Pressemitteilung
Stand: 09.01.2001
Neujahrsansprache von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (Deutschland Radio 1. Januar)
Es gilt das gesprochene
Wort.
"Zunächst möchte ich Ihnen allen ein gutes Jahr wünschen. Ich verbinde diesen Wunsch mit einer konkreten Hoffnung. Ich hoffe, dass es den Menschen in unserer Gesellschaft gelingt, ein Verhältnis zueinander zu finden, das weniger von Gleichgültigkeit und weniger von Vorurteilen geprägt ist. Der Weg dahin ist nicht einfach, aber notwendig. Denn Gleichgültigkeit und Vorurteile gehören zu den
Ursachen dafür, dass wir in den vergangenen Jahren mehr und mehr rechtsradikale Untaten und Verbrechen erleben mussten. Innerhalb von zehn Jahren sind knapp hundert Menschen in diesem Land Opfer ausländerfeindlicher und rechtsextremistischer Gewalt geworden. Jüdische Bürgerinnen und Bürger fragen, wie weit sie noch sicher mit uns zusammen leben können.
Es gibt viele Gründe, warum der Rechtsextremismus in Deutschland in den vergangenen Jahren eine größere Gefahr geworden ist. Aber zählen dazu nicht vor allem auch auf Unkenntnis basierende Vorurteile gegenüber Menschen mit anderen Lebensweisen und Erfahrungen, gegenüber Fremden und Fremdem? Wer Geschichte und Kultur anderer Völker kennen gelernt hat, der kann auch Menschen aus anderen Ländern mit Interesse und Aufmerksamkeit begegnen. Es zählt zu den bitteren Erkenntnissen der jüngsten Zeit, dass in unserem Lande dort, wo es keine Offenheit gegenüber Nachbarn gegeben hat und bis heute nicht gibt, ein gefährlicher Nährboden für rechtsextreme Parolen und Verhaltensweisen entstehen konnte.
Vorurteile gibt es genügend, die das Zusammenleben der Menschen vergiften. Auch im Verhältnis zwischen Ost und West sind noch zehn Jahre nach der Vereinigung viele Klischees und Zerrbilder Barrieren für die Vollendung der Einheit geblieben. Wir trauen uns in Ost und West wechselseitig fast alles zu. Leider nicht nur im Positivem; der Fall Sebnitz hat es gezeigt.
Warum eigentlich bemühen wir uns so wenig, den anderen Menschen kennen zu lernen? Warum greifen wir so oft auf vorgefertigte Meinungen zurück? Es ist nicht immer leicht, sich mit den anderen zu befassen, auch einmal mit ihnen sachlich zu streiten. Es ist viel bequemer, sich einem offenen Gespräch zu entziehen und mit seinen Vorurteilen weiter zu leben. Falsch ist es trotzdem.
Wie viel Verantwortung haben staatliche Einrichtungen, um gegen Vorurteile anzugehen? Schule kann Wissen vermitteln, aber reicht das? Es ist mehr notwendig, um bei jungen Menschen Achtung vor dem anderen und Toleranz gegenüber dem Andersdenkenden zu entwickeln. Pluralismus heißt eben nicht nur Vielfalt sondern eben auch Respekt vor der anderen Meinung. In der Familie, in der Schule, in der Jugendarbeit muss Erziehung wieder viel wichtiger werden. Ihre Ziele sollten sein: Menschlichkeit, friedfertige Konfliktfähigkeit, demokratische Überzeugung, Toleranz, Mitleidensfähigkeit.
Auch den Medien kommt große Bedeutung zu, wenn es darum geht, die Grundlagen unserer Gesellschaft und die Grundwerte für unser Zusammenleben lebendig zu halten. Was geht in den Köpfen von Fernsehzuschauern eigentlich vor, denen Gewalt als Gegenstand ihrer allabendlichen Unterhaltung geboten wird? Ich halte dafür, dass Friedfertigkeit, Gewaltfreiheit, eine Kultur der Anerkennung und der Achtung vor anderen Menschen höhere Güter sind, als Einschaltquoten und Gewinne.
Gleichgültigkeit ist eine weitere Ursache unserer Probleme. Wozu hat es geführt, dass allzu viele Menschen wegschauen, wenn rechtsextremistische Jugendliche Ausländer drangsalieren und mit Gewalt bedrohen? Es darf niemanden gleichgültig lassen, wenn an Stammtischen oder unter Kollegen ausländerfeindliche oder antisemitische Witze erzählt werden. Gleichgültigkeit gegenüber dem Rechtsradikalismus lässt den Eindruck aufkommen, dass Neonazis die Straße beherrschen. Noch schlimmer; Neonazis missverstehen diese Gleichgültigkeit als schweigende Zustimmung oder Billigung. Das dürfen wir nicht zulassen, dagegen müssen wir deutliche Zeichen setzen. Es war ein beeindruckendes Signal, als am Abend des 9. November des vergangenen Jahres in Berlin und anderen Orten Deutschlands die Menschen in großer Zahl gegen Rechtsradikalismus und Ausländerhass demonstrierten. Das war eine Kundgebung gegen Vorurteile, Intoleranz und Gleichgültigkeit. Im vergangenen Jahr habe ich zahlreiche Gespräche mit Menschen geführt, die sich wehren gegen Vorurteile und Gleichgültigkeit. Sie haben sich engagiert gegen den Rechtsradikalismus. Dieses Engagement, vor allem auch junger Leute, verdient die Anerkennung der Öffentlichkeit, der Medien und der Politik. Eine demokratische Kultur braucht dieses Engagement, weil es um den Schutz von Menschenrechten geht. Denn, es wird mit einigen großen oder weniger großen Kundgebungen nicht getan sein. Auch ein Parteienverbot - so notwendig es ist - drängt Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit noch nicht zurück und überwindet sie. Die Aufgabe ist größer; sie bedarf der ständigen Aufmerksamkeit und der dauerhaften Anstrengung der Demokraten, der anständigen Menschen in unserem Land. Ob in unserer Gesellschaft die elementaren Regeln des menschlichen Anstands, der humanen Gesittung gelten - das ist unser aller Angelegenheit. Und dazu wünsche ich uns im neuen Jahr alles Gute!"
"Zunächst möchte ich Ihnen allen ein gutes Jahr wünschen. Ich verbinde diesen Wunsch mit einer konkreten Hoffnung. Ich hoffe, dass es den Menschen in unserer Gesellschaft gelingt, ein Verhältnis zueinander zu finden, das weniger von Gleichgültigkeit und weniger von Vorurteilen geprägt ist. Der Weg dahin ist nicht einfach, aber notwendig. Denn Gleichgültigkeit und Vorurteile gehören zu den
Ursachen dafür, dass wir in den vergangenen Jahren mehr und mehr rechtsradikale Untaten und Verbrechen erleben mussten. Innerhalb von zehn Jahren sind knapp hundert Menschen in diesem Land Opfer ausländerfeindlicher und rechtsextremistischer Gewalt geworden. Jüdische Bürgerinnen und Bürger fragen, wie weit sie noch sicher mit uns zusammen leben können.
Es gibt viele Gründe, warum der Rechtsextremismus in Deutschland in den vergangenen Jahren eine größere Gefahr geworden ist. Aber zählen dazu nicht vor allem auch auf Unkenntnis basierende Vorurteile gegenüber Menschen mit anderen Lebensweisen und Erfahrungen, gegenüber Fremden und Fremdem? Wer Geschichte und Kultur anderer Völker kennen gelernt hat, der kann auch Menschen aus anderen Ländern mit Interesse und Aufmerksamkeit begegnen. Es zählt zu den bitteren Erkenntnissen der jüngsten Zeit, dass in unserem Lande dort, wo es keine Offenheit gegenüber Nachbarn gegeben hat und bis heute nicht gibt, ein gefährlicher Nährboden für rechtsextreme Parolen und Verhaltensweisen entstehen konnte.
Vorurteile gibt es genügend, die das Zusammenleben der Menschen vergiften. Auch im Verhältnis zwischen Ost und West sind noch zehn Jahre nach der Vereinigung viele Klischees und Zerrbilder Barrieren für die Vollendung der Einheit geblieben. Wir trauen uns in Ost und West wechselseitig fast alles zu. Leider nicht nur im Positivem; der Fall Sebnitz hat es gezeigt.
Warum eigentlich bemühen wir uns so wenig, den anderen Menschen kennen zu lernen? Warum greifen wir so oft auf vorgefertigte Meinungen zurück? Es ist nicht immer leicht, sich mit den anderen zu befassen, auch einmal mit ihnen sachlich zu streiten. Es ist viel bequemer, sich einem offenen Gespräch zu entziehen und mit seinen Vorurteilen weiter zu leben. Falsch ist es trotzdem.
Wie viel Verantwortung haben staatliche Einrichtungen, um gegen Vorurteile anzugehen? Schule kann Wissen vermitteln, aber reicht das? Es ist mehr notwendig, um bei jungen Menschen Achtung vor dem anderen und Toleranz gegenüber dem Andersdenkenden zu entwickeln. Pluralismus heißt eben nicht nur Vielfalt sondern eben auch Respekt vor der anderen Meinung. In der Familie, in der Schule, in der Jugendarbeit muss Erziehung wieder viel wichtiger werden. Ihre Ziele sollten sein: Menschlichkeit, friedfertige Konfliktfähigkeit, demokratische Überzeugung, Toleranz, Mitleidensfähigkeit.
Auch den Medien kommt große Bedeutung zu, wenn es darum geht, die Grundlagen unserer Gesellschaft und die Grundwerte für unser Zusammenleben lebendig zu halten. Was geht in den Köpfen von Fernsehzuschauern eigentlich vor, denen Gewalt als Gegenstand ihrer allabendlichen Unterhaltung geboten wird? Ich halte dafür, dass Friedfertigkeit, Gewaltfreiheit, eine Kultur der Anerkennung und der Achtung vor anderen Menschen höhere Güter sind, als Einschaltquoten und Gewinne.
Gleichgültigkeit ist eine weitere Ursache unserer Probleme. Wozu hat es geführt, dass allzu viele Menschen wegschauen, wenn rechtsextremistische Jugendliche Ausländer drangsalieren und mit Gewalt bedrohen? Es darf niemanden gleichgültig lassen, wenn an Stammtischen oder unter Kollegen ausländerfeindliche oder antisemitische Witze erzählt werden. Gleichgültigkeit gegenüber dem Rechtsradikalismus lässt den Eindruck aufkommen, dass Neonazis die Straße beherrschen. Noch schlimmer; Neonazis missverstehen diese Gleichgültigkeit als schweigende Zustimmung oder Billigung. Das dürfen wir nicht zulassen, dagegen müssen wir deutliche Zeichen setzen. Es war ein beeindruckendes Signal, als am Abend des 9. November des vergangenen Jahres in Berlin und anderen Orten Deutschlands die Menschen in großer Zahl gegen Rechtsradikalismus und Ausländerhass demonstrierten. Das war eine Kundgebung gegen Vorurteile, Intoleranz und Gleichgültigkeit. Im vergangenen Jahr habe ich zahlreiche Gespräche mit Menschen geführt, die sich wehren gegen Vorurteile und Gleichgültigkeit. Sie haben sich engagiert gegen den Rechtsradikalismus. Dieses Engagement, vor allem auch junger Leute, verdient die Anerkennung der Öffentlichkeit, der Medien und der Politik. Eine demokratische Kultur braucht dieses Engagement, weil es um den Schutz von Menschenrechten geht. Denn, es wird mit einigen großen oder weniger großen Kundgebungen nicht getan sein. Auch ein Parteienverbot - so notwendig es ist - drängt Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit noch nicht zurück und überwindet sie. Die Aufgabe ist größer; sie bedarf der ständigen Aufmerksamkeit und der dauerhaften Anstrengung der Demokraten, der anständigen Menschen in unserem Land. Ob in unserer Gesellschaft die elementaren Regeln des menschlichen Anstands, der humanen Gesittung gelten - das ist unser aller Angelegenheit. Und dazu wünsche ich uns im neuen Jahr alles Gute!"
Quelle:
http://www.bundestag.de/bic/presse/2001/pz_010109