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Debatte
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Wortlaut der Reden

Eberhard Diepgen,
Regierender Bürgermeister von Berlin
Dr. h.c. Johannes Rau,
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! »Berlin war einst das Symbol des Kalten Krieges. Nach dem Fall der Mauer ist Berlin zum Symbol der Hoffnungen geworden, die sich mit dem Aufbruch eines freien und demokratischen Europa in eine gemeinsame friedliche Zukunft verbinden.« -- Mit diesen Worten hat Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher gestern die Tagung des Außenministerrats der KSZE im Reichstag in Berlin eröffnet. Ich glaube, daß ist die Einordnung, die wir für die Debatte und für die Entscheidung, die heute im Deutschen Bundestag getroffen werden muß, vornehmen müssen.

Es geht nicht um die Frage, welche Stadt welche Standortvorteile im einzelnen hat. Bei der Bestimmung des Parlaments- und Regierungssitzes geht es um die Verwirklichung der Einheit, und es geht um die Zukunft unseres Landes und damit um die weitere Entwicklung in Europa. Welche Entscheidung weist hier den richtigen Weg? Es geht um die Frage, ob die Deutschen die innere Vereinigung beider Teile ihres Landes oder nur eine vergrößerte Bundesrepublik Deutschland wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Mich bewegt dabei die Frage: Soll es eine neue deutsche Ungleichheit geben; soll sie festgeschrieben werden? Jedenfalls für die Menschen im Osten Deutschlands stellt sich die gegenwärtige Situation doch wie folgt dar: Von uns im Osten wird eine Umstellung in fast allen Lebensbereichen erwartet. Bei uns wird »abgewickelt«, dieser fürchterliche neue deutsche Begriff!

(Beifall des Abg. Peter Conradi [SPD])

1 Million Arbeitslose suchen Beschäftigung; 2 Millionen stehen in Kurzarbeit, und sehr viele bangen um ihren Arbeitsplatz.

In Bonn, hier im deutschen Westen, aber bildet man Menschenketten als Protest gegen die scheinbare Zumutung, in fünf oder zehn Jahren eventuell mit seinem sicheren Arbeitsplatz nach Berlin umziehen zu sollen.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Darum geht es nicht!)

Was soll der Mensch, was sollen die Bürgerinnen und Bürger in Berlin und in den neuen Bundesländern von dieser Situation halten? Das ist die Frage, die ich mir stelle.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Wie sollen die Menschen, die in Berlin geblieben sind und sich über

40 Jahre lang weder durch die Blockade -- die Luftbrücke war übrigens Ausgangspunkt der Westbindung, Ausgangspunkt der Versöhnung des Nachkriegsdeutschland mit der westlichen Wertegemeinschaft -- noch durch das Chruschtschow-Ultimatum, noch durch den Mauerbau oder die täglichen Schikanen durch die DDR-Organe davon haben abbringen lassen, jetzt begreifen, daß das mit der Hauptstadtfunktion mit all dem, was in der Vergangenheit gesagt worden ist, was ihnen als Selbstverständnis deutscher Politik auch für ihr eigenes Überleben gesagt worden ist, nicht mehr wahr sein soll?

Ich glaube, meine Damen und Herren, wenn Berlin jetzt plötzlich die Hauptstadtfunktion aberkannt und in einem Akt der Geschichtsverkürzung aus dem Provisorium Bonn eine echte Hauptstadt werden soll, ist das wenig verständlich. Es ist die Verlagerung des Selbstverständnisses deutscher Politik aus der Mitte Europas in den Westen Europas, aus dem Osten Deutschlands in den Westen Deutschlands mit all den sozialen Fragen, die ich eben beschrieben habe. Mit dem Beharren auf Bonn wird ein westdeutsches Selbstverständnis auf das ganze Deutschland übertragen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Meine Damen und Herren, bei der Diskussion um Regierungs- und Parlamentssitz handelt es sich eben nicht um einen Städtewettbewerb im rivalisierenden Sinne, wo Eigennutz und Präsentation den Ausschlag geben können. Auch regionalpolitische Sorgen, so ernst man sie nehmen muß, können letztlich nicht entscheidend sein. Denn sie sind immer, insbesondere in einer zeitlichen Staffelung, aufzufangen.

Hier in der Debatte ist schon deutlich geworden, daß die Befürchtungen vor der Megastadt falsch sind, daß die Behauptungen über einen neuen Zentralismus falsch sind, daß diese Diskussion bei den Vergleichen zwischen Paris, Madrid und Berlin beispielsweise nicht aufnimmt, daß es in der Bundesrepublik Deutschland funktionsfähige Länder gibt. Die gibt es in Frankreich nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Deswegen meine Bitte: Bleiben Sie bei intellektuell redlichen Vergleichen, wenn es um Zentralismus geht!

Ich bin ausgesprochen dankbar, daß übrigens in beiden Anträgen, sowohl für Bonn als auch Berlin -- ich verkürze das so --, die Vorstellung des Berliner Senats aufgenommen worden ist, eine Föderalismuskommission einzusetzen, um sich darum zu bemühen, daß in alle neuen Bundesländer Funktionen bundesstaatlicher Ordnung verlagert werden, im Sinne eines wirklich lebendigen Föderalismus.

Das ist die Frage, die sich stellt, und nicht die Frage, ob im Rahmen eines Föderalismus die Funktion des Bundesstaates, der Regierung, die Fragen der notwendigen Kooperation zwischen Verfassungsorganen unbedingt neu entschieden werden müssen. Meine Damen und Herren, das ist eine Verkürzung der Föderalismusdiskussion.

Bei den Argumenten, die für Berlin sprechen, steht für mich das Thema Glaubwürdigkeit an oberster Stelle. Hier ist schon viel dazu gesagt worden. Ich finde, politische Bekenntnisse über vierzig Jahre dürfen nicht durch ein Ereignis, das man angestrebt hat, zu Wegwerfartikeln werden. Natürlich -- das sage ich insbesondere den Jüngeren, die immer so argumentieren -- muß man Politik auch überprüfen können. Jedermann kann seine Meinung ändern, aber eben nicht dann, wenn sich der Wind dreht, sondern nur dann, wenn sich entscheidende Fakten ändern, und nicht, wenn die entscheidenden Fakten eintreten. Das ist der Punkt der Glaubwürdigkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Zu den Fragen der Verwirklichung der inneren Einheit -- das ist für mich das zweite Argument -- ist hier schon viel gesagt worden. Ich will nur noch auf eines hinweisen. In Berlin erlebt man nun wirklich die Probleme. Auf tausend Quadratkilometern erlebt man die Probleme, die es ansonsten in Europa zwischen Frankreich und Polen gibt und in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Aachen und Görlitz. Mir kommt es aber noch auf einen anderen Punkt an, und ich bitte, daß Sie ihn bei Ihrer Entscheidung wirklich beachten.

Die bundesdeutsche Wirklichkeit sieht doch so aus: Im Westen konzentrieren sich kraftvolle Zentren von Verwaltung, Wirtschaft, Finanzen und Wissenschaft, und im Osten wird »abgewickelt«, und er soll sich mit Titeln und Filialen begnügen. Das ist Ungewichtigkeit in Deutschland -- das ist Ungewichtigkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Ich will hier nicht zu den Behauptungen einer Verelendung der Bonner Region etwas sagen. Ich empfehle nur allen, die Werbeschriften der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen zu lesen und die Hälfte davon zu glauben. Dann werden Sie dort das entscheidende Problem nicht sehen.

(Widerspruch des Abg. Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD])

Meine Damen und Herren, das dritte Argument ist für mich die europäische Entwicklung: Der Bundeskanzler hat hier schon darauf hingewiesen, daß wir diese Entscheidung natürlich im Rahmen der Gesamtentwicklung nach Europa zu treffen haben. Für dieses Europa hat sich mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes eine neue Ära der Gemeinsamkeit herausgebildet; sie hat begonnen. Berlin ist schon durch seine Lage für diese gesamteuropäische Zusammenarbeit prädestiniert. In den vergangenen 40 Jahren hat Berlin seine politische Bedeutung als Hauptstadt unterstrichen, und es hat seine geographische Lage, die beide Teile Deutschlands zusammengehalten hat. Es war mehr denn je der Balancepunkt deutscher Politik. Mit einer Entscheidung für Bonn aber würde dieser Balancepunkt nach Westen an die Rheinschiene verlagert werden. Meine Damen und Herren, eine solche Verlagerung würde den derzeitigen Entwicklungen in Europa widersprechen. Gerade jetzt in dieser Entwicklung wäre es in einer hoffnungsvollen Phase der Öffnung nach Mittel- und Osteuropa wirklich ein falsches Signal.

Die Entscheidung gegen Berlin würde die Entwicklung der Stadt sicherlich erschweren. Für mich ist das, trotz meiner Funktion als Regierender Bürgermeister dieser Stadt, nicht das allein Entscheidende. Wichtig ist: Die Entscheidung des Bundestages muß eine einigende und dabei befriedende Wirkung haben. Sie muß für die Zukunft tragfähig sein.

Ich werbe hier für Berlin. Ich möchte mich aber auch bei denjenigen bedanken, die sich um einen Konsens bemüht haben. Ich weiß, wie schwierig das war. Ich glaube, es ist wichtig, gerade hier auch noch einmal darauf hinzuweisen, daß eine tragfähige Lösung von möglichst vielen wirklich innerlich akzeptiert werden muß.

Ich möchte Sie, meine Damen und Herren, aus den Argumenten -- ich habe nur drei genannt -- einladen, auffordern, sich für Berlin zu entscheiden. Diese Stadt Berlin ist sicher voller Gegensätze, voller Spannungen und Widersprüchlichkeiten; aber, meine Damen und Herren, gerade deswegen ist sie nicht der Hort von Zentralismus, gerade deswegen, durch

ihre Vielfalt, ist sie nicht das Beispiel einer Megastadt. Aber, meine Damen und Herren, diese Gegensätze, Spannungen und Widersprüchlichkeiten sind der Stoff, aus dem politische Kreativität entsteht. Das ist für Regierungs- und Parlamentssitz auch etwas Gutes.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile nunmehr das Wort dem Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Johannes Rau.

Quelle: http://www.bundestag.de/bau_kunst/berlin/debatte/bdr_021
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