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Johanna Metz
Ein Blick in den Rückspiegel
Schülerprojekt zu NS-Verbrechen
Lüneburg, zu Beginn der 40er-Jahre: Die Lokalzeitungen sind
voll mit Jubelmeldungen über gewonnene Seeschlachten und die
Erfolge der deutschen Streitkräfte. Einzelne Artikel huldigen
Aufbau und Erhalt "einer gesunden Jugend" als Bestandteil der
deutschen "Volksgemeinschaft". Daneben stehen Todesanzeigen
für gefallene Soldaten und Meldungen über die Vergabe von
Lebensmittelkarten. Kriegsalltag in Nazi-Deutschland.
Die Jugendinitiative STEP 21 wollte einmal hinter diese allzu
glatte Fassade der NS-Propagandamaschine sehen. Sie startete vor
acht Monaten das Projekt "Weiße Flecken" und rief Schüler
in Deutschland und Polen dazu auf, an einer gemeinsamen Zeitung zu
arbeiten. Sie sollte die "weißen Flecken" der Vergangenheit
wieder mit Druckerschwärze füllen und offenlegen, was
wirklich hinter den Meldungen damaliger Lokalzeitungen steckt. 15
Teams aus 14 Städten fanden sich schnell zusammen,
Schüler aus Ulm, Jena, Dresden, aber auch aus Krakau, Lubin
und Ciezkowice, die Monate lang recherchierten, texteten und mit
Zeitzeugen redeten.
Herausgekommen ist eine eindrucksvolle Arbeit, in deren
Mittelpunkt bis heute kaum noch bekannte Verbrechen stehen. Selbst
in ihrer unmittelbaren Nähe, in ihren Heimatorten und
Gemeinden, haben die Schüler NS-Verbrechen aufgedeckt und
untersucht - und sind dabei nicht selten auf Unwissenheit,
Verdrängung und Ignoranz gestoßen. Bundespräsident
Horst Köhler, Schirmherr der STEP 21-Initiative, war
angesichts des Engagements der Jungredakteure voll des Lobes: Die
Ergebnisse ihrer Recherchen lieferten "Informationen, die nun nicht
mehr verloren gehen können", sagte er, und nannte das Projekt
einen "überzeugenden Beitrag" zur Auseinandersetzung mit der
Geschichte. Köhler war am 23. Januar der erste, dem die
Jugendlichen eines von 30.000 gedruckten Exemplaren der Zeitung
überreichten. In den nächsten Wochen sollen sie an
Schulen verteilt werden.
Die Todesmaschinerie von Lüneburg
Das "Weiße Flecken"-Team erzählt darin auch die
Geschichte Lüneburgs aus einer anderen, nicht durch
Nazi-Propaganda geschönten Perspektive. Denn zum
"alltäglichen" Krieg gehörten hier auch jene Morde, die
in der Landes-, Heil- und Pflegeanstalt verübt wurden. Hinter
ihren Mauern wurden Menschen getötet, die nach Ansicht der
NS-Ideologen als "lebensunwert" galten: Geistig Behinderte,
verhaltensauffällige Kinder, psychisch Kranke. Allein in der
"Kinderfachabteilung" tötete ein Arzt bis 1945 über 300
Kinder durch Todesspritzen oder Opiate. Andere Opfer wurden in
Todesbussen durch die Stadt gefahren und über ein
geschlossenes Abgassystem erstickt. Den Lüneburgern blieb das
nicht verborgen: Schließlich starben immer öfter
urplötzlich Verwandte, Freunde und Kollegen, Angestellte des
Krankenhauses begingen Selbstmord. Meist wusste das Personal vor
Arbeitsantritt nicht, welche Aufgabe es erwartete.
Doch was in der Bevölkerung längst mehr als ein
Verdacht ist, findet in den Nachrichten der "Lüneburgschen
Anzeigen" nicht statt: "Wir fanden über die
Euthanasie-Verbrechen in Lüneburg keine Zeitungsberichte",
sagt die 16-jährige Magdalena Blender, und fasst damit eine
Erfahrung zusammen, die alle ihre 80 Mitstreiter aus Polen und
Deutschland während des Schülerprojektes "Weiße
Flecken" machten: Wenn lokale Blätter überhaupt über
die Verbrechen während der NS-Zeit berichteten, wurden die
Nachrichten über sie meist manipuliert.
Dieser Tatsache wollten die Schüler auf den Grund gehen.
Nach Schulschluss oder an den Wochenenden haben sie sich durch die
Archive und Bibliotheken ihrer Heimatstädte gearbeitet, haben
Regionalzeitungen ausgewertet und Zeitzeugen befragt und
bemerkenswerte Geschichten zusammengetragen. Die Geschichte des
Lagers Rollwald in Nieder-Roden etwa, von dessen früherer
Existenz nur wenige Bewohner überhaupt wissen. Lediglich ein
kleiner, verwitterter Gedenkstein erinnert noch an die Verbrechen,
längst ist die Fläche wieder bebaut. Dabei mussten die
Inhaftierten ab 1935 sogar den umliegenden Kiefernwald roden, um
Platz für noch mehr Häftlinge zu schaffen. In den
Holzbaracken wurden bis zu 1.500 Arbeitsgefangene untergebracht.
Nicht wenige starben unter den katastrophalen Bedingungen.
Dennoch hat niemand über das Lager gesprochen; während
des Krieges nicht, weil viele Angst hatten, Ärger mit den
Nazis zu bekommen - nach dem Krieg nicht, weil kaum einer in der
Bevölkerung "noch irgendetwas mit dem Nazi-Kram zu tun haben"
wollte, wie eine Zeitzeugin den Jugendlichen erzählte. Die
Schüler aus Seligenstadt, die die Geschichte des Lagers
für das Projekt aufgearbeitet haben, mussten beim Studieren
der Presse zudem feststellen: "Selbst im näheren Umkreis wurde
nach Kriegsende nicht an die Opfer erinnert. Stattdessen regte man
sich über den Verlust des Waldes und das daraus entstehende
Defizit in der Stadtkasse auf." Darüber, wer den Wald roden
musste und unter welchen Umständen, verloren die Zeitungen
noch Mitte der 50er-Jahre kein Wort.
Die 19-jährige Milena Nestor aus Pforzheim hat aus solchen
Erfahrungen vor allem eines gelernt: "Glaub nicht alles, was Dir
vorgekaut wird, sondern mach Dir selbst ein Bild." Nicht alles, was
in der Zeitung stehe, müsse so auch richtig sein, sagt die
Schülerin. Und auch das Dresdner Team, das die Zerstörung
der Semper-Synagoge in der Pogromnacht von 1938 einmal im Spiegel
der Dresdner Presse betrachtete, ist sich sicher: "Wir lesen jetzt
kritischer Zeitung."
Mitgenommen haben alle zudem eine Gewissheit: Es ist nicht
möglich, in Deutschland zu leben, ohne auf die
NS-Vergangenheit zurückzuschauen. Jeder ist dafür
mitverantwortlich, Vergangenheit und Zukunft hängen eng
miteinander zusammen. Denn, so schreiben es Ann-Christin Heinig und
Tobija Saßnik in ihrem Leitartikel: "Man muss in den
Rückspiegel schauen, um die Spur wechseln zu können."
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