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Hartmann Wunderer
"Jeder kann zum Mörder werden"
Genozid und Massenmord
Ich glaube, meine Herren, dass Sie mich soweit kennen, dass ich
kein blutrünstiger Mensch bin und kein Mann, der irgendwie an
etwas Hartem, das er tun muss, Freude oder Spaß hat. Der aber
andererseits so gute Nerven und ein so großes
Pflichtbewusstsein hat - das darf ich für mich in Anspruch
nehmen -, dass ich dann, wenn ich eine Sache erkenne, und als
notwendig erkenne, sie kompromisslos durchführe." Heinrich
Himmler betonte wie zahllose andere, dass es ihm eine unangenehme
Aufgabe war, Menschen zu vernichten, aber gerade in der
Selbstüberwindung zum Töten zeige sich die besondere
charakterliche Qualität der Täter.
Was veranlasst einen Menschen, der nie gedacht hatte, dass er in
der Lage sei zu töten, Wehrlose umzubringen? Menschen, die an
einem Genozid mitwirken, müsse man sich - Welzer zufolge -
nicht als fanatische "Triebtäter" oder als Menschen mit einem
psychischen Defekt vorstellen. Den Mythos eines "Befehlsnotstands"
habe die historische Forschung längst entlarvt.
Ebenfalls spielt weder eine bestimmte Veranlagung, eine
sadistische Neigung oder Sozialisation eine Rolle, noch eine
spezifische soziale Position, Bildung oder Religion.
Massenmörder sind vielmehr "Durchschnittsmenschen", wie
bereits psychologische Tests an Hauptkriegsverbrechern
anlässlich der Nürnberger Prozesse zeigten. Hannah Arendt
sprach mit Blick auf Eichmann von der "Banalität des
Bösen".
Harald Welzer, Direktor des Center for Interdisciplinary Memory
Institute in Essen und Professor für Sozialpsychologie an der
Universität Witten/Herdecke, untersucht zahlreiche Verbrechen
des Holocaust, aber auch Massenverbrechen wie Genozide in Vietnam,
Ruanda und im ehemaligen Jugoslawien. Seine Analyse der sozialen
und situativen Zusammenhänge zeigt, wie das Töten
innerhalb erschreckend kurzer Zeit zu einer - bisweilen schweren -
"Arbeit" werden konnte, die wie jede andere auch erledigt
wurde.
Voraussetzung dafür ist eine einzige
"Koordinatenverschiebung". Diese genügt, um einen völlig
neuen Referenzrahmen zu eröffnen. "Diese Koordinate heißt
soziale Zugehörigkeit. Ihre Verschiebung besteht in der
radikalen Neudefinition dessen, wer zum Universum der allgemeinen
Verbindlichkeit zu zählen ist und wer nicht." Eine solche
Verschiebung fand im Nationalsozialismus bereits 1933 statt, wo sie
wissenschaftlich-rassentheoretisch begründet wurde, aber auch
in Ex-Jugoslawien oder in Ruanda, wo sie jeweils ethnisch
legitimiert wurde.
Welzer dazu: "Die unhintergehbare und absolute Unterscheidung
von Zugehörigen und Nicht-Zugehörigen ist das gemeinsame
Merkmal dieser ansonsten höchst verschiedenen
mörderischen Gesellschaften - gepaart mit der phobischen
Setzung, dass die einzige Lösung der bestehenden
gesellschaftlichen Probleme in der vollständigen Abschaffung
der Nicht-Zugehörigen besteht." Die Idee einer - zunächst
eher harmlos erscheinenden - räumlichen Separation der
"Anderen" wird sich dann zu einer Ausgrenzungs-, Beraubungs- und
Deportationspraxis transformieren, die in erschreckender
Regelmäßigkeit in die Auslöschung der
Nicht-Zugehörigen münde.
Welzer erörtert im Anschluss an Alf Lüdtke die
Verwandtschaft von Industrie- und Kriegsarbeit und deren
Wertschätzung: "Gewalteinsatz, Gewaltdrohung, das Töten
oder doch Schmerzzufügen ließ sich als Arbeit begreifen
und damit als sinnvoll, zumindest als notwendig und unvermeidbar
erfahren."
Welche Gründe könnte es geben, sich gegen das
Töten zu entscheiden: Einmal eine einfache und doch
grundsätzliche Alltagsethik ("Das kann man doch nicht
machen!"), die freilich ein hohes Maß an Autonomie, ein
Gelingen früher Bindungsprozesse, gewissermaßen ein
Urvertrauen voraussetzt; andererseits eine soziale Nähe zu den
Bedrohten oder zu Weggefährten, die solidarisches Handeln
unterstützen oder gutheißen. Widerstandskämpfer
hatten in der Regel derartige Netzwerke.
Das Buch bietet eine wenig beschauliche Lektüre, die
häufig Motive und Rechtfertigungen von Tätern zu Wort
kommen lässt und den Kontext von Tötungen analysiert. So
einleuchtend die Erklärungen des Autors über die Genese
einer Tötungsbereitschaft wirken, so lässt diese Studie
doch offen, warum nicht zwingend jede Ausgrenzung oder jede
Definition von Nicht-Zughörigkeit - glücklicherweise! -
auch zum Massenmord führt.
Harald Welzer unter Mitarbeit von Michaela Christ
Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder
werden.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2005; 323 S.; 19,90
Euro
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