Deutscher Bundestag
English    | Français   
 |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ  |  Druckversion
 
Startseite > Architektur und Kunst > Bundeshauptstadt Berlin > Berlin-Debatte, Übersicht >
Debatte
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

Wortlaut der Reden, die zu Protokoll gegeben wurden

Franz Müntefering, SPD Dr. Christian Neuling, CDU/CSU >>

Bei aller unvermeidlichen Kontroverse gibt es auch in dieser Sache -- der Frage nach Parlaments- und Regierungssitz -- wichtige Aspekte, bei denen wir im Parlament Einvernehmlichkeit betonen können und sollten. Drei will ich nennen:

Erstens: das Recht, sich eine Meinung zu bilden und nicht schon immer eine gehabt zu haben, das Recht, Kompromisse zu suchen und nicht kompromißlos zu sein. -- Es war richtig, in Gruppen, in den Fraktionen und fraktionsübergreifend zu diskutieren und Wege zur tragfähigen Lösung zu suchen. Bis zur letzten Minute. Die Geschwindigkeit, mit der manche Leitartikler nach wenigen Tagen von uns eine Meinung verlangten und die Suche nach Kompromissen lächerlich zu machen versuchten, spricht nicht für sie. Wir haben uns hier eine komplizierte Aufgabe, für die es kein Lehrbuch gibt, nicht leichtgemacht. Und wir haben uns dazu bekannt, daß Kompromisse zu suchen ein Teil Demokratie ist.

Zweitens. Einig sein können wir uns auch in der Toleranz denen gegenüber, die in der Sache anderer Meinung sind als wir. Dies ist eine Sachentscheidung, keine auf Leben und Tod. Man darf unterschiedlicher Meinung sein. Da bleibt im übrigen viel Arbeit für die kommende Zeit. Man muß ja wohl vermuten, daß morgen manche Blätter und Sendungen mit Trauerrand erscheinen. So oder so. Zeigen wir ihnen gemeinsam, daß dies Unsinn ist!

Dritte mögliche Einvernehmlichkeit. Viele Prominente haben sich zu Wort gemeldet. Das ist ihr gutes Recht; auch Prominente haben in der Sache eine Stimme. Aber nur eine. Die Interessenlage der Nichtprominenten ist existentieller als die der Prominenten, und sie ist zahlreicher. Das ist im Bundestag so, das wäre auch bei einem Volksentscheid so gewesen.

Bei der Entscheidung in der Sache ist mir eines besonders wichtig: die Orientierung am Heute, nicht am Vorgestern und nicht am Übermorgen, die Orientierung nicht an dem, was in Geschichtsbüchern stand, und dem, was irgendwann in Geschichtsbüchern stehen wird, sondern an der konkreten Betroffenheit der Menschen, die heute und morgen leben, und an der Funktionsfähigkeit des Parlaments.

Der Einigungsvertrag bewegt sich genau auf dieser pragmatischen Ebene. Er stellt fest, daß Berlin Hauptstadt ist, und überläßt es ausdrücklich den gesetzgebenden Körperschaften, Sitz von Parlament und Regierung zu bestimmen.

Und da spricht das meiste für Bonn. Nach Jahrzehnten als Provisorium hat Bonn inzwischen die Qualität eines voll betriebsfähigen Parlaments- und Regierungssitzes. Das klingt nach Routine, und so ist es auch gemeint. Nur Dilettanten halten Routine für eine vernachlässigbare Größe. Die Vorstellung, in dieser Phase des Einigungsprozesses komme es vor allem darauf an, das funktionsfähige System Bonn schnellstmöglich aufzugeben, um in Berlin sich neu einzuüben, ist doch eher eine Mischung aus Pfadfinderdenken und Leichtfertigkeit. Bonn hindert niemanden, zu wissen, was in den neuen Ländern erforderlich ist und was von hier aus mit den Verantwortlichen in Ländern und Gemeinden getan werden muß. Solide Routine ist eben nicht die Alternative zu Kreativität, schon eher ihre Voraussetzung.

Das gilt auch für den Trennungsvorschlag von Herrn Geißler. Die Fühlungsnähe von Parlament und Regierung kann man leicht karikieren. Wenn sie fehlt, macht das für beide Seiten die praktische Arbeit nicht leichter. Wenn man ein Haus gerne in zwei Städten gleichzeitig bauen will, kann man ja wirklich der Meinung sein wie Herr Geißler: Man läßt das Parterre in Bonn und baut das Obergeschoß in Berlin. Ich habe die Sorge, daß das Obergeschoß in Berlin ziemlich in der Luft hängt und daß Geißlers Vision von der Befreiung des Parlaments vom Zugriff der Regierung im Wolkenkuckucksheim landet.

Nun hat sich ja in den vergangenen Wochen die Erkenntnis verfestigt, daß ein Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin nicht früher als in acht bis zehn Jahren erfolgen kann. Die Stellungnahmen von Ministerien und der Verwaltung und von fachkundigen Mitgliedern des Bundestages selbst waren da in weitgehender Übereinstimmung. Nur wenige glauben wohl noch an die Realisierbarkeit eines schnellen Umzugs. Auch das spricht für Bonn.

Der Bundestag wird -- wie immer heute entschieden wird -- die nächsten sechs bis acht Jahre noch in Bonn arbeiten. In dieser wichtigen Phase auf dem Wege zur sozialen Einheit Deutschlands, der Phase des ökonomischen und ökologischen Zusammenwachsens sind Parlament und Regierung in Bonn. Das ist so.

Das heißt: Bonn muß funktionsfähig bleiben. Und das heißt: Eine Entscheidung heute gegen Bonn ist für den Einigungsprozeß kein Vorteil, schlimmstenfalls sogar kontraproduktiv.

Die dringliche Frage des Tages ist eben nicht, ob wir heute entscheiden, daß in 10 Jahren Parlament und Regierung nach Berlin ziehen. Die Frage ist, was wir 1991, 1992, 1993 usw. für die Menschen tun können, die in Suhl leben, in Greifswald, in Rostock, in Dresden, in Leipzig, in Halle, in Magdeburg, auch in Berlin, in der Niederlausitz, in Frankfurt/Oder.

Im nationalen Aufbauplan der Sozialdemokraten und im Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost der Koalition sind die Dinge beschrieben, um die es geht: Arbeitsplätze schaffen, Industriestandorte sichern, Qualifizierung fördern, Verwaltungskraft stärken. Von Parlaments- und Regierungssitz steht nichts drin. Das ist auch erklärlich. Denn auch in den Strukturkrisen in der alten BRD kam der Gedanke nie auf, daß der Bundestag nach Emden, Gelsenkirchen, Bremerhaven oder in den Bayerischen Wald ziehen solle, sozusagen als Symbol.

Übrigens kam auch nie der Gedanke auf, die Schwächen und Unzulänglichkeiten der alten Bundesrepublik hätten etwas mit dem Sitz Bonn zu tun. Von Bonn aus kam es zur Westintegration, von Bonn aus wurden die Verträge mit Warschau und Moskau vorbereitet.

Die alte Bundesrepublik wird nicht in die Geschichte eingehen als die Bonner Republik; denn Bonn hat Dominanz nie beansprucht und nie ausgeübt. Aber die schlichte Wahrheit ist: Als dieses Land sich Wohlstand schuf, als es liberaler wurde und sozialer, arbeiteten Parlament und Regierung in Bonn. Bonn ist kein Ersatzteil, das man mal eben beiseite legen kann, wenn die Zeit gekommen ist.

Die Generation der 50jährigen und Jüngeren geht mit Symbolen vorsichtig um. Das gilt auch für den Regierungssitz. Und ich muß gestehen: Ich kann das so schlecht nicht finden.

Ob es gelingt, in unserem Lande mit der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität umzugehen, das hängt nicht vom Sitz von Parlament und Regierung ab. Der Fall der Mauer war das Zeichen der Freiheit. Zu unserer Freiheit gehört es heute, uns frei entscheiden zu können, wo Parlament und Regierung sitzen sollen.

Gerechtigkeit und Solidarität werden sich daran messen lassen müssen, ob nach der staatlichen Einheit die soziale Einheit Deutschlands gelingt. Da geht es um ganz konkrete Dinge des Alltags, nicht um symbolhafte Versprechungen.

Dr. Christian Neuling, CDU/CSU >>
Quelle: http://www.bundestag.de/bau_kunst/berlin/debatte/bdr_162
Seitenanfang [TOP]
Druckversion Druckversion