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Eckhard Jesse
Die Bundestagspräsidenten seit 1949
Von Erich Köhler über Hermann Ehlers
und Wolfgang Thierse bis Norbert Lammert
Der neue Bundestagspräsident heißt
Norbert Lammert. Er steht nach dem Bundespräsidenten, der als
Staatsoberhaupt die Bundesrepublik im In- und Ausland vertritt,
protokollarisch an zweiter Stelle - noch vor dem Bundeskanzler, dem
die Richtlinienkompetenz obliegt und damit der entscheidende
Einfluss ("Kanzlerdemokratie"). Gemäß parlamentarischem
Brauch hat die stärkste Fraktion das Recht, den
Bundestagspräsidenten vorzuschlagen.
Diesmal - die Unionsfraktion stellt nur vier
Mitglieder mehr als die der SPD - sah es zunächst nach einer
Ausnahme von dieser ungeschriebenen Regel aus. Doch blieb es bei
dem bisherigen Brauch. Die Union setzte sich nicht nur bei der
Kanzlerfrage durch, sondern auch bei der
Bundestagspräsidentenfrage. Dafür erhielt die SPD durch
eine Änderung der Geschäftsordnung als Kompensation zwei
Vizepräsidenten.
Im Gegensatz zum Bundespräsidenten
lässt der Bundestagspräsident, der der Volksvertretung,
dem Bundesparlament, vorsteht, die Mitgliedschaft in der Partei
nicht ruhen und nimmt an der rauhen politischen Auseinandersetzung
teil, also auch an den Abstimmungen - anders als der Speaker in
Großbritannien. Vom Bundestag für die Dauer der
Legislaturperiode in der Konstituierenden Sitzung geheim
gewählt, besteht keine Möglichkeit, ihn abzuwählen.
Wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Deutschen
Bundestages erhält, ist gewählt. Findet sich im ersten
Wahlgang keine Mehrheit, kommt ein zweiter zustande, bei dem neue
Kandidaten vorgeschlagen werden können. Fehlt eine solche
Mehrheit auch im zweiten Wahlgang, so treten im dritten Wahlgang
die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen gegeneinander an. Das
war erst einmal der Fall.
Obwohl keine rechtliche Möglichkeit
besteht, den Bundestagspräsidenten abzusetzen, haben doch vier
vorzeitig die "Segel gestrichen": 1950 Erich Köhler wegen
seiner Amtsführung und seiner Krankheit; 1969 Eugen
Gerstenmaier wegen der Kritik an seinem unglücklichen
Engagement bei der Wiedergutmachung in eigener Sache; 1984 Rainer
Barzel wegen des Vorwurfs, über eine Rechtsanwaltskanzlei Geld
vom Flick-Konzern kassiert zu haben; 1988 Philipp Jenninger wegen
der Kritik an einer Gedenkrede zur 50. Wiederkehr der
"Reichskristallnacht". In allen Fällen waren die
Präsidenten nicht zu halten, obwohl die Anschuldigungen zum
Teil so gar nicht zutrafen.
Aufgaben des Präsidenten
Die Aufgaben des Bundestagspräsidenten
sind vielfältig. Sie werden gemeinhin mit den folgenden vier
Begriffen erfasst: Rechtsvertretung (der Präsident ist der
rechtliche Vertreter des Parlaments) - Sitzungsleitung (ihm obliegt
die Verhandlungsführung) - Hausherr (dazu gehört die
Ordnungsgewalt gegenüber Mitgliedern der Bundesregierung und
des Bundesrates und das Hausrecht, das es ihm gestattet, Personen
des Hauses zu verweisen) - Behördenchef (er steht der mehr als
2.000 Personen umfassenden Verwaltung des Deutschen Bundestages in
Berlin vor). Die Bundesversammlung, die nur zur Wahl des
Bundespräsidenten zusammentritt, leitet der
Bundestagspräsident.
Die deutsche Verfassungsgeschichte kennt
herausragende Parlamentspräsidenten. Der letzte von der
Frankfurter Nationalversammlung gewählte
Parlamentspräsident (1848/49), Eduard Simson, war der erste
Reichstagspräsident des Deutschen Reiches (1871 bis 1873).
Allerdings stellte das Kaiserreich keine Demokratie dar (der
Kanzler wurde vom Kaiser ernannt) - im Gegensatz zur Weimarer
Republik. Der Sozialdemokrat Paul Löbe war von 1920 bis 1932
(mit einer kurzen Unterbrechung im Jahre 1924)
Reichstagspräsident, ehe er dem Nationalsozialisten Hermann
Göring Platz machen musste. Löbe fungierte übrigens
als der erste Alterspräsident des Deutschen Bundestages. Ihm
folgten in dieser Funktion herausragende Politiker, darunter drei
frühere Bundeskanzler: Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Willy
Brandt. Adenauer nahm die Funktion des Alterspräsidenten
allerdings nach seiner Kanzlerzeit wahr. Der Alterspräsident
(seit 2002 ist es Otto Schily) führt in einer neuen
Legislaturperiode nur solange den Vorsitz, bis der neugewählte
Bundestagspräsident sein Amt übernimmt. Er hält eine
programmatische, oft launige Ansprache. So begrüßte
Schily seinen 67-jährigen Bruder, der zum ersten Mal dem
Parlament angehört, als "junges Nachwuchstalent".
Erich Köhler aus den Reihen der CDU, von
Konrad Adenauer im Namen der Unionsfraktion vorgeschlagen, wurde
der erste Bundestagspräsident (7. September 1949 bis 18.
Oktober 1950). Geboren am 27. Juni 1892 in Erfurt, zählte der
promovierte Volkswirt in der Weimarer Zeit zu den Mitgliedern der
Deutschen Volkspartei. Nach 1945 Gründungsmitglied der CDU in
Hessen, war er zwischen 1947 und 1949 Präsident des
Zwei-Zonen-Wirtschaftsrates. Seine Amtsführung stand unter
keinem guten Stern. Nach einem Nervenzusammenbruch erklärte
Köhler im Oktober 1950 seinen Rücktritt. Bis 1957
gehörte der kränkelnde Politiker, der am 23. Oktober 1958
in Wiesbaden starb, dem Bundestag an.
Sein Nachfolger Hermann Ehlers (19. Oktober
bis 29. Oktober 1954) war aus anderem Holz geschnitzt. Geboren am
1. Oktober 1904 in Berlin, gelangte der promovierte Jurist als
Mitglied der Bekennenden Kirche im Dritten Reich nicht in den
Staatsdienst. Bald erwarb er sich durch so zupackende wie
unparteiliche Amtsführung großen Respekt. Wurde er
zunächst nur mit einer Mehrheit von 61,8 Prozent gewählt,
entfielen bei seiner Wiederwahl 93,2 Prozent auf ihn - ein
Ergebnis, das bisher kein Nachfolger zu übertreffen wusste.
Als einziger ist er - am 29. Oktober 1954 in Oldenburg -
während seiner Amtszeit als Bundestagspräsident
gestorben. Nach ihm wurde eine 1968 gegründete politische
Stiftung benannt.
Eugen Gerstenmaier war so lange
Bundestagspräsident wie niemand vor oder nach ihm (16.
November 1954 bis 31. Januar 1969). Geboren am 25. August 1906 in
Kirchheim/Teck, zeichnete sich der promovierte Theologe als
Mitglied des Kreisauer Kreises durch mutige
Widerstandsaktivitäten gegen das Dritte Reich aus. Nach dem
20. Juli 1944 bekam er eine Zuchthausstrafe von sieben Jahren.
Gerstenmaier präsidierte mit Grandezza. Es hatte zuweilen den
Anschein, als fühlte sich der selbstbewusste Gerstenmaier,
1956 zum stellvertretenden Vorsitzenden der CDU gewählt, mit
dem Amt des Bundestagspräsidenten unterfordert. Die
Umstände seines Rücktritts warfen einen Schatten auf
seine langjährige erfolgreiche Tätigkeit. Danach zog sich
Gerstenmaier ins Privatleben zurück. Er starb am 13. März
1986 in Remagen bei Bonn.
Gerstenmaiers Nachfolger, Kai-Uwe von Hassel
(5. Februar 1969 bis 13. Dezember 1972), war am 21. April 1913 im
damals zu Deutsch-Ostafrika gehörenden Gare geboren, siedelte
mit der Familie nach Glücksburg über und ging später
als Pflanzungskaufmann zurück nach Tanganjika. Von 1946 an
CDU-Mitglied, von 1950 bis 1965 Mitglied des Landtags von
Schleswig-Holstein und von 1954 bis 1963 Ministerpräsident
dieses Landes, wurde er 1963 Bundesverteidigungsminister, 1966 bis
1969 Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und
Kriegsgeschädigte. Nach dem Rücktritt Gerstenmaiers
setzte sich von Hassel in einer Kampfabstimmung der Unionsfraktion
knapp gegen Heinrich Köppler durch. Unter ihm kam es zu einer
"Kleinen Parlamentsreform", die eine Reihe von Verbesserungen
für die Abgeordneten brachte. Von Hassel gelang es,
während der turbulenten, vorzeitig beendeten Legislaturperiode
zwischen 1969 und 1972 die Polarisierung zwischen Union und SPD zu
dämpfen. Am 8. Mai 1997 starb er in Aachen.
Annemarie Renger (SPD), geboren am 7. Oktober
1919 in Leipzig, wurde die erste Bundestagspräsidentin (13.
Dezember 1972 bis 14. Dezember 1976). Dies war in doppelter
Hinsicht neu. Die Tochter eines "Arbeiterführers" wurde nach
dem Krieg eine enge Mitarbeiterin des charismatischen
sozialdemokratischen Parteivorsitzenden Kurt Schumacher (bis zu
dessen Tod 1952). Sie gehörte von 1953 bis 1990 dem Deutschen
Bundestag an (in den Anfangsjahren als "Miss Bundestag" tituliert).
Die parlamentarische Geschäftsführerin wurde 1972
Bundestagspräsidentin. Das Schicksal ihres Vorgängers
blieb ihr nicht erspart: Sie musste als Vizepräsidentin in das
zweite Glied treten (1976 bis 1990). In der Partei spielte
Annemarie Renger - die stets Antikommunistin geblieben war, darin
ihrem Vorbild Schumacher ähnlich - von den 80er-Jahren an kaum
noch eine Rolle. Der Zusammenbruch der DDR war für sie eine
große Genugtuung.
Karl Carstens, geboren am 1. Dezember 1914 in
Bremen, übte vom 14. Dezember 1976 bis zum 31. Mai 1979 das
Amt des Bundestagspräsidenten aus. Der habilitierte Jurist war
von 1949 bis 1954 Bevollmächtigter des Landes Bremen in Bonn,
in den 60er-Jahren Staatssekretär - im Auswärtigen Amt,
im Verteidigungsministerium und als Chef des Bundeskanzleramtes.
Erst 1972 gelangte Carstens in den Bundestag; bereits ein Jahr
später löste er Rainer Barzel als Fraktionsvorsitzenden
der CDU/CSU ab. In der nächsten Legislaturperiode
übernahm er das Amt des Bundestagspräsidenten. Drei Jahre
später wurde er Bundespräsident (1979 bis 1984). Die
Vorbehalte gegenüber dem konservativen Carstens als
Bundestagspräsident wie als Bundespräsident konnte dieser
aufgrund seiner strikt überparteilichen Amtsführung
entkräften. Der nüchtern wirkende Norddeutsche starb am
30. Mai 1992 in Meckenheim bei Bonn.
Richard Stücklen, geboren am 20. August
1916 in Heideck/Mittelfranken, war vor (1976 bis 1979) und nach
(1983 bis 1990) seiner Wahl zum bisher einzigen
Bundestagspräsidenten aus den Reihen der CSU (31. Mai 1979 bis
29. März 1983) Bundestagsvizepräsident. Von 1949 bis 1990
- also mehr als 40 Jahre - war der Elektroingenieur Mitglied des
Deutschen Bundestages. Fast zehn Jahre (1957 bis 1966) wirkte er
als erfolgreicher Bundesminister für das Post- und
Fernmeldewesen. Danach wurde er CSU-Landesgruppenvorsitzender.
Obwohl seine Tätigkeit als Bundestagspräsident auf
große Zustimmung stieß (zum Beispiel durch seinen Humor,
der kritische Situationen entspannen konnte), musste er das Amt
nach knapp vier Jahren abgeben, weil die CDU darauf bestand, das
Amt zu besetzen. Stücklen erlag am 2. Mai 2002 im Alter von 85
Jahren in seiner Heimat Weißenberg einem
Herzleiden.
Rainer Barzel, geboren am 20. Juni 1924 in
Braunsberg (Ostpreußen), gehörte als promovierter Jurist
30 Jahre lang (1957 bis 1987) dem Bundestag an, davon fast zehn
Jahre als Fraktionsvorsitzender der Union (1964 bis 1973), unter
anderem auch zur Zeit der Großen Koalition. Als
Parteivorsitzender der CDU (1971 bis 1973) scheiterte 1972 sein
Versuch knapp, mit Hilfe des "Konstruktiven Misstrauensvotums"
Willy Brandt vom Amt des Bundeskanzlers abzulösen. Hingegen
verlor die Union unter Barzel die Bundestagswahl 1972 klar. Vor
seiner Zeit als Bundestagspräsident (29. März 1983 bis
25. Oktober 1984) kam Barzel zweimal kurzfristig zu Ministerehren:
1962/1963 als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen und -
20 Jahre später - 1982/1983 erneut in diesem Amt (unter der
Bezeichnung als Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen).
Das Amt des Bundestagspräsidenten brachte ihm kein Glück.
Eine Finanzaffäre, die - wie später herauskam - keine
war, führte zu seinem Abgang. Barzel meldet sich noch heute
oft zu Wort.
Philipp Jenninger, geboren am 10. Juni 1932
in Rindelbach (Nordwürttemberg), fungierte vom 5. November
1984 bis zum 11. November 1988 als Bundestagspräsident. Der
promovierte Jurist gelangte 1964 für die CDU in den Deutschen
Bundestag und wurde 1975 Erster Parlamentarischer
Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion. Nach Helmut Kohls
Ernennung zum Kanzler wurde Jenninger zum Staatsminister im
Bundeskanzleramt befördert. Als Bundestagspräsident ging
es ihm insbesondere darum, die Arbeit an den Parlamentsneubauten
voranzubringen. Tragischerweise stürzte der ausgemachte Freund
Israels aufgrund einer Rede, die missverständlich war
beziehungsweise missverstanden werden wollte - je nach Perspektive.
Der verbitterte Jenninger verzichtete auf eine weitere Kandidatur
für den Deutschen Bundestag. Von 1991 bis 1995 wirkte er als
Botschafter in Österreich, von 1995 bis 1997 im
Vatikan.
Rita Süssmuth, geboren am 17. Februar
1937 in Wuppertal, war eine politische Quereinsteigerin. Die
Professorin für Erziehungswissenschaft trat erst 1981 in die
CDU ein und machte schnell Karriere. Von 1985 bis 1988 leitete sie
das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit. Nach
dem plötzlichen Rücktritt Jenningers übte sie das
Amt der Bundestagspräsidentin fast ein Jahrzehnt aus (25.
November 1988 bis 26. Oktober 1998). Bundeskanzler Helmut Kohl
wollte auf diese Weise ihre Wirkung neutralisieren. Das neue Amt
hinderte sie nicht darin, sich als "Querdenkerin" zu profilieren.
Als Parlamentspräsidentin setzte sie mannigfache
Parlamentsreformen durch (zum Beispiel Verkleinerung der Zahl der
Bundestagsabgeordneten). Obwohl die Union 1998 in die Opposition
geriet, wurde die CDU-Abgeordnete 2000 Vorsitzende der Kommission
für Zuwanderung der Bundesregierung. Im Jahre 2002 verzichtete
Süssmuth auf eine erneute Kandidatur zum Bundestag.
Wolfgang Thierse, geboren am 22. Oktober 1943
in Breslau, wurde am 26. Oktober 1998 gegen den Wunsch des
Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine zum Bundestagspräsidenten
gewählt und übte dieses Amt nach seiner Wiederwahl 2002
bis zum 18. Oktober 2005 aus. Der Ostdeutsche war bis 1989
parteilos. In der DDR machte er mannigfache Minderheitserfahrungen.
Als Katholik und als Nicht-Parteimitglied fühlte er sich - als
wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentralinstitut für
Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR - dort
in der inneren Emigration. Im Januar 1990 trat der Germanist
Thierse in die neugegründete SPD der DDR ein, deren
Vorsitzender er von Juni bis September 1990 war. Seit dem 3.
Oktober 1990 gehört Thierse dem Bundestag (damit schon der
sechsten Legislaturperiode) an. Der stellvertretende Vorsitzende
der SPD machte sich besonders für die Interessen von
DDR-Bürgern stark, um die innere Einheit der Deutschen zu
fördern. Im Bundestag versah Thierse sein Amt mit rhetorischem
Geschick.
Norbert Lammert, geboren am 16. November 1948
in Bochum, ist seit dem 18. Oktober 2005 der neue
Bundestagspräsident. Der promovierte Sozialwissenschaftler
gehört dem Bundestag seit 1980 an. Von 1989 bis 1998 war er
Parlamentarischer Staatssekretär im Bildungs-, Wirtschafts-
und Verkehrsministerium. In der letzten Legislaturperiode amtierte
Norbert Lammert als Vizepräsident des Deutschen Bundestages.
Davor war er Kultur- und medienpolitischer Sprecher der
CDU/CSU-Fraktion. Von 1996 an amtierte Lammert, der im Wahlkampf
zum Kompetenzteam Angela Merkels gezählt hatte, als
Vorsitzender der einflussreichen nordrhein-westfälischen
Landesgruppe. Die ungewöhnlich hohe Zustimmung von 92,9
Prozent bei der Wahl zeugt vom Vertrauen des Hohen Hauses in den
auf Ausgleich bedachten Lammert. Viele Abgeordnete erwarten von ihm
eine durchgreifende Parlamentsreform.
Das neue Bundestagspräsidium
Der Präsident und seine Stellvertreter -
seit 1994 heißt es in der Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages, dass jede Fraktion mindestens durch einen
Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin vertreten ist -
bilden das Präsidium, das oberste Gremium im Bundestag. Ebenso
wie beim Präsidenten erfolgt die Wahl bei den Stellvertretern
für die Dauer einer Wahlperiode. Absprachen zwischen den
Fraktionen gehen der Wahl in der Regel voraus, sodass
Kampfabstimmungen prinzipiell unterbleiben. Die Parteien schlagen
häufig Abgeordnete vor, die über eine gewisse
Autorität auch bei Andersdenkenden verfügen. So war mit
Richard von Weizsäcker ein späterer Bundespräsident
Vizepräsident. Carlo Schmid von der SPD, ein führender
Kopf im Parlamentarischen Rat, amtierte von 1949 bis 1972 als
Vizepräsident des Deutschen Bundestages so lange wie kein
anderer.
So viele Stellvertreter wie nie zuvor
gehören dem Bundestagspräsidium an: Wolfgang Thierse und
Susanne Kastner (jeweils SPD), Gerda Hasselfeldt (CSU), Hermann
Otto Solms (FDP), Katrin Göring-Eckardt. Bei der Wahl von
Lothar Bisky (Linkspartei) gab es einen Eklat. Der Kandidat
scheiterte in allen drei Wahlgängen. Viele Abgeordnete wollten
den Vorsitzenden der Linkspartei, der im Verdacht steht, mit der
Staatssicherheit zusammengearbeitet zu haben, nicht als Vertreter
des Bundestages sehen. Die Linkspartei will an Bisky
festhalten.
Klare Wahlergebnisse
Bis auf die Wahl des Jahres 1954 gab es stets
nur einen Wahlgang. Seinerzeit setzte sich Eugen Gerstenmaier im
dritten Wahlgang knapp gegen Ernst Lemmer durch. Dieser, der auch
aus den Reihen der CDU stammte (er gehörte in der Weimarer
Republik den Liberalen an), wurde von Hans Reif, einem
FDP-Abgeordneten, zur Wahl vorgeschlagen. Gerstenmaier erhielt 204
Stimmen, Lemmer 190, 15 waren ungültig. Der Sieger bekam damit
nicht einmal die Hälfte der abgegebenen Stimmen. So schlecht
schnitt nie wieder ein Präsident ab. Bei den folgenden Wahlen
erhielt Gerstenmaier überwiegend auch die Stimmen der
Opposition (1957: 88,5 Prozent; 1961: 91,9 Prozent; 1965: 75,8
Prozent). Keiner wurde viermal gewählt wie Gerstenmaier. Rita
Süssmuth gelang dies dreimal (1988: 80,0 Prozent; 1990: 80,8
Prozent; 1994: 83,0 Prozent), Hermann Ehlers, Kai-Uwe von Hassel,
Richard Stücklen, Philipp Jenninger und Wolfgang Thierse je
zweimal. Bei den insgesamt 22 Wahlen erhielt nur in sechs
Fällen der Präsident nicht 75 Prozent der abgegebenen
Stimmen: Hermann Ehlers (1950), Eugen Gerstenmaier (1954), Kai-Uwe
von Hassel (1969), Philipp Jenninger (1984) bei ihren ersten
Kandidaturen und Karl Carstens 1976. Fast alle
Bundestagspräsidenten, die zur Wiederwahl anstanden, konnten
sich gegenüber dem früheren Ergebnis verbessern. Das
spricht für ihre Integrationsfähigkeit. Allerdings bekam
Wolfgang Thierse bei seiner zweiten Wahl lediglich 59,9 Prozent der
Stimmen.
Auch wenn dem Bundestagspräsidenten
politische Macht im engeren Sinne nicht zufällt, spielt es
keine geringe Rolle, wer dieses Amt ausübt. Jedem
Bundestagspräsidenten ist zu raten, von seinem Amt
unparteiisch Gebrauch zu machen. Das gebietet der Respekt vor dem
Parlament - und damit auch vor dem Souverän, dem Volk. Wie
immer man die einzelnen Bundestagspräsidenten einordnet und
welche Kritik man an dem einen oder anderen gehabt haben mag -
keiner hat seine Amtsführung missbraucht. Auch Norbert Lammert
dürfte nicht polarisieren.
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