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Stand: 06.02.2003
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Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, auf dem Bremer Bildungstag am 6. Februar 2003

Was soll man nach PISA und der 1½-jährigen Diskussion noch sagen können? Was erwarten Sie von einem "Nichtbildungspolitiker"? Als solcher bin ich ja ausdrücklich eingeladen, das war der Inhalt des Gesprächs mit Willi Lemke. Jedenfalls müssen Sie von einem "Nichtbildungspolitiker", der vom Bund kommt, nicht erwarten, dass wir hier erst einmal über Zuständigkeiten streiten oder dass ich etwa den Föderalismus und seine Zuständigkeit in Sachen Bildungspolitik in Frage stelle. Aber ich will vorweg als einer, der über Bildungspolitik als Betroffener redet - schließlich war ich wie jeder andere Schüler und Student, bin Vater, und mich hat Bildung immer interessiert, weil sie ein Schlüsselthema für unsere gesellschaftliche Zukunft ist - sagen: Der Begriff von Bildung, wie ich ihn verstehe, geht in PISA nicht auf. Man muss bei aller Aufregung mit einem solchen Satz beginnen. Denn Bildung meint ja mehr als Lesen, Schreiben, Rechnen. Die in den Vergleichsstudien untersuchten Kompetenzen sind gewiss und unbezweifelbar Basiskompetenzen der Wissensaneignung. Sie sind grundlegend für die Lebensgestaltung. Sie sind aber selbstverständlich nicht ausreichend für die Beschreibung des Bildungsgrades einer Persönlichkeit oder die Beurteilung des Bildungsstandes einer Gesellschaft.

Wer dies nicht beachtet, läuft Gefahr, mit PISA in eine neue bildungspolitische Sackgasse zu geraten. Es wäre verantwortungslos, würden künftig beispielsweise Bildungsbereiche wie Musik, Kunst, Geschichte, Politik oder Sport vernachlässigt. Verantwortungslos wäre auch, die Ausbildung jener Schlüsselqualifikationen zu vernachlässigen, die für die individuelle Lebensgestaltung ebenso unverzichtbar sind wie für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Werteerziehung, Kritikfähigkeit und Urteilsfähigkeit, soziale und ökologische Kompetenz, solidarisches Verhalten, die Fähigkeit, Recht von Unrecht zu unterscheiden.

Die Schule in einer demokratischen Gesellschaft darf sich nicht nur an der Vermittlung der Basiskompetenzen messen lassen, so wichtig diese sind. Denn Bildung in der demokratischen Gesellschaft ist eine ganzheitliche Aufgabe. Das muss man im Kopf haben, wenn man sich den Folgen widmet, die aus der Vernachlässigung der Ausbildung der Basiskompetenzen erwachsen. Dass wir dieses Problem haben, das hat die OECD in ihren Studien gezeigt, das war Gegenstand der Bremer Foren und Gegenstand des Bremer "Runden Tisches", und darüber ist ja jetzt auch zu sprechen.

Die Ergebnisse, die Deutschland in den beiden PISA-Studien erreicht hat, sind beschämend, darin sind sich alle einig. Wohl kaum jemand hätte vor PISA geglaubt, dass die Bundesrepublik im internationalen Leistungsvergleich einen Platz belegen wird, der unter dem durchschnittlichen Leistungsniveau der OECD-Staaten liegt.

Diese Erkenntnis ist schmerzhaft, schmerzhaft vor allem für jene Pädagoginnen und Pädagogen, die ihren Beruf mit Leidenschaft und Engagement ausüben. Und es gibt davon ohne Zweifel sehr, sehr viele. Kaum waren die PISA-Ergebnisse bekannt, begannen - das Spiel kennen wir schon, es wird durch ständige Wiederholungen nicht schöner - die Schuldzuschreibungen, wurde der Ton polemisch, mitunter aggressiv. Die Sprache der schnell einsetzenden Debatte ähnelte einem Rundumschlag. Kaum eine Stellungnahme verzichtete auf jene apokalyptischen Begriffe, mit denen zum Teil schon vor 40 Jahren (z. B. von Georg Picht) das deutsche Schulsystem beschrieben und kritisiert worden war: "Bildungskatastrophe", "Bildungsdilemma", "Erziehungsnotstand", "Skandal" und "Schock" usw.

Bremen hat sich von diesem Schock nicht lähmen lassen. Die Hansestadt berief einen kompetent besetzten "Runden Tisch Bildung" und beauftragte diesen mit der Erforschung der Ursachen für das schlechte Bremer Abschneiden beim PISA-Test, mit der Suche nach tragfähigen Bündnissen und der Ausarbeitung von Empfehlungen an den Senat. Ein offensiver Weg. Und es ist vernünftig, auf diese Weise mit einem solchen Schrecken umzugehen.

Wir dürfen ja der OECD durchaus dankbar sein. Sie hat uns mit PISA wachgerüttelt, sie hat uns zu dem notwendigen verschärften Problembewusstsein verholfen. Jedenfalls jene Teile der Gesellschaft, die sich sonst um Bildung, um Bildungspolitik nicht sonderlich gekümmert haben. Die dramatischen Zahlen und Aussagen ihrer Leistungsstudien werden in Deutschland ernst genommen und weithin akzeptiert. Dank dieser Daten hat die lange Zeit schlingernde Bildungsdebatte in unserer Republik endlich einen tragfähigen Unterbau bekommen. Kaum jemand bezweifelt die Wissenschaftlichkeit und Methodenkompetenz der PISA-Studien oder stellt ihre Autoren unter Ideologieverdacht - was ja allzu häufig das Schicksal ungeliebter Studien gewesen ist. Und die Zeit, wo einzelne Länder oder Interessengruppen die PISA-Befunde zu eigenem politischen Vorteil auszuschlachten versuchten, dürfte endlich - seit dem Wahlwochenende hoffentlich endgültig - vorbei sein. Der innerdeutsche Streit um die Frage, wer denn nun in der Kreisliga in den einzelnen Übungen einen vorderen oder hinteren Platz einnimmt, hat die Bildungsdebatte in der Substanz wenig vorangebracht.

Die Probleme, die PISA uns vor Augen führt, sind gewaltig. In Bremen, einer Stadt mit ausgeprägten reformpädagogischen Traditionen, treten sie besonders schroff zutage:
Erstens: Deutsche Schülerinnen und Schüler erbringen vergleichsweise schlechte Leistungen in den zentralen Kompetenzbereichen Lesen, mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung und bei der Anwendung des Erlernten im Alltag. Es gibt einen relativ großen Anteil an Risikoschülern, die in der Regel nicht über ein oberflächliches Verständnis einfach geschriebener Texte hinauskommen. Die im OECD-Vergleich auffallend große Leistungsstreuung (zwischen den besten und den schlechtesten Schülern) verweist darauf, dass in Deutschland die Breitenförderung zu gering und die Förderung von Schülern im unteren Leistungsbereich äußerst mangelhaft ist. Eine Zahl zur Illustration, die einen Germanisten, wie ich ja einer bin, besonders entsetzt: 42 Prozent aller 15-Jährigen in unserem Land haben noch nie in ihrem Leben zum Vergnügen gelesen! 42 Prozent! Für mich schwer fassbar, dass es so viele sind. Das kann doch nur heißen, lassen wir mal die familiäre, die häusliche Beeinflussung beiseite, die ist jetzt nicht der Gegenstand, das kann nur heißen: Der Deutschunterricht hat es nicht geschafft, Leseinteresse, Freude an Literatur, ästhetisches Vergnügen an Sprache zu wecken. Im Gegenteil: Er hat vielen Schülern dieses Vergnügen ausgetrieben.

Zweitens: In keinem anderen Industriestaat entscheiden der soziale und der wirtschaftliche Status der Eltern so sehr über die Bildungschancen und den Schulerfolg junger Menschen wie in Deutschland. Allein der Bildungsgrad der Eltern ist bei uns ein zuverlässiger Vorhersagefaktor für die spätere Ausbildung der Kinder. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus Familien mit niedrigem Bildungsstand unzureichend Lesen und Schreiben lernen, ist dreimal so hoch wie für solche, deren Eltern Abitur gemacht haben. Die frühe Auslese der Schüler in ein differenziertes Schulsystem von Haupt- und Realschule sowie Gymnasium zementiert also die soziale Herkunft eher, als dass sie sie auflöst und relativiert. Für diese krasse Fehlentwicklung hat UNICEF die Bundesrepublik deutlich kritisiert. Dabei war doch gerade die Herstellung von Chancengleichheit, der Ausgleich von sozialen Benachteiligungen jahrzehntelang ein Hauptziel deutscher Reformpädagogik und gerade auch sozialdemokratischer Bildungspolitik! Jetzt konstatieren zu müssen, dass unser Schulsystem Ungleichheit und Zugangsnachteile nicht abbaut, sondern sogar noch verstärkt, ist eine sehr, sehr bittere Erkenntnis.

Drittens (und dieser Punkt schließt an die Frage der Chancengleichheit unmittelbar an): Die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gelingt in Deutschland schlechter als anderswo. Die Wahrscheinlichkeit, zu jener Risikogruppe zu gehören, die nicht einmal die unterste der drei Kompetenzstufen der PISA-Studie erreicht, ist bei Kindern mit Migrationshintergrund viermal höher als bei Kindern ohne diesen. Hier rächt sich die lange Weigerung konservativer Politiker, den Menschen einzugestehen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und wir dementsprechend handeln müssen. In der deutschen Einwanderungsgesellschaft mit ihren starken Selektions- und Ausgrenzungsmechanismen ist es für Migranten extrem schwierig, den Bildungsaufstieg und damit den sozialen Aufstieg zu schaffen, insbesondere wenn die Familien der unteren Schicht angehören. Das traurige Fazit: Auch nach vier Jahrzehnten Zuwanderung wird unser Bildungssystem als Ganzes nur unzureichend damit fertig, dass auch nichtdeutsche Kinder hier zur Schule gehen. Und das ist doch paradox: In einzelnen Stadtteilen (etwa in Berlin oder im Ruhrgebiet) liegt der Anteil ausländischer Schulanfänger bereits jetzt bei über 75 Prozent. Im Berliner Wedding etwa beherrschen drei von vier nichtdeutschen Erstklässlern die Unterrichtssprache nicht oder nur unzureichend. Und dass dieses Deutschdefizit traurige Konsequenzen in allen Lernbereichen hat, darüber darf man sich nicht wundern. Hier in Bremen wissen Sie allzu gut, wovon die Rede ist. Sie haben ja gleiche oder ähnliche Probleme.

Was ist zu tun? Zahlreiche Vorschläge liegen inzwischen auf dem Tisch. Nicht wenige davon ergeben sich geradezu zwangsläufig aus den dramatischen Befunden (Stärkung der Grundschule, bessere Frühförderung usw.). Um weitere Vorschläge wird überall sehr leidenschaftlich diskutiert und gestritten - in den Medien, in zahllosen politischen und pädagogischen Gremien, am Runden Tisch, in den Elternvertretungen, in den Verbänden der Zuwanderer, unter Gewerkschaftern, in Wirtschaftskreisen, in den Kirchen und natürlich auch in den Behörden.

Ich bin überzeugt: Die sich in dieser Debatte abzeichnende breite Zuständigkeit und Verantwortung für Bildung ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass diese nationale Aufgabe auch tatsächlich gemeistert wird. Bildung und Bildungspolitik sind vom Rande wieder ins Zentrum der gesellschaftlichen und politischen Debatte gerückt. Als ich 1990 in die bundesdeutsche Politik geriet, habe ich so ganz nebenbei gelernt, dass Bildungspolitik ein weiches Thema ist. Es hieß immer: die großen Hirsche, die befassen sich damit nicht, es gibt Wichtigeres. Ich hoffe, das hat sich endgültig geändert. Bildungspolitik und Bildung gehören ins Zentrum der gesellschaftlichen und der politischen Debatten. Wir brauchen das Zusammenwirken der Betroffenen, der Zuständigen und Kompetenten. Deshalb halte ich diesen Bremer "Runden Tisch Bildung" für so vernünftig und sinnvoll und für so begrüßenswert.

In der laufenden Debatte wird immer wieder dazu aufgefordert, PISA nicht nur als Kritik, sondern auch als Anregung, als Handlungsaufforderung zu begreifen, vor allem als Chance zu grundsätzlichen Weichenstellungen. Das ist richtig. Wir müssen dabei aufpassen, dass das schulische, behördliche und politische Handeln nach PISA sich nicht in bloßen Schnellschüssen erschöpft. Hier ein wenig an der Schraube drehen und da etwas reparieren - das mag schon richtig sein und helfen, aber das darf nicht alles sein. Der überall geforderte Aufbruch darf nicht in überhasteten Einzelkorrekturen versanden - so hilfreich sie als schnelle Reaktion notwendig sein mögen.

Wir brauchen vielmehr eine - darf ich das so im Politjargon sagen - strategische Diskussion über die langfristigen Ziele des Bildungssystems in Deutschland: Als "Nichtbildungspolitiker" fand ich, wenn ich das in diesem Kreis sagen darf, die bildungspolitischen Debatten der 90er Jahre viel zu eng. Der Streit, ob 12 oder 13 Jahre zum Abitur notwendig sind, der Streit um Organisationsformen, um Finanzierungsfragen - ich fand das immer ungenügend. Wenn wir eine wirkliche bildungspolitische Debatte führen und sie auf das notwendige Niveau heben wollen, dann geht es um eine fundamentale Frage zuerst und zuletzt: Was sollen Kinder und Jugendliche, was sollen Schüler lernen? Was sollen sie an Wissen, an Fähigkeiten, an Qualifikationen, an Einstellungen, an Kompetenzen erwerben - erstens - angesichts so vieler dramatischer, einschneidender Veränderungen am Ende des 20., am Beginn des 21. Jahrhunderts, die wir hinter uns haben - und wir ahnen: es wird so weitergehen. Und zweitens - angesichts der Explosion des Wissens, die wir erleben. Ich habe in der Schule noch gelernt, das ist schon ein bisschen her, dass das menschheitliche Wissen sich alle fünfzig Jahre verdoppele. Ich höre, jetzt verdoppele es sich alle 5 Jahre. Welche Konsequenzen ziehen wir daraus für die Vermittlung welchen Wissens? Das ist doch eine unerhört wichtige Frage! Und drittens: Was muss gelernt, was muss erworben werden angesichts der Notwendigkeit lebenslangen Lernens im Beruf - nein: in Berufen. Auch das wissen wir doch, dass die Zeit vorbei ist, in der man einen Beruf erlernt und diesen lebenslang ausübt. Lernen ist einer der wichtigsten Momente und Bestandteile unseres Lebens geworden. Was folgert daraus? Wenn wir darüber nachdenken, dann könnte das doch die Schule von manchen Stoffmassen entlasten. Dann stellt sich die Frage nach dem Wesentlichen, nach dem nicht so schnell veraltenden Wissen neu. Und eine Frage, die immer als konservativ verschrien war, ist plötzlich wieder da - ich verwende ausdrücklich das konservative Wort dafür - die Frage nach dem Kanon, den es nie endgültig geben wird. Aber wir müssen uns darüber einigen, was ist denn das Wesentliche? Es stellt sich die Frage danach, wie wir Fähigkeiten, Einstellungen, Methoden, Werte in den Mittelpunkt von Bildungs- und Erziehungsprozessen stellen. Was ist Orientierungswissen? Was heißt Lernen lernen als die wichtigste Aufgabe von Bildungsprozessen? Was sind die Schlüsselqualifikationen, über die wir reden müssen? Was sind soziale Kompetenzen, Kommunikationsfähigkeit, die Fähigkeit mitzuleiden, solidarisch zu sein, Freiheit als ein kostbares Gut zu begreifen, das zu verteidigen ist. Solche Werte, solche Einstellungen sind dann wichtig. Und wenn man darüber sich einigt, wenigstens vorläufig - endgültig werden wir uns in einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft nie einigen können -, dann können wir über Konzepte, Bildungskonzepte reden, über Bildungspläne für Kindergärten, für Schulen und über das, was wir mit einem - ich weiß: umstrittenen - Begriff "nationale Bildungsstandards" benannt haben. Das Wort national meint nur, dass es dabei nicht darum geht, für Bremen ganz andere Antworten zu finden hinsichtlich dieser Grundfragen als für Hessen oder Hamburg oder Berlin oder Sachsen oder Bayern. Das ist der Kern der Debatte. Dann gibt es weitere Fragen: Was wollen wir erreichen in den kommenden zehn bis fünfzehn Jahren? Wie können wir die Aufgaben, die wir aus diesen Grundübereinkünften ableiten, wie können wir sie lösen im Laufe der nächsten Jahre? Welche Strukturen müssen wir schaffen, um angemessen auf sich verändernde gesellschaftliche Herausforderungen reagieren zu können? Wie gestalten wir künftig das Verhältnis von Staat und Schule, von Behörde und Schule, wenn die einzelne Schule vernünftigerweise größere Verantwortung für ihr Tun und für die Bildungsprozesse in ihr übernehmen soll? Je mehr wir Klarheit haben über unsere Ziele von Bildung und wir so etwas wie "Standards" beschreiben können, um so größere Freiheiten können wir den einzelnen Schulen lassen. So unterschiedlich, wie Kinder sind, so unterschiedlich können dann Schulen arbeiten, wenn wir uns über diese Ziele einig geworden sind. Wie entwickeln wir - eine verflucht schwierige Frage - Maßstäbe zur Beurteilung der Qualität von Bildung und Erziehung? Wo wir doch in der Öffentlichkeit immerfort Qualitätsurteile abgeben - doch nicht immer gut begründete. Wie stärken wir das gesellschaftliche Ansehen der Lehrerinnen und Lehrer? Und wie sichern wir künftig die Evaluation des Ganzen?

Ich denke, wenn wir unser Bildungssystem und seine Strukturen als Ganzes auf den Prüfstand stellen, wenn wir die Perspektiven, Inhalte und Ziele von Bildung und Erziehung insgesamt neu durchdenken, erst dann haben wir über die unmittelbare Reaktion auf den PISA-Schock hinaus den richtigen Weg gefunden.

Es heißt immer: Maßstab der anstehenden Bildungsreform müssen die Kinder und Jugendlichen sein. Ein selbstverständlicher Satz, manchmal konsequenzlos ausgesprochen. Aber was bedeutet er? Doch wohl zweierlei - fordern und fördern: jene herausfordern, deren Fähigkeiten wir bislang nicht genug aktiviert haben, und jene unterstützen, die Hilfe brauchen. Schule ohne Leistungsansprüche, ohne Herausforderungen - das macht keinen Sinn. Die Qualität der Erziehung, Bildung und Ausbildung unserer Kinder entscheidet darüber, wie leistungsfähig und innovativ, aber auch wie human, wie demokratisch, wie sozial unsere Gesellschaft in Zukunft sein wird. Die Maßstäbe derer, die künftig unsere Gesellschaft gestalten, die bilden wir jetzt aus.

Unverzichtbar für die Erziehungs- und Bildungsaufgaben sind und bleiben natürlich die Familien, in ihren vielfältigen Formen. Und wenn Politik darauf abzielt, die Gesellschaft kinder- und familienfreundlicher zu machen - und das ist ja unser Ziel und muss es sein, denn unsere Gesellschaft ist nicht kinderfreundlich und unser Wirtschaftssystem ist nicht familienfreundlich -, dann brauchen wir gemeinschaftliche, auch politische Anstrengungen, um Familien zu unterstützen: materiell und ebenso durch Herstellung von Chancengleichheit, Chancengleichheit auch für beide Eltern im Arbeitsleben. Man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass Bildungspolitik immer auch Familienpolitik bedeutet und umgekehrt.

Allerdings: Nicht alles, was wir uns aus bildungs- und familienpolitischer Perspektive wünschen, ist auch schon - jetzt kommt der ernüchternde Satz - finanzierbar. Wir arbeiten daran. Mit welchem Erfolg, weiß ich nicht. Aber diese polemische Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen: Wenn unser kollektiv wichtigstes Anliegen ist, die Steuern zu senken, weil es ja unerträglich sei, dass wir Steuern zahlen, dann müssen wir auch darüber reden, welche Aufgaben die Gemeinschaft, der Staat künftig nicht mehr finanzieren kann. Vor dieser Konsequenz darf sich keiner drücken. Aber es geht nicht nur um Geld: Wir wissen auch, dass andere Länder mit durchaus geringeren Ausgaben schon jetzt sehr viel bessere Ergebnisse in der Bildung und Integration erzielen als wir - bei kleineren Gehältern und bei erweiterter Präsenzpflicht der Pädagogen in der Schule. Auch das kann man der OECD-Studie entnehmen. Die gebetsmühlenartig wiederholte Forderung nach mehr Geld führt nicht zum Ziel, jedenfalls reicht sie nicht. Wir müssen vor allem die vorhandenen Ressourcen besser nutzen und die Qualität der Bildungsarbeit verbessern - das ist eine zwingende Lehre aus PISA. Die Kultusministerkonferenz hat sich dieser Lehre angenommen. Zur Verbesserung der Qualität von Bildung erarbeitet sie zur Zeit einheitliche Bildungsstandards. Ich bin sehr neugierig.

Eine in den Studien vorgebrachte Mahnung lautet, dass wir in Deutschland großen Nachholbedarf in der Betreuung unserer Jüngsten haben - qualitativ wie quantitativ. Hier herrscht inzwischen, soweit ich sehe, weitgehend Konsens: Wir brauchen mehr Ganztagsangebote. Wir brauchen eine differenzierte Betreuung für Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen - und das in guter Qualität, zeitlich flexibel, bezahlbar und vielfältig. Also: Ganztagsschulen, Horte, Ganztagskindergärten und Kleinkindbetreuung - in Einrichtungen, in bürgerschaftlicher Eigeninitiative oder durch kommerzielle Dienstleister.

Die Bundesregierung hat sich in dieser Frage ausdrücklich zu ihrer Mitverantwortung bekannt. Sie wird Länder und Gemeinden beim Ausbau der Tagesbetreuung unterstützen - mit einem 4-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm für den Aus- und Aufbau von bis zu 10.000 Ganztagsschulen bis ins Jahr 2007. Dies ist ein wichtiges politisches Signal für eine bessere Förderung der Schülerinnen und Schüler, insbesondere in den unteren Klassen.

Ganztagsangebote sind nicht nur wichtig für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, also für die wirtschaftliche Selbständigkeit der Eltern. Sie nützen auch und vor allem der individuellen Entwicklung der Kinder, sowohl im Schul-, als auch im Vorschulalter. Es kommt die Gesellschaft teuer zu stehen, wenn wir beispielsweise den Kindern im Vorschulalter Möglichkeiten der intellektuellen und sozialen Förderung vorenthalten. Sie haben dann größere Startschwierigkeiten in der Schule. Die Konsequenz aus PISA kann hier doch nur heißen, dass wir endlich auch in den alten Bundesländern ausreichend Kindergartenplätze zur Verfügung stellen - die Zeit ist dafür überreif. Schließlich gibt es seit 1996 einen entsprechenden Rechtsanspruch.

Von der Auffassung, dass in Kindergärten nur gespielt, aber nicht gelernt, bloß keine Bildung und Erziehung vermittelt werden darf, sollten wir uns endlich trennen. Sie ist wirklich veraltet. Die Kindheit ist nicht die Schlafenszeit der Vernunft, wie mancher noch immer glaubt - im Gegenteil: Die kindliche Vernunft ist quicklebendig, sie freut sich auf ihren Sprung ins bunte, spannende Leben, sie ist neugierig auf immer neue Herausforderungen und Erfahrungen. Die alte Lebensweisheit, dass für die Entwicklung eines Kindes die ersten zehn Lebensjahre die wichtigsten sind, hat bisher niemand widerlegt. In ihren ersten Jahren lernen Kinder leicht, spielerisch und unglaublich schnell. Und sie haben sogar noch - meist - Spaß beim Lernen. Fast nebenbei erwerben sie die Grundlagen für alle späteren Lernprozesse. Und weil das so ist, müssen wir uns in dieser frühen Entwicklungsphase künftig auch sehr viel besser um die sozial und kulturell benachteiligten Kinder kümmern. Integration und Förderung muss beginnen, bevor die Schultüten verteilt werden.

Gangbare Wege gibt es. In mehr und mehr Bundesländern werden verbindliche Deutschkurse für Vorschulkinder eingeführt, vor allem zur Förderung von Kindern aus Migrantenfamilien. Hier erwerben sie zum Beispiel einen Grundwortschatz der deutschen Sprache mit Begriffen aus ihrer unmittelbaren Lebenswelt. Darauf können sie dann in der Grundschule aufbauen.

Gute Förderung setzt allerdings auch voraus, dass die Schüler lange zusammenbleiben. Und genau das ist ja eines der Erfolgsrezepte jener Länder, die bei PISA die oberen Plätze belegt haben. Sechsjährige Grundschulen einzurichten, wie hier in Bremen beabsichtigt, halte ich für ganz Deutschland angezeigt. Die frühzeitige Selektion und das Verschicken der Kinder in unterschiedliche Schulformen führt doch nur dazu, dass sogenannte Problemfälle ausgesiebt und sozusagen nach unten durchgereicht werden: vom Gymnasium in die Realschule, von dort zur Hauptschule und dann zur Sonderschule. Das deutsche System verführt dazu, sich problembeladener Schüler zu entledigen, statt Probleme dieser Schüler zu bearbeiten und lösen zu helfen. Es ist unsere gemeinsame Sache, aber auch vor allem Sache engagierter Lehrerinnen und Lehrer, dieser Verführung zu widerstehen.

Wer Lernschwierigkeiten hat, der benötigt ein größeres Maß an Zuwendung und Förderung, an Beratung und Motivation. Der benötigt auch ein auf Langfristigkeit angelegtes Lernumfeld, einen sozialen Raum, der überschaubar und berechenbar ist. Aus der Schulpraxis in anderen OECD-Staaten wissen wir, dass dies nicht nur ein möglicher, sondern auch ein erfolgreicher Weg ist. Junge Menschen, die ihre Schullaufbahn nur aus der Perspektive eines ewig Scheiternden erleben, verlassen die Schule mit erheblichen Beschädigungen.

Der skizzierte Kurswechsel bedarf natürlich einiger Vorleistungen - materieller und organisatorischer, aber auch intellektueller und mentaler Natur. Wir müssen die Vorschulen und Grundschulen so ausstatten, dass sie die von ihnen erwarteten Integrationsleistungen auch tatsächlich kompetent erbringen können. Natürlich steigen dabei die Herausforderungen an die Akteure vor Ort: Auch sie müssen sich mehr und mehr qualifizieren, von alten Gewohnheiten trennen, leistungsschwache Schüler besser fördern. Elternhäuser, Politik, Behörden dürfen die Lehrer dabei nicht im Regen stehen lassen. Die Schule allein kann nicht das reparieren, was anderswo in der Gesellschaft längst vernachlässigt wurde oder womit viele Eltern überfordert sind.

Auch Lehrer benötigen Zuspruch und Unterstützung - Unterstützung von Erziehern, Sozialarbeitern, Psychologen, ehrenamtlich Tätigen und Eltern. Sie brauchen eine sehr viel bessere, praxisorientiertere Ausbildung und bessere Qualifizierungs- und Beratungsangebote als bisher. Sie müssen schon im Studium lernen, wie man einen differenzierten Unterricht macht, einen Unterricht, dem nicht nur leistungsstarke Schüler folgen können, sondern der auch jene mitnimmt, die Lernprobleme haben. Methodik, Pädagogik, Psychologie, Motivationslehre - das sollte mindestens genauso wichtig sein, wie die wissenschaftliche Einführung in dieses oder jenes Fachgebiet.

Lehrer brauchen aber auch - und das sage ich nun als Politiker, der ja schon manche Äußerung gehört hat, hoffentlich nie selber eine solche getan hat - einen Imagewechsel für ihren Berufsstand. Sie selbst tragen zu diesem Imagewechsel bei - durch ihre Leistungen, ihr Engagement, ihre Überzeugungskraft, sie können ihn aber allein nicht schaffen.

Die in unserer Gesellschaft latent vorhandene Missstimmung gegen Lehrer muss endlich beendet werden. Ich kann Sie beruhigen, Politiker sind noch viel schlechter beleumundet als die Lehrer, aber vermutlich können wir uns besser wehren. Wie sollen Lehrer ihre Schüler gut unterrichten, motivieren, fördern und in ihrer Selbstachtung stärken, wenn ihnen in der Öffentlichkeit eher mit Misstrauen und Arroganz und weniger mit Vertrauen und Offenheit begegnet wird? Ich wünsche mir, dass wir dieses Klima der wechselseitigen Vorwürfe überwinden, das ja nicht nur auf dem Gebiet der Bildungspolitik unsere Gesellschaft beherrscht. Es ist so wenig produktiv. Vorwürfe zu machen ist ganz leicht. Also, statt dieses beliebte Spiel der Lehrerschelte weiterzubetreiben, sollten wir, die Eltern, das Gespräch mit den Lehrern suchen, ihre Sicht der Dinge kennen lernen, Hilfe anbieten. Wir wünschen nur, dass wir gelegentlich auch gehört werden, schließlich sind nicht alle Eltern dumm. Eine gute Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule, so meine Erfahrung, kommt den Kindern wirklich zugute.

In Vorbereitung auf die heutige Tagung habe ich mich natürlich nicht nur mit den Bremer PISA-Resultaten beschäftigt, die ich hier ja nicht referieren muss, sondern auch mit der Frage, was außerhalb des Unterrichts an den Schulen läuft, womit sich Bremer Schülerinnen und Schüler in ihrer Freizeit beschäftigen. Und da sticht eine lange Liste der Erfolge Bremer Schulen bei überregionalen Wettbewerben sofort ins Auge, etwa bei "Demokratisch Handeln", "Jugend forscht", "Jugend musiziert", bei den "Umweltschulen", bei Mathematik-Olympiaden, bei Fremdsprachen-Wettbewerben, bei den Ausscheiden der Schultheater und nicht zuletzt bei den "Multimedia-Schulen". Wenn ich diese Erfolgsbilanz sehe und an die Projektschau auf dieser Tagung denke, bin ich versucht zu glauben, dass die Bremer Schülerinnen und Schüler doch "besser", vielleicht sollte ich sagen: doch phantasievoller sind, als die PISA-Ergebnisse es nahelegen. Und nun folgt noch ein tröstlicherer Satz: Das Leben ist eben doch bunter als Zahlen mitunter glauben machen, auch die der PISA-Studie.

Eines der Schulprojekte, die hier auch auf der Leistungsschau vorgestellt wurden, hat mich besonders beeindruckt; ich kannte es schon, ich wurde nur daran erinnert: das seit neun Jahren bestehende "Sachsenhausen-Projekt" des Schulzentrums an der Alwin-Lonke-Straße. Hier kommt vieles zusammen: Auszubildende aus Bauberufen fahren jedes Schuljahr im Rahmen einer Projektwoche in das ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin. Sie helfen dort als Maurer, Fliesenleger, Tischler und Maler bei der Sanierung der heutigen Gedenkstätte. Sie erforschen die Geschichte des Lagers, informieren sich über die Verbrechen des Nationalsozialismus, diskutieren über die Ursachen von Rechtsradikalismus und Gewalt und Krieg - auch heute. Spannend finde ich auch, dass die Bremer Azubis diese Woche gemeinsam mit Jugendlichen aus einer brandenburgischen Partnerschule in Hennigsdorf verbringen. Die Azubis arbeiten zusammen, teilen Erfahrungen und Ergebnisse. Und sie streiten natürlich auch über die noch immer zu spürenden wechselseitigen Vorurteile zwischen Wessis und Ossis. Aus der Projektdokumentation, aus den schriftlichen Statements der Teilnehmer lässt sich ablesen, was sie in Sachsenhausen beschäftigt und bewegt - und wie sie das Ganze bewegt. Auf die Frage "Was nimmst du an Erfahrungen, Eindrücken aus dem Projekt mit?" antwortete der Fliesenleger Jan: "Vor allem hat es sich gelohnt, den Urlaub für die Woche zu nehmen, weil ich ihn für eine sinnvolle Sache genutzt habe." Ich finde das ganz irre: Urlaub nehmen für eine sinnvolle Sache, das ist nicht selbstverständlich. Und die Fachoberschülerin Anja schreibt: "Es sollten mehrere Projekte dieser Art an anderen Schulen stattfinden."

Schule, das ist hier die Botschaft, kann mehr sein als Pauken. Schule muss nicht langweilen. Schule ist in der Lage, vielfältige Kompetenzen auszubilden und Schülern beizubringen: Rechnen, Schreiben, Lesen lernen - das ist unverzichtbar, aber Bildung ist eben mehr. Und: Engagement für andere lohnt sich, es bereichert und stiftet Sinn. Ich jedenfalls möchte die Verantwortlichen des Schulzentrums an der Alwin-Lonke-Straße ermuntern, dieses eindrucksvolle Projekt weiterzuführen und andere Schulen zu Ähnlichem anzustiften.

Abschließend noch ein Satz zu PISA und den Folgen: Die Fachleute sagen, dass es zehn bis fünfzehn Jahre dauert, bis Reformen Wirkungen bei den Schülern und ihren Leistungen zeigen. Ich bin da etwas optimistischer oder will es sein: Ich denke, wenn sich das Bildungsklima in unserem Lande spürbar verändert, wenn der Wert von Bildung von immer mehr Menschen erkannt wird und sich die Beteiligten zusammensetzen – ob als Politiker oder Pädagoge oder Eltern oder als Wissenschaftler – und die notwendigen Reformen umsetzen, dann werden wir schon, hoffe ich, sehr viel früher Veränderungen auch im Leistungsniveau der Kinder und Jugendlichen feststellen können.

Ihre heutige Tagung ist, glaube ich, ein wichtiger Schritt auf diesem Weg gemeinsam diskutierter und gemeinsam verantworteter Veränderungen. Ich wünsche Ihnen und uns Erfolg dabei in den nächsten Monaten und Jahren.

30.636 Zeichen

Quelle: http://www.bundestag.de/bic/presse/2003/pz_030206
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