Pressemitteilung
Stand: 09.04.2001
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zur Verleihung des Lew-Kopelew-Preis an HALO Trust
Der Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang
Thierse, hielt am 8. April in Köln anlässlich der
Verleihung des Lew-Kopelew-Preises an die Organisation HALO Trust
die Laudatio und führte dabei u.a. aus:
"Wann immer ich nach Köln komme, denke ich - und ähnlich ergeht es mir in Dresden - an die Bilder der einst dem Erdboden gleichgemachten Stadt. An die Wüste der Zerstörung. Mahnend stehen noch die "Trauernden Eltern" in der Ruine von Sankt Alban, geschaffen nach einem Entwurf der Künstlerin Käthe Kollwitz, in deren Museum wir uns befinden.
Vor dieser Folie sieht der, der in das heutige Köln kommt, das geschäftige Treiben in den Strassen und wird sich bewusst, mit wie viel Kraft und Lebensmut die Menschen damals die Stadt wieder aufgebaut haben. Gewiss: unter großen Entbehrungen, häufig genug in der täglichen Sorge um das nackte Überleben und auch in der ständigen Gefahr, durch Blindgänger und einstürzende Gebäude zu Schaden zu kommen.
Es gab Berge von Schutt. Und man hat die Schaufeln in die Hand genommen und nicht lange geredet. Eine harte Zeit - und doch hat der gemeinsame Aufbau der Stadt viel Nachbarschaftshilfe und Solidarität erfahren lassen.
Kaum weniger schrecklich als die Erfahrung des Krieges ist die Einsicht, dass manche Kriege nie ein Ende zu nehmen scheinen, auch wenn sie längst Geschichte geworden sind.
Schrecklich ist es, über die dauerhafte Zerstörung ganzer Landstriche zu hören - einschließlich der fruchtbarsten Äcker und Felder - und damit über die Zerstörung der Le-bensbasis von Millionen Menschen. Von Bauern, Frauen, Kindern, die den Krieg überlebt haben und jetzt noch, Jahrzehnte später, zu Opfern werden, bei der Feldarbeit, beim Spielen oder weil man nur ein paar Meter von der Straße abgekommen ist.
Auf minenverseuchtem Gelände hilft das Motto "Ärmel aufkrempeln, aufbauen!" nicht; denn jeder Schritt aus dem Haus, in den Garten, aufs Feld, jeder Spatenstich kann tödlich sein.
100 Millionen Landminen lauern verstreut in über 60 Staaten auf ihre Opfer. Und sie würden noch in 50 und mehr Jahren Mensch und Tier verstümmeln und töten, wenn nicht so beherzte Organisationen wie HALO Trust sie aus der Erde holten.
Es sind mörderische Waffen, die nicht zwischen Soldaten und Zivilisten unterscheiden. Nein, noch perverser: manche Minen sind als Spielsachen getarnt, damit Kinder sie arglos aufsammeln und zerfetzt werden. In Kambodscha gibt es mehr Minen als Kinder - zwei für jedes Kind.
Wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz schätzt, werden Monat für Monat 800 Menschen von Minen getötet und weitere 1.200 verstümmelt. In den letzten 55 Jahren haben Antipersonen-Minen mehr Todesopfer und Verletzte gefordert als alle nuklearen, biologischen und chemischen Waffen zusammen.
Werden diese Befunde in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt wahrgenommen, oder sind es nur Zahlen und Statistiken?
Sicher: wenn die Eifel mit Landminen gepflastert wäre oder ganz Nordrhein-Westfalen, würden wir aufschreien. Aber liegt der Kosovo nicht weit weg auf dem Balkan, und sind etwa Afghanistan oder Somalia nicht Monde entfernt? Was haben wir damit zu tun ?
Unsere Wahrnehmung ist selektiv. Sie gleicht dem Blick durch den "Fächer der Königin" - wie es der Verfassungsrechtler Martin Kriele in einem schönen Bild sagt. Ge-meint ist der Fächer, den sich die Königin in Brechts "Dreigroschenoper" vor die Augen hält, um den entgegenkommenden Zug der Bettler aus ihrem Gesichtsfeld zu bannen - und so ihr Gewissen nicht zu belasten.
Nun können wir uns im Medienzeitalter nicht so einfach des Fächers der Königin bedienen. Durch die Medien sind die Katastrophen aus aller Welt allgegenwärtig und unentrinnbar.
Wir haben wahrhaft nicht zu wenig Information darüber. Aber sind wir nicht letztlich unbeteiligte Zuschauer, Betrachter zudem, die sich gegenüber diesen ständigen Katastrophen ohnmächtig fühlen und resignieren?
Die Bilder wechseln, ohne auf Antwort zu warten. Wieso sollten wir da "Ver-Antwortung" empfinden? Wir sehen viele, vielleicht allzu viele Bilder über Gewalt und Unglück.
Nicht wegschauen, sondern helfen: Zum Glück gab und gibt es dafür leuchtende Beispiele, die uns ermutigen. Heinrich Böll etwa, der ganz schlicht im Geiste der Bergpredigt gelebt, geschrieben, gewirkt hat und dafür auch - man sollte es in diesen Tagen nachtragender Häme nicht verschweigen - geächtet, denunziert und verfolgt wurde.
Und eben sein Freund Lew Kopelew, der - als trotzkistischer Student zu Stalins Zeiten; als Major der Roten Armee, als Lagerhäftling, als rehabilitierter und dann ausgebürgerter Wissenschaftler - für Völkerverstän-digung, Toleranz und Achtung der Menschenwürde gekämpft hat.
Lew Kopelew war ein Humanist, der immer wieder "Kopf und Kragen" riskierte, trotz aller Verfolgung und persönlicher Gefährdung. Der "trotz alledem" seinem Gewissen gefolgt ist und sich eingemischt hat - wie sein Kölner Freund.
Lew Kopelew hat - wie man weiß - als Offizier die Untaten kritisiert, die von der siegreichen Roten Armee an der deutschen Bevölkerung begangen wurden. Er wurde deshalb zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt. Wohl selten ist Humanität auf so ungewollt anrührende Weise beurkundet worden wie durch die Begründung dieses Urteils: "wegen Mitleids mit dem Feind."
Ganz im Sinne einer solchen Humanität, die nicht abstrakt bleibt, sondern sich in tätiger Nächstenliebe äußert, wirkt der heutige Preisträger, HALO Trust, der 1988 von Colin Mitchell gegründet wurde.
Mitchell war Oberstleutnant - ähnlich dem Major der Roten Armee Lew Kopelew. Er hat noch nach 1945 als Berufssoldat auf allen Schlachtfeldern für das untergehende Briti-sche Weltreich gekämpft. Dann aber widmete er sich mit der "Organisation für die Wiederbelebung gefährlicher Gegenden" - was das Kürzel HALO in deutscher Übersetzung bedeutet - humanitären Aufgaben, nämlich der Räumung von Landmi-nen.
HALO Trust ist nicht die einzige Nicht-Regierungs-Organisation, die auf diesem Feld weltweit tätig ist. Bereits die ersten Initiativen kritisierten den Widerspruch zwischen dem Internationalem Recht und seiner Umsetzung. Nach international gültigem Men-schenrecht müssen Kriegsgegner zwischen Zivilbevölkerung und kämpfender Truppe unterscheiden. Der Einsatz von Waffen, die diese Unterscheidung nicht machen können, ist verboten - also auch der Einsatz von Landminen. Für dieses Engagement ernteten diese Initiativen zunächst nur Hohn und Spott von Seiten der Regierungen und der Militärs.
Die Nicht-Regierungsorganisationen jedoch haben sich nicht entmutigen lassen, sondern auf der Einhaltung des Völkerrechts bestanden. Sie haben für die internationale Ächtung der Antipersonenminen gekämpft und in der Öffentlichkeit für dieses Ziel geworben. Und vor allem: ihre Mitarbeiter haben ungeachtet aller Schwierigkeiten und aller Verfolgung unter Einsatz ihres Lebens versucht, in den am stärksten betroffenen Ländern so viele Minen wie möglich zu entfernen und zu vernichten.
Sie haben dabei weltweit viel Unterstützung erfahren. So sei an das Engagement der Prinzessin von Wales erinnert. Lady Diana hat sich nachdrücklich für die Arbeit von HALO Trust eingesetzt. Und auch Lew Kopelew hat sich zusammen mit seinem Freund Rupert Neudeck im Kampf gegen die Landminen engagiert.
Es war ein Kampf David gegen Goliath, der aber schließlich zu internationaler Aner-kennung führte. So wurde - wie man weiß - Jody Williams 1997 für die "Internationale Kampagne zum Verbot der Landminen" mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Vor allem aber führte der Kampf der vielen, in einem Netzwerk verbundenen Nicht-Regierungs-Organisationen - wie HALO Trust - zu einem Übereinkommen über das "Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung".
Das Ottawa-Übereinkommen konnte am 1. März 1999 in Kraft treten, nachdem es von über 130 Staaten unterzeichnet und von über 80 ratifiziert worden war. Es ist skandalös, dass die USA, China und Russland noch nicht beigetreten sind.
Die Bundesrepublik Deutschland hat das Zustandekommen des Übereinkommens nachhaltig unterstützt. Sie hat es als einer der ersten Staaten ratifiziert und sie ist in den Vereinten Nationen und der Europäischen Union in besonderer Weise für die Implementierung tätig geworden.
Bereits vor dem Inkrafttreten hat die Bundeswehr als einer der ersten Armeen ihre gesamten Bestände an Antipersonenminen, bis auf Reste zu Übungszwecken, vernichtet.
HALO Trust hat sich von Beginn an nicht um die Anfeindungen gekümmert. Seine Mitarbeiter wurden diskriminiert, verfolgt und der Spionage bezichtigt. Sie haben ungeachtet dessen weiter geholfen, diese mörderischen Waffen zu beseitigen und zu vernichten.
Inzwischen ist HALO Trust in 9 Ländern mit über 3.000 Mitarbeitern aktiv. Die meisten Helfer sind Einheimische des betroffenen Landes, die von Mitarbeitern der Organisation in dem gefährlichen Handwerk des Aufspürens und der Vernichtung von Minen eingewiesen und betreut werden.
Es gibt - soviel ich weiß - keine direkte Äußerung von Lew Kopelew zu HALO Trust, was nichts besagen will. Schließlich gibt es viele Umstände und Indizien, die uns die Gewissheit vermitteln, dass Lew Kopelew es von Herzen begrüßt hätte, HALO Trust mit dem Preis, der seinen Namen trägt, ausgezeichnet zu wissen:
- Die Maximen und das Handeln von HALO Trust atmen jenen Geist des Widerständigen, des Engagements und der Nächstenliebe, die das Leben von Lew Kopelew auszeichnete.
Web-Seiten von Organisationen vermitteln im allgemeinen in gefälliger Ausführlichkeit die edlen Ziele der Einrichtung. Die Web-Seite von HALO Trust ist bemerkenswert bescheiden und schlicht. Statt in werbewirksam großen Worten fasst sie die Philosophie ihrer Arbeit lapidar in dem Statement zusammen: "Holt die Minen aus dem Boden! Jetzt!"
Ich denke, bereits das hätte Lew Kopelew gefallen. Er, der von alttestamentarischer Statur und Sprachgewalt war, machte keine großen Worte, wenn es darum ging, zu helfen. Die Sprache der Nächstenliebe sind Taten - nicht blumige Girlanden.
- Ein Zweites: Das Räumen von Minen ist gefährlich. Die Mitarbeiter von HALO Trust riskieren ihr Leben. Auch Lew Kopelew hat sich nicht geschont. "Trotzdem, trotz alle-dem" war sein Motto, wie Fritz Pleitgen nach seiner ersten Begegnung mit ihm berichtet hat.
- Und schließlich: Millionen Minen, Tausende von Unschuldigen, die jährlich getötet oder schwer verletzt wurden, internationale Vereinbarungen, die diesen Wahnsinn rechtfertigten: Das war die Realität, als HALO Trust mit der Arbeit begann. Der Kampf schien damals aussichtslos, auch weil jährlich mehr Minen neu verlegt wurden, als geborgen werden konnten. "Trotzdem, trotz alledem": Wenn Brüderlichkeit und Menschlichkeit wirklich mehr als Worte sind, dann ist - wie das schöne Wort von Heinrich Böll sagt: "Einmischung die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben."
Colin Mitchell hat nicht kapituliert. HALO Trust hat vor der schier unlösbaren Aufgabe nicht resigniert, zusammen mit den befreundeten Organisationen 100 Millionen Landminen zu beseitigen und Millionen Menschen vor Leid, Schmerz und Tod zu retten. HALO Trust ist - im Sinne von Heinrich Böll - realistisch geblieben und hat sich eingemischt, damit Menschen die Chance haben - nein, nicht bloß den Krieg, sondern auch den Frieden danach zu überleben.
HALO Trust ist ein würdiger Preisträger des Lew Kopelew-Preises.
Meine Damen und Herren: wir haben des Namensgebers des Preises gedacht, wir haben die Verdienste des Preisträgers gebührend erwähnt und für würdig befunden, diesen Preis zu empfangen.
Das alles hat seine Ordnung - und doch: irgend etwas scheint zu fehlen, wenn ich an den Einsatz für Menschlichkeit und Toleranz von Lew Kopelew denke, der in seinem praktischen Engagement nie ermüdete. Und erst recht fehlt etwas, wenn ich an die Mitarbeiter von HALO Trust denke, deren eigentliches Aktionsfeld nicht solche Festveranstaltungen sind, sondern die in Feldern, Wäldern und Dschungeln ständig Gesundheit und Leben riskieren.
Sollte nicht im Sinne von Lew Kopelew und von HALO Trust von dieser Veranstaltung Konkretes ausgehen, müssten nicht Taten folgten? Ich jedenfalls hoffe sehr, dass diese Verleihung des Lew-Kopelew-Preises dazu beiträgt, die Menschen vor den Fernsehgeräten wachzurütteln, ihnen das Leid von Menschen in anderen Regionen unseres Globus bewusst zu machen. Von diesem Leid sind wir nur dann durch den Bildschirm getrennt, wenn wir unsere Gefühle ausblenden, nicht wirklich sehen und wahrhaben wollen, was geschieht. Bürgerschaftliches Engagement gegen Krieg, Unrecht und Gewalt - das ist der Kern des Lebenswerks von Lew Kopelew. Wir ehren dieses Lebenswerk, wenn immer mehr Mitglieder der Zivilgesellschaft eintreten für die weltweite Abschaffung von Antipersonenminen und die Sicherung des Friedens. Nehmen wir deshalb das Motto von Halo Trust ernst: "Holt die Minen aus dem Boden! Jetzt!". Durch finanzielle und ideelle Unterstützung können wir dazu beitragen, dass die alten Minen entfernt und keine neuen, noch perfekteren, noch grausameren verlegt werden. Und vor allem können wir darauf hinarbeiten, dass nicht nur Kriegsgeräte gebannt werden, sondern der Krieg als Mittel der Politik von der Staatengemeinschaft insgesamt geächtet wird.
Vor allem beweist uns der heutige Preisträger: Man muss nicht resignieren vor der Flut von schlechten Nachrichten und Katastrophenbildern. Man kann etwas tun, man kann selbst Verantwortung übernehmen und durchaus - die Welt verbessern."
"Wann immer ich nach Köln komme, denke ich - und ähnlich ergeht es mir in Dresden - an die Bilder der einst dem Erdboden gleichgemachten Stadt. An die Wüste der Zerstörung. Mahnend stehen noch die "Trauernden Eltern" in der Ruine von Sankt Alban, geschaffen nach einem Entwurf der Künstlerin Käthe Kollwitz, in deren Museum wir uns befinden.
Vor dieser Folie sieht der, der in das heutige Köln kommt, das geschäftige Treiben in den Strassen und wird sich bewusst, mit wie viel Kraft und Lebensmut die Menschen damals die Stadt wieder aufgebaut haben. Gewiss: unter großen Entbehrungen, häufig genug in der täglichen Sorge um das nackte Überleben und auch in der ständigen Gefahr, durch Blindgänger und einstürzende Gebäude zu Schaden zu kommen.
Es gab Berge von Schutt. Und man hat die Schaufeln in die Hand genommen und nicht lange geredet. Eine harte Zeit - und doch hat der gemeinsame Aufbau der Stadt viel Nachbarschaftshilfe und Solidarität erfahren lassen.
Kaum weniger schrecklich als die Erfahrung des Krieges ist die Einsicht, dass manche Kriege nie ein Ende zu nehmen scheinen, auch wenn sie längst Geschichte geworden sind.
Schrecklich ist es, über die dauerhafte Zerstörung ganzer Landstriche zu hören - einschließlich der fruchtbarsten Äcker und Felder - und damit über die Zerstörung der Le-bensbasis von Millionen Menschen. Von Bauern, Frauen, Kindern, die den Krieg überlebt haben und jetzt noch, Jahrzehnte später, zu Opfern werden, bei der Feldarbeit, beim Spielen oder weil man nur ein paar Meter von der Straße abgekommen ist.
Auf minenverseuchtem Gelände hilft das Motto "Ärmel aufkrempeln, aufbauen!" nicht; denn jeder Schritt aus dem Haus, in den Garten, aufs Feld, jeder Spatenstich kann tödlich sein.
100 Millionen Landminen lauern verstreut in über 60 Staaten auf ihre Opfer. Und sie würden noch in 50 und mehr Jahren Mensch und Tier verstümmeln und töten, wenn nicht so beherzte Organisationen wie HALO Trust sie aus der Erde holten.
Es sind mörderische Waffen, die nicht zwischen Soldaten und Zivilisten unterscheiden. Nein, noch perverser: manche Minen sind als Spielsachen getarnt, damit Kinder sie arglos aufsammeln und zerfetzt werden. In Kambodscha gibt es mehr Minen als Kinder - zwei für jedes Kind.
Wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz schätzt, werden Monat für Monat 800 Menschen von Minen getötet und weitere 1.200 verstümmelt. In den letzten 55 Jahren haben Antipersonen-Minen mehr Todesopfer und Verletzte gefordert als alle nuklearen, biologischen und chemischen Waffen zusammen.
Werden diese Befunde in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt wahrgenommen, oder sind es nur Zahlen und Statistiken?
Sicher: wenn die Eifel mit Landminen gepflastert wäre oder ganz Nordrhein-Westfalen, würden wir aufschreien. Aber liegt der Kosovo nicht weit weg auf dem Balkan, und sind etwa Afghanistan oder Somalia nicht Monde entfernt? Was haben wir damit zu tun ?
Unsere Wahrnehmung ist selektiv. Sie gleicht dem Blick durch den "Fächer der Königin" - wie es der Verfassungsrechtler Martin Kriele in einem schönen Bild sagt. Ge-meint ist der Fächer, den sich die Königin in Brechts "Dreigroschenoper" vor die Augen hält, um den entgegenkommenden Zug der Bettler aus ihrem Gesichtsfeld zu bannen - und so ihr Gewissen nicht zu belasten.
Nun können wir uns im Medienzeitalter nicht so einfach des Fächers der Königin bedienen. Durch die Medien sind die Katastrophen aus aller Welt allgegenwärtig und unentrinnbar.
Wir haben wahrhaft nicht zu wenig Information darüber. Aber sind wir nicht letztlich unbeteiligte Zuschauer, Betrachter zudem, die sich gegenüber diesen ständigen Katastrophen ohnmächtig fühlen und resignieren?
Die Bilder wechseln, ohne auf Antwort zu warten. Wieso sollten wir da "Ver-Antwortung" empfinden? Wir sehen viele, vielleicht allzu viele Bilder über Gewalt und Unglück.
Nicht wegschauen, sondern helfen: Zum Glück gab und gibt es dafür leuchtende Beispiele, die uns ermutigen. Heinrich Böll etwa, der ganz schlicht im Geiste der Bergpredigt gelebt, geschrieben, gewirkt hat und dafür auch - man sollte es in diesen Tagen nachtragender Häme nicht verschweigen - geächtet, denunziert und verfolgt wurde.
Und eben sein Freund Lew Kopelew, der - als trotzkistischer Student zu Stalins Zeiten; als Major der Roten Armee, als Lagerhäftling, als rehabilitierter und dann ausgebürgerter Wissenschaftler - für Völkerverstän-digung, Toleranz und Achtung der Menschenwürde gekämpft hat.
Lew Kopelew war ein Humanist, der immer wieder "Kopf und Kragen" riskierte, trotz aller Verfolgung und persönlicher Gefährdung. Der "trotz alledem" seinem Gewissen gefolgt ist und sich eingemischt hat - wie sein Kölner Freund.
Lew Kopelew hat - wie man weiß - als Offizier die Untaten kritisiert, die von der siegreichen Roten Armee an der deutschen Bevölkerung begangen wurden. Er wurde deshalb zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt. Wohl selten ist Humanität auf so ungewollt anrührende Weise beurkundet worden wie durch die Begründung dieses Urteils: "wegen Mitleids mit dem Feind."
Ganz im Sinne einer solchen Humanität, die nicht abstrakt bleibt, sondern sich in tätiger Nächstenliebe äußert, wirkt der heutige Preisträger, HALO Trust, der 1988 von Colin Mitchell gegründet wurde.
Mitchell war Oberstleutnant - ähnlich dem Major der Roten Armee Lew Kopelew. Er hat noch nach 1945 als Berufssoldat auf allen Schlachtfeldern für das untergehende Briti-sche Weltreich gekämpft. Dann aber widmete er sich mit der "Organisation für die Wiederbelebung gefährlicher Gegenden" - was das Kürzel HALO in deutscher Übersetzung bedeutet - humanitären Aufgaben, nämlich der Räumung von Landmi-nen.
HALO Trust ist nicht die einzige Nicht-Regierungs-Organisation, die auf diesem Feld weltweit tätig ist. Bereits die ersten Initiativen kritisierten den Widerspruch zwischen dem Internationalem Recht und seiner Umsetzung. Nach international gültigem Men-schenrecht müssen Kriegsgegner zwischen Zivilbevölkerung und kämpfender Truppe unterscheiden. Der Einsatz von Waffen, die diese Unterscheidung nicht machen können, ist verboten - also auch der Einsatz von Landminen. Für dieses Engagement ernteten diese Initiativen zunächst nur Hohn und Spott von Seiten der Regierungen und der Militärs.
Die Nicht-Regierungsorganisationen jedoch haben sich nicht entmutigen lassen, sondern auf der Einhaltung des Völkerrechts bestanden. Sie haben für die internationale Ächtung der Antipersonenminen gekämpft und in der Öffentlichkeit für dieses Ziel geworben. Und vor allem: ihre Mitarbeiter haben ungeachtet aller Schwierigkeiten und aller Verfolgung unter Einsatz ihres Lebens versucht, in den am stärksten betroffenen Ländern so viele Minen wie möglich zu entfernen und zu vernichten.
Sie haben dabei weltweit viel Unterstützung erfahren. So sei an das Engagement der Prinzessin von Wales erinnert. Lady Diana hat sich nachdrücklich für die Arbeit von HALO Trust eingesetzt. Und auch Lew Kopelew hat sich zusammen mit seinem Freund Rupert Neudeck im Kampf gegen die Landminen engagiert.
Es war ein Kampf David gegen Goliath, der aber schließlich zu internationaler Aner-kennung führte. So wurde - wie man weiß - Jody Williams 1997 für die "Internationale Kampagne zum Verbot der Landminen" mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Vor allem aber führte der Kampf der vielen, in einem Netzwerk verbundenen Nicht-Regierungs-Organisationen - wie HALO Trust - zu einem Übereinkommen über das "Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung".
Das Ottawa-Übereinkommen konnte am 1. März 1999 in Kraft treten, nachdem es von über 130 Staaten unterzeichnet und von über 80 ratifiziert worden war. Es ist skandalös, dass die USA, China und Russland noch nicht beigetreten sind.
Die Bundesrepublik Deutschland hat das Zustandekommen des Übereinkommens nachhaltig unterstützt. Sie hat es als einer der ersten Staaten ratifiziert und sie ist in den Vereinten Nationen und der Europäischen Union in besonderer Weise für die Implementierung tätig geworden.
Bereits vor dem Inkrafttreten hat die Bundeswehr als einer der ersten Armeen ihre gesamten Bestände an Antipersonenminen, bis auf Reste zu Übungszwecken, vernichtet.
HALO Trust hat sich von Beginn an nicht um die Anfeindungen gekümmert. Seine Mitarbeiter wurden diskriminiert, verfolgt und der Spionage bezichtigt. Sie haben ungeachtet dessen weiter geholfen, diese mörderischen Waffen zu beseitigen und zu vernichten.
Inzwischen ist HALO Trust in 9 Ländern mit über 3.000 Mitarbeitern aktiv. Die meisten Helfer sind Einheimische des betroffenen Landes, die von Mitarbeitern der Organisation in dem gefährlichen Handwerk des Aufspürens und der Vernichtung von Minen eingewiesen und betreut werden.
Es gibt - soviel ich weiß - keine direkte Äußerung von Lew Kopelew zu HALO Trust, was nichts besagen will. Schließlich gibt es viele Umstände und Indizien, die uns die Gewissheit vermitteln, dass Lew Kopelew es von Herzen begrüßt hätte, HALO Trust mit dem Preis, der seinen Namen trägt, ausgezeichnet zu wissen:
- Die Maximen und das Handeln von HALO Trust atmen jenen Geist des Widerständigen, des Engagements und der Nächstenliebe, die das Leben von Lew Kopelew auszeichnete.
Web-Seiten von Organisationen vermitteln im allgemeinen in gefälliger Ausführlichkeit die edlen Ziele der Einrichtung. Die Web-Seite von HALO Trust ist bemerkenswert bescheiden und schlicht. Statt in werbewirksam großen Worten fasst sie die Philosophie ihrer Arbeit lapidar in dem Statement zusammen: "Holt die Minen aus dem Boden! Jetzt!"
Ich denke, bereits das hätte Lew Kopelew gefallen. Er, der von alttestamentarischer Statur und Sprachgewalt war, machte keine großen Worte, wenn es darum ging, zu helfen. Die Sprache der Nächstenliebe sind Taten - nicht blumige Girlanden.
- Ein Zweites: Das Räumen von Minen ist gefährlich. Die Mitarbeiter von HALO Trust riskieren ihr Leben. Auch Lew Kopelew hat sich nicht geschont. "Trotzdem, trotz alle-dem" war sein Motto, wie Fritz Pleitgen nach seiner ersten Begegnung mit ihm berichtet hat.
- Und schließlich: Millionen Minen, Tausende von Unschuldigen, die jährlich getötet oder schwer verletzt wurden, internationale Vereinbarungen, die diesen Wahnsinn rechtfertigten: Das war die Realität, als HALO Trust mit der Arbeit begann. Der Kampf schien damals aussichtslos, auch weil jährlich mehr Minen neu verlegt wurden, als geborgen werden konnten. "Trotzdem, trotz alledem": Wenn Brüderlichkeit und Menschlichkeit wirklich mehr als Worte sind, dann ist - wie das schöne Wort von Heinrich Böll sagt: "Einmischung die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben."
Colin Mitchell hat nicht kapituliert. HALO Trust hat vor der schier unlösbaren Aufgabe nicht resigniert, zusammen mit den befreundeten Organisationen 100 Millionen Landminen zu beseitigen und Millionen Menschen vor Leid, Schmerz und Tod zu retten. HALO Trust ist - im Sinne von Heinrich Böll - realistisch geblieben und hat sich eingemischt, damit Menschen die Chance haben - nein, nicht bloß den Krieg, sondern auch den Frieden danach zu überleben.
HALO Trust ist ein würdiger Preisträger des Lew Kopelew-Preises.
Meine Damen und Herren: wir haben des Namensgebers des Preises gedacht, wir haben die Verdienste des Preisträgers gebührend erwähnt und für würdig befunden, diesen Preis zu empfangen.
Das alles hat seine Ordnung - und doch: irgend etwas scheint zu fehlen, wenn ich an den Einsatz für Menschlichkeit und Toleranz von Lew Kopelew denke, der in seinem praktischen Engagement nie ermüdete. Und erst recht fehlt etwas, wenn ich an die Mitarbeiter von HALO Trust denke, deren eigentliches Aktionsfeld nicht solche Festveranstaltungen sind, sondern die in Feldern, Wäldern und Dschungeln ständig Gesundheit und Leben riskieren.
Sollte nicht im Sinne von Lew Kopelew und von HALO Trust von dieser Veranstaltung Konkretes ausgehen, müssten nicht Taten folgten? Ich jedenfalls hoffe sehr, dass diese Verleihung des Lew-Kopelew-Preises dazu beiträgt, die Menschen vor den Fernsehgeräten wachzurütteln, ihnen das Leid von Menschen in anderen Regionen unseres Globus bewusst zu machen. Von diesem Leid sind wir nur dann durch den Bildschirm getrennt, wenn wir unsere Gefühle ausblenden, nicht wirklich sehen und wahrhaben wollen, was geschieht. Bürgerschaftliches Engagement gegen Krieg, Unrecht und Gewalt - das ist der Kern des Lebenswerks von Lew Kopelew. Wir ehren dieses Lebenswerk, wenn immer mehr Mitglieder der Zivilgesellschaft eintreten für die weltweite Abschaffung von Antipersonenminen und die Sicherung des Friedens. Nehmen wir deshalb das Motto von Halo Trust ernst: "Holt die Minen aus dem Boden! Jetzt!". Durch finanzielle und ideelle Unterstützung können wir dazu beitragen, dass die alten Minen entfernt und keine neuen, noch perfekteren, noch grausameren verlegt werden. Und vor allem können wir darauf hinarbeiten, dass nicht nur Kriegsgeräte gebannt werden, sondern der Krieg als Mittel der Politik von der Staatengemeinschaft insgesamt geächtet wird.
Vor allem beweist uns der heutige Preisträger: Man muss nicht resignieren vor der Flut von schlechten Nachrichten und Katastrophenbildern. Man kann etwas tun, man kann selbst Verantwortung übernehmen und durchaus - die Welt verbessern."
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Quelle:
http://www.bundestag.de/bic/presse/2001/pz_010409