Kai Nitschke
Oft gefordert - nie gewollt
Zur Debatte über ein
Selbstauflösungsrecht des Bundestages
Das Grundgesetz sollte der Bundesrepublik eine
größtmögliche politische Stabilität
garantieren. Deshalb verzichtete der Parlamentarische Rat auf ein
Selbstauflösungsrecht des Bundestages. Im Ergebnis
stärkte dies den Kanzler und schwächte das Parlament.
Abgeordnete aller Fraktionen forderten deshalb immer wieder eine
Reform. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts und der
Konstituierung des neuen Bundestages ist die Debatte wieder
entbrannt.
Es erscheint notwendig, die Möglichkeit
der vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode vorzusehen, um durch
Neuwahlen eine neue Mehrheitsbildung im Parlament
herbeizuführen", so der Appell der Abgeordneten. Eine solche
Befugnis sollte das alleinige Recht des Parlaments sein und nicht
der Regierung oder dem Bundespräsidenten zustehen, forderten
parteiübergreifend die Mitglieder der vom Bundestag im Jahr
1972 eingesetzten ersten Kommission zur Reform des
Grundgesetzes.
Doch im Plenum fand dieser Antrag keine
Mehrheit. Ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages
gefährde die politische Stabilität, argumentierten die
Reformgegner und verwiesen auf die Weimarer Republik. Damit war der
erste parlamentarische Anlauf, ein Selbstauflösungsrecht des
Bundestages im Grundgesetz zu verankern, gescheitert. Zahlreiche
weitere Reformversuche sollten folgen, doch ebenfalls ergebnislos
bleiben.
Als ein Argument der Gegner dienen stets die
negativen Erfahrungen mit der großen politischen
Instabilität während der Weimarer Republik. Dabei war der
Weimarer Reichsverfassung (WRV) ein parlamentarisches
Selbstauflösungsrecht genauso fremd wie dem Grundgesetz. Die
Reichsverfassung enthielt jedoch zahlreiche andere
Möglichkeiten der vorzeitigen Parlamentsauflösung: So war
in Artikel 54 WRV die Möglichkeit eines "destruktiven
Misstrauensvotums" verankert: Dies bedeutete, dass das Parlament
jedem einzelnen Minister und auch dem Reichskanzler jederzeit das
Misstrauen aussprechen konnte, wenn sich dafür eine Mehrheit
fand. Die jeweiligen Personen mussten dann zurücktreten, ohne
dass gleichzeitig ein neuer Fachminister oder ein neuer Kanzler
gewählt wurde.
Im Ergebnis führte dies dazu, dass sich
häufig negative Mehrheiten zur Abwahl eines
Regierungsmitgliedes fanden, aber keine positiven Mehrheiten
für die Wahl eines neuen Kandidaten. Als Konsequenz daraus
enthält das Grundgesetz in Artikel 67 das so genannte
konstruktive Misstrauensvotum: Nach dieser Regelung ist die Abwahl
des Bundeskanzlers nur möglich, wenn sich das Parlament
gleichzeitig mehrheitlich auf einen Nachfolger einigen kann. Die
Abwahl einzelner Fachminister durch das Parlament ist dem
Grundgesetz sogar völlig fremd.
Zudem setzt das Grundgesetz auch dem
Auflösungsrecht des Staatsoberhauptes enge Grenzen: Der
Bundespräsident kann gemäß Artikel 68 Grundgesetz
nur auf Initiative des Kanzlers und nach einem entsprechenden
Beschluss des Bundestages das Parlament auflösen. Dies war in
der Weimarer Republik noch völlig anders: Zwar konnte der
Reichspräsident gemäß Artikel 25 Absatz 1 WRV das
Parlament nur einmal aus dem gleichen Anlass auflösen,
inhaltlich war er jedoch völlig frei und an keine Initiative
eines anderen Verfassungsorgans gebunden.
Im Ergebnis bestanden somit während der
Weimarer Republik wesentlich mehr Auflösungsmöglichkeiten
als nach der heutigen Verfassungslage. Zudem erlaubte die
Reichsverfassung ein Regieren auch ohne parlamentarische Mehrheit
durch Rechtsverordnungen. Die Summe dieser Regelungen führte
dann dazu, dass zwischen 1920 und 1931 alle sieben gewählten
Reichstage vorzeitig aufgelöst wurden. Allein vier Mal machte
der Reichspräsident von seinem Auflösungsrecht nach
Artikel 25 Absatz 1 WRV Gebrauch.
"Dies waren die entscheidenden Gründe,
dass der Parlamentarische Rat bei der Entstehung des Grundgesetzes
auf eine größtmögliche Kontinuität des
Parlaments setzte", sagt der Staatsrechtler Professor Christian
Pestalozza. Er fordert, wie schon die Enquete-Kommission im Jahr
1972, ein Selbstauflösungsrecht in das Grundgesetz zu
integrieren.
Bei allen Befürwortern eines
Selbstauflösungsrechts herrscht allerdings Einigkeit, dass
diese Möglichkeit an hohe Hürden gekoppelt werden soll:
So fordert Pestalozza, dass bereits der Antrag auf
Selbstauflösung von einer Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder
des Bun-destages gestellt werden muss. Die Selbstauflösung
selber will er dann davon abhängig machen, dass zwei Drittel
oder sogar drei Viertel der Abgeordneten zustimmen. Die Pläne
der Enquete-Kommission sahen vor, dass sich der Bundestag auf
Antrag eines Viertel seiner Mitglieder mit einer Mehrheit von zwei
Drittel der Abgeordneten selbst auflösen kann.
Trotz dieser hohen Hürden gelang es
Anfang der 70er-Jahre nicht, eine Mehrheit der Parlamentarier vom
Selbstauflösungsrecht des Bundestages zu überzeugen und
die Diskussion begann erst wieder neu, als der damalige
Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) im Jahr 1983 die Vertrauensfrage
stellte, mit dem Ziel, so zu Neuwahlen zu kommen. Kohl wollte so
der unter seiner Führung neu gebildeten Koalition von CDU/CSU
und FDP die seiner Meinung nach notwendige demokratische
Legitimation verschaffen. Ähnlich wie bei der von
Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) inszenierten
Vertrauensfrage gab es bereits im Jahr 1983 heftige Kritik am
Verfahren. Auf die Klage mehrerer Bundestagsabgeordneter zweifelten
auch drei Karlsruher Verfassungsrichter, darunter der damalige
Vizepräsident des Gerichts Wolfgang Zeidler, öffentlich
an der Rechtmäßigkeit der fingierten Vertrauensfrage:
"Wenn der Mehrheitskanzler die Vertrauensfrage jedoch nach
Absprache mit der ihn tragenden Parteienkoalition mit dem Ziel
stellt, ihm das Vertrauen zu verweigern, dann missbraucht er die
ihm nach Artikel 68 Grundgesetz zustehenden Befugnisse", schrieb
der Verfassungsrichter Joachim Rottmann in seinem Votum und
bescheinigte der damaligen Bundesregierung ein rechtswidriges
Verhalten.
Die knappe Mehrheit der Verfassungsrichter
beurteilte die Vertrauensfrage gemäß Artikel 68
Grundgesetz jedoch anders: Der Bundeskanzler habe eine
"Einschätzungs- und Beurteilungskompetenz, ob seine
Gestaltungsmöglichkeiten bei den gegebenen politischen
Kräfteverhältnissen im Rahmen des parlamentarischen
Regierungssystems erschöpft sind", urteilten fünf von
acht der Karlsruher Richter. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl
(CDU) erreichte so die von ihm angestrebten Neuwahlen, die er
gemeinsam mit der FDP auch gewann. Doch ein fader Beigeschmack
blieb, auch wenn die Diskussion um ein Selbstauflösungsrecht
des Bundestages schnell wieder einschlief.
Neue Dynamik kam in die Debatte nach der
Wiedervereinigung: Bereits im Vertrag zur Deutschen Einheit hatten
die damaligen Vertreter von DDR und Bundesrepublik beschlossen,
innerhalb von zwei Jahren nach der Wiedervereinigung eine neue
Verfassungskommission einzusetzen. Diese Kommission aus Mitgliedern
des Bundestages und der 16 Landesregierungen nahm im Januar 1992
unter dem Vorsitz des Bundestagsabgeordneten und Juraprofessors
Rupert Scholz (CDU) sowie des damaligen Hamburger
Bürgermeisters und gelernten Notars Henning Voscherau (SPD)
seine Arbeit auf. Auch ein Selbstauflösungsrecht des
Bundestages war sehr schnell ein Thema im Ausschuss und die
SPD-Mitglieder beantragten, folgende Regelung ins Grundgesetz zu
integrieren: "Auf Antrag eines Drittels seiner Mitglieder kann der
Bundestag mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder
beschließen, die Wahlperiode vorzeitig zu beenden. Zwischen
dem Antrag und der Abstimmung müssen 72 Stunden
liegen."
Nachdem die PDS-Mitglieder des Ausschusses
einen wesentlichen umfangreicheren Antrag zur Änderung des
Grundgesetzes zurückgezogen hatten, herrschte in der
Verfassungskommission zunächst Einigkeit, den SPD-Vorschlag zu
unterstützen. Doch bei der Endabstimmung votierten lediglich
21 Mitglieder dafür, 15 dagegen und drei enthielten sich. Zu
wenig, um eine Verfassungsänderung durchzusetzen, denn
dafür hatte die Kommission zu Beginn ihrer Beratungen eine
Zwei-Drittel-Mehrheit vereinbart.
Ein wesentliches Argument der Gegner des
SPD-Vorschlages war, dass danach weder der Kanzler noch der
Bundespräsident irgendeinen Einfluss auf das
Auflösungsverfahren hätten. Im Ergebnis würde
dadurch die starke Stellung des Kanzlers und die Regelung des
konstruktiven Misstrauensvotum in Artikel 67 Grundgesetz
untergraben, denn durch die Selbstauflösung des Parlaments
stürze auch der Regierungschef samt seiner Minister, ohne dass
das Parlament sich auf einen Nachfolger verständigt
habe.
Im Ergebnis beendete auch die zweite
Verfassungsreformkommission ihre Arbeit, ohne dass ein
Selbstauflösungsrecht in das Grundgesetz integriert wurde. Die
Kommission wirkte aber als Anschub für entsprechende
Verfassungsänderungen in den einzigen beiden
Bundesländern, in denen es zum damaligen Zeitpunkt noch kein
Selbstauflösungsrecht gab. So können sich auch in Bremen
und Baden-Württemberg seit 1994 beziehungsweise 1995 die
Landtage selbst auflösen. Voraussetzung ist eine
Zwei-Drittel-Mehrheit, wie auch in den meisten anderen
Bundesländern.
Auf der Bundesebene lebte die Debatte jedoch
erst wieder auf, als Gerhard Schröder (SPD) nach der
verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen einen eleganten Weg
suchte, um den Bundestag aufzulösen. Wieder gab es - über
alle Parteigrenzen hinweg - heftige Kritik am Verfahren und Klagen
vor dem Bundesverfassungsgericht. Dieses bestätigte zwar das
Vorgehen des Bundeskanzlers und den ihm zustehenden
Beurteilungsspielraum, äußerte aber auch deutlichen
Unmut: "Diese Form der Parlamentsauflösung ist kaum
kontrollierbar", sagte der Verfassungsrichter Rudolf Mellinghoff in
der mündlichen Verhandlung und der zuständige
Berichterstatter Professor Udo di Fabio zeigte sich angesichts des
Streits über das angeblich verloren gegangene Vertrauen in die
Arbeit des Bundeskanzlers offen ratlos: "Sollen wir etwa in eine
Beweisaufnahme eintreten?"
Führende Politiker von SPD und CDU/CSU
forderten deshalb direkt nach dem Urteil des Verfassungsgerichts,
dass der neue Bundestag jetzt endlich ein
Selbstauflösungsrecht des Parlaments beschließen
müsse. Die für eine Grundgesetzänderung notwendige
Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat ist für
die Große Koalition dabei jedenfalls kein Problem.
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