Kurt Laser
Alltagskriminalität in Hitlers Staat
Eine weniger bekannte Seite der
NS-Diktatur
Die Historikerein Regina Stürickow schildert
Kriminalfälle aus der NS-Zeit und stützt sich dabei vor
allem auf gründliche Studien in Ermittlungsakten im Bestand
"Polizeipräsidium Berlin" des Landesarchivs Berlin. Die
Autorin ist bereits durch die Schilderung von Kriminalfällen
in Berlin aus der Zeit von 1914 bis 1933, durch einen
kriminalhistorischen Führer durch das "mörderische Paris"
mit Straße und Hausnummer und den historischen Kriminalroman
"Habgier" bekannt geworden.
Die meisten der geschilderten Verbrechen hätten auch vor
1933 oder teilweise sogar heute so oder ähnlich ablaufen
können: Die junge Frau, die ihre drei kleinen Kinder
verhungern und verdursten lässt; der Sexualmord an einer
Neunjährigen; die Raubmorde an einem Kassierer und an einer
Kneipenwirtin; die Ermordung eines 14-Jährigen durch einen
Mitschüler oder dass ein 13-Jähriger und ein
14-Jähriger eine alte Frau berauben und erschlagen.
Das trifft eigentlich auch auf die spektakuläre Raubserie
zu, die von 1934 bis Ende 1937 anhielt und bei der zwei Menschen
ermordet wurden. Als aber die Tagespresse über diese
Überfälle berichtete, soll Goebbels einen Tobsuchtsanfall
bekommen und eine wütende Anfrage an das Polizeipräsidium
gerichtet haben, "ob die Kripo wahnsinnig geworden sei, so etwas in
der Presse breitzutreten". Da bemühe er sich, das
nationalsozialistische Deutschland als einen Hort der Ordnung und
Sauberkeit hinzustellen "und eine instinktlose Kriminalpolizei
bringe ständig Überfallmeldungen".
Propaganda
Andere Fälle sind eher typisch für die NS-Zeit. Die
Ehefrau eines Wehrmachtssoldaten und Geliebte eines SS-Mannes wird
in der S-Bahn zwischen Oranienburg und Lehnitz von einem belgischen
Zwangsarbeiter erschlagen und aus dem Zug geworfen. Beim Raubmord
an einer Zwangsarbeiterin wird aus propagandistischen Gründen
verschwiegen, dass es sich um eine Jüdin handelte; der
Mörder wird verurteilt und hingerichtet.
Besonders instruktiv ist die Einleitung, in der sich Regina
Stürickow mit schöngefärbten Darstellungen
auseinandersetzt, die jahrzehntelang das Bild von der
Kriminalpolizei im NS-Staat prägten.
"Berufsverbrecher" und "Asoziale"
Unter Hinweis auf die 1996 erschienene Studie des Freiburger
Historikers Patrick Wagner "Volksgemeinschaft ohne Verbrecher.
Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der
Weimarer Republik und des Nationalsozialismus" macht sie deutlich,
dass die Kripo-Dienststellen in Deutschland zwischen 1933 und 1945
weit mehr als 70.000 so genannte "Berufsverbrecher" und "Asoziale"
in die Konzentrationslager schickten; mindestens die Hälfte
dieser Menschen hat das Lager nicht überlebt. Hinzu kamen etwa
30.000 Sinti und Roma, die nicht von der Gestapo, sondern von der
Kriminalpolizei deportiert wurden. Auch bei der Deportation
jüdischer Mitbürger leistete die Polizei Hilfestellung.
Die hierfür verantwortlichen Kriminalbeamten wussten genau,
was sie taten, denn sie erhielten aus den Konzentrationslagern
regelmäßig die Todesmeldungen der dorthin Verschleppten.
Unbestreitbar ist ebenso, dass Kriminalbeamte innerhalb der
berüchtigten Einsatzkommandos in den besetzten Gebieten an der
Seite der SS an zahllosen Mordtaten beteiligt waren.
Schließlich war Heinrich Himmler am 17. Juni 1936 nicht nur
zum Reichsführer SS, sondern auch zum Chef der Deutschen
Polizei im Reichsinnenministerium ernannt worden.
Im Grunde genommen stehen nicht die einzelnen Kriminalfälle
im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern das soziale Umfeld, in dem
sie entstanden. Das ist sehr sorgfältig mit ausgezeichneter
Ortskenntnis beschrieben. Der Leser wird so mit einer weniger
bekannten Seite der NS-Zeit konfrontiert.
Regina Stürickow
Kriminalfälle im Dritten Reich.
Mörderische Metropole Berlin.
Militzke Verlag, Leipzig 2005; 206 S., 14,90 Euro
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