
vorgezogener Neuwahlen. Manches spricht nach meiner
Überzeugung für einen zweiten, ruhigen Blick und die
Nachjustierung sowohl bei Lücken wie auch bei
Übertreibungen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der
SPD)
Ich teile persönlich ausdrücklich die Zweifel meines
Amtsvorgängers an der Weisheit der Regelung, den
Bundestagspräsidenten nicht nur zum obersten Hüter der
Parteienfinanzierung zu machen, sondern ihm zugleich die
Verpflichtung zur Verhängung von Sanktionen bei
Verstößen gegen die gesetzlichen Regeln aufzuerlegen. So
gut diese Regelung auch gemeint ist, in jedem konkreten Fall setzt
sie den Präsidenten dem Verdacht der Befangenheit
gegenüber den eigenen Parteifreunden oder der jeweiligen
politischen Konkurrenz aus.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, nach der
Geschäftsordnung des Bundestages hat der Präsident die
Würde und Rechte des Bundestages zu wahren, seine Arbeiten zu
fördern, die Verhandlungen gerecht und unparteiisch zu leiten
und die Ordnung im Hause zu wahren. Darum werde ich mich nach
Kräften bemühen. Aber ich werde es nicht immer jedem
recht machen können. Dafür bitte ich schon jetzt um
Einsicht oder um Nachsicht.
Die Wahrung von Ordnung und Würde des Parlamentes muss
nicht bedeuten, dass es steif, trocken und humorlos, also
langweilig, zugehen müsste. Aber neben der Leidenschaft
für die eigene Sache sollte immer auch der Respekt vor der
anderen Überzeugung und Persönlichkeit erkennbar sein.
Temperament ist erwünscht. Auch mit
Temperamentsausbrüchen sollten wir großzügig
umgehen. Aber es gibt Grenzen, die wir im Interesse des Ansehens
des Parlamentes und seiner Mitglieder wahren müssen. Wenn sich
jemand zum Beispiel veranlasst fühlte, auf den Spuren der
frühen wilden Jahre einer damals neuen parlamentarischen
Gruppierung die legendären Auftritte eines späteren
Außenministers zu kopieren - womöglich er selber -
(Heiterkeit im ganzen Hause)
und den amtierenden Präsidenten mit jener legendären
Formulierung zu beschimpfen, die mir im Augenblick scheinbar
entfallen ist,
(Heiterkeit im ganzen Hause)
mit Verlaub, Herr Kollege, es müsste erneut gerügt und
mit einer Ordnungsstrafe belegt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der
SPD und der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, weder Parteien noch Parlamente,
weder Regierung noch Opposition befinden sich gegenwärtig auf
der Höhe ihres öffentlichen Ansehens. Es gibt viele
unzutreffende, aber auch manche berechtigte Kritik am Zustand
unseres politischen Systems. Darüber kann heute nicht
verhandelt werden. Aber es muss deutlich sein, dass wir diese
Kritik ernst nehmen und dass wir sie aufarbeiten; denn die
Bewältigung der großen Herausforderungen, vor denen unser
Land steht - andere Länder übrigens auch -, setzt gerade
angesichts weitreichender, vielfach unerwünschter
Veränderungen der gewohnten Lebensbedingungen vor allem eines
voraus: Vertrauen in die dafür verantwortlichen Institutionen,
Vertrauen in die Legitimation, in die Kompetenz und in die
Integrität der politischen Akteure.
"Was erhofft sich das deutsche Volk von der Arbeit des
Bundestags?", hat der damalige Alterspräsident des ersten
Deutschen Bundestages, der langjährige
Reichstagspräsident Paul Löbe, 1949 bei der
Konstituierung gefragt. Seine damalige Antwort könnte am
Beginn jeder neuen Legislaturperiode stehen:
Daß wir eine stabile Regierung, eine gesunde Wirtschaft,
eine neue soziale Ordnung in einem gesicherten Privatleben
aufrichten, unser Vaterland einer neuen Blüte und neuem
Wohlstand entgegenführen.
Knapper kann man es kaum sagen. In diesem Sinne sollten wir mit
Gottes Hilfe gemeinsam an die Arbeit gehen.
(Beifall im ganzen Hause)
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