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Susanne Balthasar
Endlich Wasserstoffautos!
"Radio Europa 2020": Jugendliche diskutieren
über ihre Visionen
Stellen Sie sich vor, Sie schalten das Radio
ein. Es rauscht und knarzt ein bisschen, aber dann hören sie
zwei Stimmen aus dem Funksalat heraus. Es sind die beiden
Moderatorinnen von "Radio Europa 2020", die Ihnen erklären,
dass Sie, der Hörer, ab jetzt nur noch Sita heißen. Sie
stutzen: Alle Hörer des ersten europaweiten Radiosenders, die
zuhause, im Auto oder im Büro, in Deutschland, Ungarn oder
Irland zuhören, werden eins. "Für alle Sitas, die auf dem
Highway Prag-Paris unterwegs sind, kommt jetzt der Verkehrsfunk:
Das Tempolimit für Autopiloten auf der Ost-West-Achse zwischen
Prag und Paris liegt heute bei 270 Stundenkilometern. Vorsicht,
wenn Sie noch mit einem Benziner unterwegs sind, Benzinautos werden
aus dem Verkehr gezogen! Wasserstoffautos dürfen weiter
fahren."
Ein vielstimmiges Kichern geht durch den
Saal, aus dem "Radio Europa 2020" live sendet. 150 Jugendliche aus
zehn Ländern amüsieren sich über ihre eigenen
Zukunftsvisionen. Vielleicht wegen des Prag-Paris-Highways,
vielleicht wegen des Wasserstoffautos, vielleicht wegen der
rabiaten Kontrollen. Zukunftsvisionen haben schließlich selbst
als Schreck-ensszenarien immer auch etwas Komisches an sich - weil
sie einerseits wie ein vorausschauender Wachtraum wirken, und weil
andererseits jeder weiß, dass fast alles, was gestern
über die Gegenwart gedacht wurde, aus heutiger Sicht
fantastisch naiv ist. Wie Jugendliche heute sich Europa in 15
Jahren vorstellen, davon erzählen sie im fiktiven "Radio
Europa 2020".
In zweitägiger Arbeit haben Jugendliche
mit Deutschkenntnissen aus Berlin, Chemnitz, Bukarest, Neapel und
anderen europäischen Städten im "Freizeit- und
Erholungszentrum" (FEZ) in Berlin das zweistündige
Radioprogramm erarbeitet. In deutschsprachigen Schulen,
Goethe-Instituten oder Fremdsprachenklassen hatten die Initiatoren
- das Auswärtige Amt und die Vertretung der europäischen
Kommission in Deutschland - für "Radio Europa 2020" geworben.
Aus den eingesandten Beiträgen wurden dann die Teilnehmer
ausgewählt und nach Berlin eingeladen. Besonders groß war
das Interesse aus den östlichen Ländern.
Zusammen haben sich die künftigen
Wähler Gedanken darüber gemacht, wie Europa in Zukunft
aussehen könnte. "50 Jahre lang war das keine Frage", sagt
Veranstalter Sascha Meinert, "es ging in Richtung Frieden,
Bewegungsfreiheit und Wohlstand. Jetzt nimmt die Skepsis in allen
Ländern zu. Eine neue Idee oder ein neues Bewusstsein
müsste kommen." Oder überhaupt ein Bewusstsein. Denn das
Interesse für Europapolitik hält sich bei den
europäischen Bürgern von morgen Länder
übergreifend in Grenzen. Das räumen auch einige der
Teilnehmer ein: Wegen des internationalen Projektes hätten sie
sich beworben; dass es dabei um die EU ginge, sei zweitrangig
gewesen. Natürlich ist der internationale Austausch auch eines
der Ziele. Aber darüber hinaus sollen sich die Jugendlichen
mit der EU und möglichen Entwicklungen auseinander setzen. Die
oft als bürokratisch und dröge erlebte Brüsseler
Welt soll, so stellen es sich die Veranstalter vor, durch die
Matrix Radio teenagerfreundlich werden.
Kein Strom in den USA
Die Vorbereitungen für die Sendungen
sind aufwändig: Die "Radio Europa"-Macher sitzen in den
einzelnen Redaktionsräumen und filtern - eingeteilt nach den
Themen Europapolitik, Weltpolitik, Mensch und Umwelt, Kultur und
Lifestyle - aus den aktuellen Nachrichten diejenigen heraus, die
auch in 15 Jahren noch bedeutsam sein könnten. Wohin wird sich
das Thema einer Meldung in 15 Jahren entwickeln? Die Redaktion
Weltpolitik pinnt ihren Blick auf die Zukunft in Stichworten an die
Wand: Weil das Öl immer knapper wird, wird der Ölpreis
weiter steigen; in der globalen Politik wird Asien immer
mächtiger; die EU wird sich Richtung Osten erweitern und ihre
Verfassung annehmen.
Paul aus Berlin und Petr aus Bukarest
kümmern sich um das Thema Öl: Was könnte in 15
Jahren darüber berichtet werden und in welcher Form? In Form
eines Interviews, als Nachricht, Satire, Reportage oder Bericht?
Paul und Petr entscheiden sich für den Bericht eines
Reporters. In 15 Jahren also wird Reporter Petr vom internationalen
Energiegipfel berichten. Die beiden haben ein Manuskript
geschrieben und den Radiobeitrag im Studio eingesprochen. Am
letzten Tag wird Petrs Bericht in der Live-Sendung eingespielt.
Während im Hintergrund die eingespielte Geräuschkulisse
des Gipfels leise rumort, berichtet Petr von einem Krieg der USA
gegen den Iran und von einer Energieknappheit, die selbst die USA
zur Stromrationierung zwingt. Lösungsalternativen müssen
her, so viel steht auf dem internationalen Energiegipfel 2020 fest.
Ende des Berichtes.
Die Moderatorinnen oben auf der Bühne
schalten zurück auf den Diskussionsstand der Gegenwart. Links
neben der Bühne sitzen "Europaabgeordnete" aller Parteien. Sie
sind die Gäste in der Livesendung von "Radio Europa 2020".
Fishbowl heißt die Runde, es ist eine Art Zeitmaschine, die
die "Radio-Europa 2020"-Hörer und -macher zurück ins Jahr
2005 katapultiert. Wie hat man die Energiekrise und andere Themen
damals gesehen? Einer der Gäste wiegelt ab: "Wir haben
früher auch ?1984' gelesen. Aber so schlimm, wie man es sich
vorstellt, kommt es am Ende doch nie."
Aber was ist schlimm? Auf "Radio Europa"
läuft viel Musik; gut gelaunte Moderatoren quatschen. Es geht
um Energiekrisen und Wasserrationierung; homosexuelle Väter in
Bukarest tauchen auf und Quizfragen für Anrufer; die
Abschaffung der Sozialhilfe wird diskutiert und über den
Prototyp des Überlebenskünstlers geredet, der sich ohne
Stütze mit seinem Gemüsegarten durchschlägt. Auch
ein besonderes Alter Ego spielt eine Rolle, eine zweite
Identität, die aus den Spuren jedes Menschen im Internet
geboren wird.
So bunt und vielschichtig und
widersprüchlich die Zukunft im Radio ist - drei Konstanten
tauchen immer wieder auf: Das Zusammenwachsen der Länder und
Nationen als Bereicherung auf der einen Seite. Auf der anderen
Seite die Ökonomisierung des Lebens und Europa als Festung.
Ein Beispiel ist das Hörspiel über die Einkindfamilie
Schulz, die Opa im Gefängnis besucht. Herr und Frau Schulz
müssen am Arbeitsplatz so flexibel sein, dass nicht mehr das
Kind an erster Stelle steht. Den Job aufgeben kann Frau Schulz aber
auch nicht, denn dann wäre zu wenig Geld da. Früher war
alles besser, mault der Opa und meint damit: Heute ist alles
besser. Es könnte in Zukunft also noch dicker kommen. Wir
müssen schließlich Geld verdienen, sagen die Schulzes -
und viele andere Interviewgäste - im Europaradio immer
wieder.
Viel ist auch über allgegenwärtige
Kontrollen zu hören. Im Inneren zum Beispiel die der
Wasserpolizei, die die Rationierung dieses wichtigsten
Lebensmittels überwacht, und die der Arbeitslosen, die
"big-brother-mäßig" kontrolliert werden. Nach außen
die Abschottung der Festung Europa. Das solle man nicht zu negativ
sehen, wird die Frage der Kontrolle der Außengrenze
später einer der Europapolitiker in der Fishbowl kommentieren.
"Das kommt auf die Perspektive an", gibt einer der rumänischen
Jungen zurück, "wenn Sie mit dem Zug von der Ukraine nach
Rumänien fahren, dann wird auf Druck der EU jede Ritze
kontrolliert. Vom Rand sieht Europa anders aus."
Deshalb gibt es ja auch Projekte wie "Radio
Europa 2020", in dem sich Jugendliche mit unterschiedlichen
Hintergründen begegnen. Damit sie den Blickwinkel aus einer
anderen Ecke Europas kennen lernen, der unter Umständen ein
ganz anderer ist. Die Perspektiven verschieben sich übrigens
nicht nur durch räumliche Entfernungen, sondern auch durch die
Zeit. Ein Fischbowl-Politiker freut sich über die European
Army, die sich 2015 wegen der Krieges zwischen den USA und dem Iran
formieren wird: "Das bedeutet, dass Europa weiter zusammen
wächst." Einer der jungen Radiomacher staunt: "Für uns
war die European Army ein Schreckensszenario." Susanne Balthasar
arbeitet als freie Journalistin in Berlin.
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