Karsten D. Voigt
Man braucht einen langen Atem
Die Jugend von heute ist nicht unpolitischer, sondern anders
politisch als wir es vor nunmehr 35 Jahren waren. Die
Konfliktlinien innerhalb unserer Gesellschaft, anhand derer man
sich für die Mitgliedschaft in einer Partei entscheidet, haben
sich in den letzten Jahrzehnten verschoben. Die außen- und
sicherheitspolitische Lage veränderte sich gegenüber der
Situation im geteilten Deutschland und Europa sogar
revolutionär. Es wäre deshalb unsinnig von den jungen
Politikern von heute zu erwarten, dass ihre Konzepte mit denen
meiner Jugend identisch sind.
Eines aber ist geblieben: Wissenschaftliche Analytiker und
journalistische Kommentatoren neigen zur Skepsis gegenüber der
großen Zahl der Bundestagsabgeordneten, die in ihren
Auffassungen und Verhaltensweisen durch ihre aktive Mitarbeit in
den Jugendorganisationen der Parteien geprägt wurden. Anders
die Parteien: Sie wissen aus Erfahrung, dass die aus den
Jugendorganisationen stammenden Politiker eher als andere
fähig sind, politische Ziele in den sehr konflikt-reichen,
langwierigen und häufig auch frustrierenden demokratischen
Prozessen in Parteien und Parlamenten in politische
Mehrheitsentscheidungen umzusetzen. Dieses ist aber der
entscheidende Unterschied, der einen erfolgreichen Analytiker und
Kommentator von einem erfolgreichen Politiker unterscheidet.
Wer sich innerhalb einer politischen Jugendorganisation - und
erst recht gilt dies für Parteien selber - durchsetzen will,
muss prinzipiell zu einem langfristigen Engagement bereit sein. Die
Bereitschaft zahlreicher Jugendlicher zur Beteiligung an
außerparlamentarischen Aktionen fördert das politische
Bewusstsein in unserer Gesellschaft. Das langfristige Engagement
zahlreicher Jugendlicher in Menschenrechts-, Friedens- und
Umweltgruppen ist ein unverzichtbarer Teil unserer demokratischen
Kultur. Zahlreiche Mitglieder der Jugendorganisationen der Parteien
sind zugleich Mitglieder in Basisinitiativen, Vereinen und
Projektgruppen. Zugleich aber greifen sie Initiativen aus der
Gesellschaft auf und bringen diese in die innerparteiliche und
damit in den vorparlamentarischen Bereich ein. In den politischen
Jugendorganisationen lernt man die Ziele von Einpunktbewegungen im
gesamtgesellschaftlichen Kontext zu diskutieren und zu
bewerten.
Für den einzelnen Jugendlichen mag es wichtig sein, auf dem
Wege über die Jugendorganisation eine Karriere in der Politik
zu machen. Über die Attraktivität der politischen
Jugendorganisation aber entscheidet ihre Fähigkeit, als
Mittler zwischen Gesellschaft und Partei, Parlament und Regierung
die Denkweisen, Ziele und Forderungen aus der Jugend erfolgreich in
Entscheidungen der institutionalisierten Politik umzusetzen.
Umgekehrt gilt auch: Die Macht und der Einfluss der
Jugendorganisationen innerhalb ihrer Partei hängt entscheidend
von ihrem Rückhalt in den politisch bewussten Teilen der
Jugend ab.
Diese Scharnier- und Übersetzerfunktion der politischen
Jugendorganisationen ist geblieben. Die Rahmenbedingungen unter
denen sie sie ausüben müssen, haben sich seit Ende der
60er-Jahren grundlegend verändert.
Als ich 1962 als aktives Mitglied der evangelischen Jugend in
die SPD eintrat, war das auch eine Reaktion auf den Bau der
Berliner Mauer ein Jahr zuvor. Ich wollte mich als engagierter
Christ und Deutscher nicht damit abfinden, durch Mauer und
Stacheldraht von denen getrennt zu werden, mit denen ich noch im
Jahr zuvor Pläne für eine gemeinsame Zukunft entworfen
hatte. Die heutige Jugend muss demgegenüber die politischen
Antworten auf die Öffnung der Grenzen in Europa, die Chancen
und Risiken der Globalisierung und die zunehmende Entgrenzung der
Gestaltungs- und Zerstörungsmöglichkeiten durch den
technologischen Fortschritt finden.
Als ich 1969 zum Bundesvorsitzenden der Jungsozialisten
gewählt wurde, war ein großer Teil der Jugendlichen
bereits durch die Studentenbewegung politisiert worden. Unser Ziel
war, diese Jugendlichen von linkssektiererischen Gruppen weg hin zu
einer reformsozialistischen Politik zu orientieren und damit
zugleich die SPD zu verändern. Diese Chance haben wir
genutzt.
In den Jahren nach 1969 erlebte die SPD und damit die
Jungsozialisten einen bis dahin nicht gekannten Zustrom von
jugendlichen Mitgliedern. Hierzu trug die Politik der
sozialliberalen Koalition unter Führung von Willy Brandt, der
Zerfall der außerparlamentarischen Opposition, aber auch die
Attraktivität der Jungsozialis-ten bei. Ich war damals -
anders als heute - noch nicht von der Stabilität der deutschen
Demokratie überzeugt. Dazu saßen noch zu viele ehemalige
Nazis in den Bürokratien und Kabinetten. Angesichts der
Unterstützung von Diktaturen unter anderem in Griechenland,
Spanien, Portugal, Chile und zeitweilig auch in der Türkei
erschien mir eine Gleichstellung von westlicher Politik und
demokratischen Werten keineswegs selbstverständlich. Für
mich galt noch der Satz der Frankfurter Schule, dass man die
Ursachen des Faschismus nicht beschreiben kann ohne vom
Kapitalismus zu reden. Das erklärt die Vehemenz und
Schärfe, mit der wir unsere alternativen Politikentwürfe
dem damals noch dominierenden konservativen Konsens in den
deutschen Eliten gegenüberstellten.
Deutschland ist im Jahre 2005 eine stabile Demokratie, die in
Ost und West und Nord und Süd von ebenfalls stabilen
Demokratien umgeben ist. Zugleich stellen sich heute angesichts
wachsender Arbeitslosigkeit, der zunehmenden Einkommens- und
Vermögensunterschiede und offensichtlicher Umweltgefahren
Fragen nach Fehlentwicklungen in der kapitalistischen
Marktwirtschaft in Deutschland, in Europa und im globalen Kontext
noch schärfer als zur Zeit meiner politischen Jugend. Auf
diese Missstände nicht mit einem rechten oder linken
Populismus, sondern mit reformerischen und damit
handlungsrelevanten Konzepten zu reagieren, darin sehe ich die
größte Herausforderung an die heutigen politischen
Jugendorganisationen und den ihnen nahe stehenden Parteien.
Die Erfahrungen, die die politischen Jugendorganisationen heute
sammeln, werden ihr künftiges Verhalten prägen und das
politische Klima und die politische Kultur Deutschlands der
kommenden Jahrzehnte entscheidend beeinflussen.
Nach den Bundestagswahlen stehen die meisten der im Bundestag
vertretenen Parteien vor einem Generationswechsel. Wenn ich auf die
politische Generation schaue, die sich in diesen Wochen auf die
Übernahme wichtiger Ämter in den Parteien, den Fraktionen
und in den Bundes- und Landesregierungen vorbereitet, dann bin ich
zuversichtlich. Das gilt auch mit Blick auf diejenigen, die jetzt
noch in den Jugendorganisationen aktiv sind, und deren Gesichter
erst in zehn oder zwanzig Jahren einer bundesweiten
Öffentlichkeit bekannt sein werden. Dass jugendliche Politiker
auf Skepsis stoßen, ist nicht neu. Aber Skepsis ist heute
genauso wenig berechtigt wie zu der Zeit, als manche Konservativen
in mir als Jungsozialisten und später als parlamentarischem
Neuling sogar eine Gefahr für die demokratische Ordnung zu
sehen glaubten.
Der Autor war von 1969 bis 1972 Bundesvorsitzender der
Jungsozialisten. Derzeit ist er Koordinator für
deutsch-amerikanische Zusamenarbeit im Auswärtigen Amt.
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