> Sonderausgabe > Vorgezogene Bundestagswahlen 2005
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Als Bundespräsident Horst Köhler am Abend des 21. Juli das Wort an die Menschen in Deutschland richtet, kommt er sofort zur Sache: „Ich habe heute den 15. Deutschen Bundestag aufgelöst und Neuwahlen für den 18. September angesetzt.“ Klare Sätze, eine knappe Ansprache, der Präsident lässt keine Zweifel. Er sieht die Voraussetzungen für die Auflösung des Parlaments erfüllt. 20 Tage nach der Abstimmung im Bundestag über die Vertrauensfrage beendet Köhler damit das Rätselraten und informiert Millionen Zuschauer per Fernsehansprache zur besten Sendezeit über seine Entscheidung.
Aufatmen bei Regierung und Opposition, bei den Fraktionen des Bundestages, in der ganzen deutschen Öffentlichkeit: Der Präsident gab grünes Licht, die wochenlange Ungewissheit hatte ein Ende. Die Auflösung des Parlaments ist einer der seltenen Fälle, in denen der erste Mann im Staate als politischer Entscheidungsträger gefragt ist. Natürlich wisse er um das „Unbehagen“, das viele Menschen wegen des Verfahrens hätten, räumte Köhler ein. Nach drei Wochen intensiver Beratung komme er aber in der „Gesamtabwägung“ zu dem Ergebnis, „dass dem Wohl unseres Volkes mit einer Neuwahl jetzt am besten gedient ist.“ Zugleich rief er die Menschen vor den Bildschirmen auf, zur Wahl zu gehen: „Jetzt haben Sie es in der Hand. Schauen Sie bitte genau hin.“
Wochenlang hatte Köhler mit seinen Beratern im Präsidialamt den Fall geprüft. Er hatte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1983 Wort für Wort studiert und vom Kanzler ein umfassendes Dossier mit Erläuterungen zu dessen Schritt angefordert. 1983 hatte das Bundesverfassungsgericht über die Auflösung des Bundestages durch den damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens zu urteilen. Bundeskanzler Helmut Kohl hatte zuvor bei der Vertrauensfrage im Bundestag wie beabsichtigt keine Mehrheit erzielt und Carstens die Parlamentsauflösung vorgeschlagen. Die Verfassungsrichter bestätigten damals die Entscheidung, stellten aber zugleich Kriterien für den Umgang mit dem Instrument „Vertrauensfrage“ auf.
Köhler bezog sich sehr genau auf die Vorgaben, die das höchste Gericht vor 22 Jahren in seiner Entscheidung gemacht hatte: Der Kanzler habe deutlich gemacht, „dass er mit Blick auf die knappen Mehrheitsverhältnisse keine stetige und verlässliche Basis für seine Politik mehr sieht“, begründete der Präsident seinen Schritt. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse begrüßte die Entscheidung: „Ich bin dem Bundespräsidenten dankbar, dass er ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass diese Auflösung dem Grundgesetz entspricht, also dass dieser Weg keine Trickserei, kein absurdes Theater ist, wie manche in der Öffentlichkeit behauptet haben, sondern dass dies der Weg ist, den das Grundgesetz vorsieht.“
Dessen ungeachtet gingen in Karlsruhe auch diesmal Klagen ein: Die SPD-Abgeordnete Jelena Hoffmann, der Parlamentarier Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen) und einige kleinere Parteien wollten erreichen, dass das Verfassungsgericht die Wahlen stoppt. Sie halten den Vertrauensverlust des Kanzlers für vorgetäuscht und wollten sich nicht mit dem Urteil des Präsidenten abfinden. So wie 1983, als vier Abgeordnete eine „unechte Vertrauensfrage“ beklagten und vor das Verfassungsgericht zogen. Die Karlsruher Richter wiesen damals die Klage zwar zurück, begrenzten aber die Möglichkeiten, die Vertrauensfrage als Mittel zur Auflösung des Parlaments zu nutzen.
Rückblende: Am Abend des 22. Mai, kaum hatten die Wahllokale bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen geschlossen, überraschten SPD-Chef Müntefering und Bundeskanzler Schröder mit ihrem Neuwahlplan. Nach dem „bitteren Ergebnis“ für die SPD in Düsseldorf sei seine Reformpolitik in Frage gestellt, erklärte der Regierungschef damals. Er betrachte es daher als seine Pflicht und Verantwortung, darauf hinzuwirken, „dass der Herr Bundespräsident von den Möglichkeiten des Grundgesetzes Gebrauch machen kann.“ Er kündigte an, im Bundestag die Vertrauensfrage stellen zu wollen – mit dem Ziel, zu scheitern und vorgezogene Wahlen anzustreben.
Gerhard Schröder auf den Spuren von Willy Brandt und Helmut Kohl. Diese beiden Amtsvorgänger hatten 1972 beziehungsweise 1982 auch das im Artikel 68 des Grundgesetzes vorgesehene Instrument der Vertrauensfrage genutzt, um die Auflösung des Bundestages anzustreben und die Wählerinnen und Wähler neu entscheiden zu lassen. Im Dezember 1982 hatte Kohl, ähnlich wie jetzt Schröder, die Vertrauensfrage gestellt und trotz parlamentarischer Mehrheit im Bundestag bewusst eine Niederlage bei der Abstimmung im Bundestag organisiert, um Neuwahlen zu erreichen.
Auch diesmal wollte der Kanzler ausdrücklich die Neuwahlen. Und Schröder wählte den gleichen Weg wie sein Vorgänger Kohl: Am 1. Juli 2005 kam es im Plenum des Bundestages zur „Beratung des Antrags des Bundeskanzlers gemäß Artikel 68 Grundgesetz, ihm das Vertrauen auszusprechen“, wie es offiziell für das Plenarprotokoll heißt. Ein historischer Vorgang, der in die Parlamentsgeschichte eingehen wird.
Der „bittere Ausgang“ der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen sei nur „das letzte Glied in einer Kette schmerzlicher Wahlniederlagen“, die ihm nicht mehr erlaubten, seine Reformpolitik fortzusetzen, begründete Schröder vor den Bundestagsabgeordneten seinen Schritt. Die Vertrauensfrage sei für ihn „ein Gebot der Fairness“. Die Reformpolitik sei gefährdet, die Handlungsfähigkeit nicht mehr gegeben – er wolle „mit der politischen Mechanik, mit der Physik der Macht gleichsam brechen“, erläuterte der Kanzler. 148 Abgeordnete der Regierungskoalition enthielten sich bei der namentlichen Abstimmung der Stimme. Das Parlament verweigerte das Vertrauen, Schröder schlug am gleichen Tag dem Bundespräsidenten die Auflösung des Parlaments vor.
1983 hatte das Bundesverfassungsgericht klar gemacht, dass der Weg zu Neuwahlen über die Vertrauensfrage nur begangen werden könne, wenn es politisch für den Bundeskanzler nicht mehr gewährleistet sei, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiter zu regieren. Der Verfassungsrechtler Peter Badura beurteilt die heutige Situation so: „Es ist eine politisch krisenhafte Situation entstanden. Durch die knappe Mehrheit im Bundestag und die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat scheint mir die verfassungsrechtliche Voraussetzung erfüllt zu sein.“
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben auf Grund der Erfahrungen aus der Weimarer Republik hohe Hürden im Falle einer Auflösung des Parlaments vorgesehen. Nach der Weimarer Reichsverfassung konnte der Reichspräsident jederzeit den Reichstag auflösen – ein Recht, von dem häufig Gebrauch gemacht wurde. Heute ist es anders: Solange es eine stabile Mehrheit gibt, auf die sich der Kanzler stützen kann, ist keine Auflösung des Bundestages möglich.
Auf ein Recht des Bundestages zur Selbstauflösung wurde im Grundgesetz verzichtet. Im Zuge der aktuellen Debatte werden allerdings Forderungen danach laut. „Wenn man die Erfahrungen aus der Weimarer Republik genauer betrachtet, sprechen sie nicht wirklich gegen ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments“, erklärt der Bonner Staatsrechtler Professor Christian Hillgruber. Damals habe lediglich der Reichspräsident, nicht aber das Parlament ein Auflösungsrecht gehabt. Kritiker eines Selbstauflösungsrechts befürchten hingegen die Gefahr des Missbrauchs mit der Folge politischer Instabilität. Denn einem Parlamentsvotum für vorgezogene Neuwahlen könne sich eine Opposition – die ja selbst an die Regierung will – kaum verweigern, ohne unglaubwürdig zu werden. Außerdem werde dem Parlament mit einem generellen Selbstauflösungsrecht der Weg eröffnet, sich bei politischen Schwierigkeiten der Verantwortung zu entziehen und in vorgezogene Wahlen zu flüchten.
Um ein vorzeitiges Ende der Wahlperiode anzustreben, stehen nach geltender Verfassungslage zwei Wege offen. Ein Weg würde über den Rücktritt des Kanzlers führen. Wenn danach der Bundestag auch im letzten Wahlgang nach Artikel 63 des Grundgesetzes keinen neuen Bundeskanzler wählt, der die Stimmen der Mehrheit seiner Mitglieder auf sich vereinigt, kann der Bundespräsident den Bundestag auflösen.
Der zweite Weg führt über die Vertrauensfrage: Stellt sich bei der Vertrauensabstimmung nach Artikel 68 des Grundgesetzes nicht die Mehrheit aller Abgeordneten hinter den Kanzler, dann kann der Bundespräsident den Bundestag auf Vorschlag des Regierungschefs binnen 21 Tagen nach der Abstimmung auflösen – so wie es Horst Köhler getan hat. Innerhalb von 60 Tagen muss dann gewählt werden. Hätte der Bundestag zwischen Vorschlag und Entscheidung des Präsidenten mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Kanzler gewählt, wäre das Auflösungsrecht des Staatsoberhauptes erloschen.
Das konstruktive Misstrauensvotum nach Artikel 67 Grundgesetz zielt hingegen nicht auf ein vorzeitiges Ende der Legislaturperiode. Mit diesem Verfahren kann das Parlament dem Kanzler das Misstrauen aussprechen, wenn es mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt. 1982 gelang Union und FDP mit der Wahl Helmut Kohls das bisher einzige erfolgreiche konstruktive Misstrauensvotum. Der Bundestag stürzte den Kanzler Helmut Schmidt.
Fünf Mal in der Geschichte des Bundestages hat ein Kanzler die Vertrauensfrage gestellt. Wie 1982 Helmut Schmidt, als es um den Nato-Doppelbeschluss ging, verband Gerhard Schröder im November 2001 die Abstimmung über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan wegen der Widerstände in den eigenen Reihen mit der Vertrauensfrage. In beiden Fällen hatte sie das Ziel, das Vertrauen des Parlaments zu erhalten und so die Regierungspolitik abzusichern. Bei Brandt 1972, Kohl 1982 und nun bei Schröders zweiter Vertrauensfrage ging es hingegen darum, Neuwahlen zu erreichen.
Zum dritten Mal erleben die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik nun vorgezogene Neuwahlen. Der Entschluss des Präsidenten sei richtig, er habe ihn verfassungsrechtlich tragfähig begründet, meint Staatsrechtler Hillgruber. „Der Bundeskanzler kann sich nach eigener Einschätzung nicht mehr auf seine Regierungsmehrheit verlassen. Der Bundespräsident kann dies nicht widerlegen.“ Das ist eine weit verbreitete Meinung unter den Staatsrechtsexperten. Die Würfel sind gefallen. Die Wahlkämpfer in den Parteien, die Journalisten bei Zeitungen und im Hörfunk und die vielen Wahlhelferinnen und Wahlhelfer vor Ort – sie alle machen seit Wochen Überstunden, um auf den 18. September vorbereitet zu sein. Denn dann entscheiden die Menschen in Deutschland, wer sie in den nächsten vier Jahren im Parlament vertritt.
Text: Andreas Herholz
Fotos: studio kohlmeier, Picture-Alliance
Erschienen am 13. September 2005