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Wortlaut der Reden, die zu Protokoll gegeben wurden

Dr. Jürgen Starnick, FDP Ludwig Stiegler, SPD >>

Es war bislang die unstrittige Rechtsauffassung in der Bundesrepublik Deutschland, daß zunächst sie und nun das wiedervereinigte Deutschland Rechtsnachfolger des Völkerrechtsobjektes Deutsches Reich ist. Hauptstadt des Deutschen Reiches war Berlin und ist es geblieben. Es gibt keine Gesetze und keinen Beschluß, wodurch dies geändert worden wäre. Folgerichtig wurde Bonn als Regierungssitz als Provisorium für den Teilstaat Bundesrepublik bis zur Wiedervereinigung betrachtet. Nicht nur der Bundestag hat wiederholt diese Auffassung vertreten.

Auch die Westmächte, die NATO, der Nordatlantikpakt und indirekt sogar die Sowjetunion haben Berlin als Hauptstadt des deutschen Gesamtstaates gesehen.

Am 3. November 1949 hat der Bundestag beschlossen, daß die leitenden Bundesorgane und der Bundestag nach Berlin gehen, sobald allgemeine, freie, gleiche, geheime und direkte Wahlen in ganz Berlin und der Sowjetischen Besatzungszone durchgeführt sind. Diese Voraussetzung wurde am 2. Dezember 1990 erfüllt. In unzähligen Aussagen aller führenden Politiker, in mehrfachen Parlamentsbeschlüssen und in wesentlichen politischen Willensbekundungen der Parteien ist immer für den Fall der Wiedervereinigung Berlin als deutsche Hauptstadt vorgesehen, ohne dabei eine Einschränkung in der Funktion zu machen.

Die Abkehr von diesen Willensbekundungen erschüttert die politische Glaubwürdigkeit in ihren Grundfesten. Selbst das Ausland würde Zweifel an der Verläßlichkeit bisheriger politischer Aussagen der Bundesrepublik bekommen.

Der Einigungsvertrag erklärt folgerichtig Berlin zur deutschen Hauptstadt. In der deutschen Sprache bezeichnet der Begriff Hauptstadt den Sitz jener Organe, die das Haupt des politischen Systems darstellen. In der parlamentarischen Demokratie sind dies in erster Linie die gewählte Volksvertretung und die Regierung. Eine vom Sitz der Verfassungsorgane getrennte Repräsentationshauptstadt ist keine Hauptstadt, sondern politische Lüge.

Deutschland hat staatsrechtlich gesehen seine Einheit am 3. Oktober 1990 wiedererlangt. Nach innen sind aber noch ungeheure Kraftanstrengungen notwendig, um gleiche Lebensverhältnisse zu erreichen. Erst dann kann von einem vereinten Volk gesprochen werden. Es ist deshalb die wichtigste politische Aufgabe dieses Jahrzehnts, die beiden Teile gesellschaftlich, wirtschaftlich, rechtlich und kulturell zusammenzuführen.

An keinem anderen Ort als Berlin werden die dabei auftretenden Probleme deutlicher. Eine Entscheidung gegen Berlin wäre nicht nur eine Entscheidung für das durch Bonn repräsentierte Lebensgefühl des westlichen Teilstaates, es wäre auch eine Flucht vor der Wahrnehmung der Probleme, die vor uns liegen, und ein Rückzug in die gewohnte politisch-administrative Routine.

Deutschland bliebe auf lange Zeit faktisch geteilt, wenn neben dem industriellen und finanziellen Schwergewicht auch das politische im Westen bliebe. Bei allen finanziellen Anreizen für Investitionen in den neuen Bundesländern fehlt das entscheidende psychologische Moment, sich bei längerfristig wirkenden Unternehmensentscheidungen ostwärts zu orientieren. Die fünf neuen Länder würden -- von wenigen Regionen abgesehen -- eine wirtschaftlich unterentwickelte Region bleiben, und Berlin bliebe auf lange Zeit auf finanzielle Hilfe angewiesen. Das alles wäre nicht preiswerter, sondern teurer.

Die Wiedervereinigung Deutschlands eröffnet die Chance für die Wiedervereinigung Europas. Die Öffnung Westeuropas nach Osten und die Erweiterung der EG bedarf der Brückenfunktion Berlins und der vorbildhaften Entwicklung Berlins und der diese Stadt umgebenden neuen Bundesländer. Berlin würde als wirkliche Hauptstadt ein natürlicher Anziehungs- und Ausgangspunkt für gesamteuropäische Initiativen und Entwicklungen sein und so den Weg zu einem gemeinsamen Europäischen Haus besser unterstützen können als jeder andere Ort in Deutschland.

Berlin ist auch der einzige Ort, der die fortwährende Identitätskrise der Deutschen mit ihrer Geschichte einschließlich der jüngsten Geschichte der staatlichen Teilung überwinden hilft. Mit dieser Stadt verbinden sich nicht nur dunkle Punkte der deutschen Vergangenheit, sondern auch der Überlebens-, Freiheits- und Einheitswille der Deutschen. Berlin ist wegen seiner Geschichte der Ort, mit dem sich die Bürger sowohl der alten wie der neuen Länder gleichermaßen identifizieren können. In allen Höhen und schrecklichen Tiefen war Berlin die wirkliche Hauptstadt. Hier erfüllte sich Deutschlands Schicksal ebenso richtungsgebend wie beispielhaft.

Geschichte wird am besten dort bewältigt, wo sie gemacht wurde.

Berlin will nicht Luxushauptstadt werden! Zudem herrscht in Berlin nicht die Vorstellung, daß die Bundesregierung mit ihren Ministerien bis zum letzten Mann und schon gar nicht mit den dem Bund zugeordneten und nachgeordneten Einrichtungen umziehen soll. Für die Ansiedlung von Parlaments- und Regierungsfunktionen stehen im Innenstadtbereich ausreichend freie und bebaute Flächen zur Verfügung.Gleiches gilt für die Unterbringung von diplomatischen Vertretungen und der Vertretungen der Bundesländer. Der Bund ist in Berlin der größte Grundbesitzer. Ihm gehören nicht nur die Gebäude der Regierung und weiterer Staatsorgane der DDR. Er kann auch über die Gelände und Gebäude verfügen, die zur Zeit noch von den Alliierten genutzt werden. In Bonn werden für Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat derzeit 580 000 qm Nutzfläche beansprucht; in Berlin könnten sofort 390 000 qm zur Verfügung gestellt werden, für die je nach Gebäudezustand für Sanierung, Instandsetzung und Standardverbesserung etwa 3 Milliarden DM aufzuwenden wären. Diese 390 000 qm Hauptnutzfläche reichen im Grunde für einige Jahre aus, um das Regierungsgeschäft bewältigen zu können.

Ludwig Stiegler, SPD >>
Quelle: http://www.bundestag.de/bau_kunst/berlin/debatte/bdr_196
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