> Sonderausgabe > Das Wahlsystem in Deutschland
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Wählen ist wichtig. Denn „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – so steht es im Grundgesetz. Wer uns regiert, wer die Gesetze macht – alles hängt von vier kleinen Strichen ab. Von den beiden Kreuzen, die jeder Wahlberechtigte auf seinen Stimmzettel macht. Die Entscheidung der Wählerinnen und Wähler steht im Zentrum unserer Demokratie. Alles andere leitet sich davon ab: Direktmandate und Landeslisten, Erst- und Zweitstimmen, Überhangmandate und das Verhältnisprinzip. Das alles klingt kompliziert – aber tatsächlich ist es ganz einfach. So wie das Wählen selbst.
Am Anfang jeder Bundestagswahl steht die Wahlbenachrichtigung. Sie informiert, wann die Wahllokale geöffnet sind und wo sie sich befinden. Meistens ganz in der Nähe. In einer Schule zum Beispiel oder in einem Kindergarten. Am Wahltag ist die Bundespolitik ganz nah dran an allen Bürgerinnen und Bürgern. Hier wird nicht die unverbindliche Meinung abgefragt, hier wird entschieden. Und zwar von jedem Einzelnen. Deshalb soll ein kleiner Spaziergang reichen für diese wichtigste staatsbürgerliche Tat.
Wer wenige Wochen vor dem Wahltag noch keine Benachrichtigung bekommen hat, sollte sich an sein Rathaus wenden. Dort wird das geregelt. Wenn etwa ein Umzug noch keine 35 Tage zurückliegt, kann es zu Schwierigkeiten beim korrekten Versand der Benachrichtigung kommen. Das Grundprinzip der Demokratie ist, dass jeder beim Wählen gleich ist. So muss auch vermieden werden, dass jemand an seinem alten und an seinem neuen Wohnort gleichzeitig wählt.
Alle Wählerinnen und Wähler haben zwei Entscheidungen zu treffen. Mit der ersten Stimme legt jeder fest, wer ihn und die Menschen seiner Stadt oder Region direkt in Berlin vertreten soll. Mit der zweiten Stimme entscheidet man, welche Partei die Mehrheit im Bundestag erhalten soll.
Das heißt: Die erste Stimme bezieht sich auf den jeweiligen Wahlkreis. Der Kandidat, der die meisten Kreuze bekommt, ist automatisch und direkt für vier Jahre Abgeordneter, völlig unabhängig vom Gesamtergebnis seiner Partei. Er hat das Vertrauen der meisten Wähler seiner Region. Dieses Direktmandat stellt sicher, dass jede Region Deutschlands in Berlin Gewicht und Gesicht hat. Eigentlich könnte das ausreichen: Jede Region entsendet einen Vertreter, und diese entscheiden dann gemeinsam, welche Gesetze gemacht werden. Der Haken bei solch einem reinen Mehrheitswahlrecht: Alle Stimmen für die unterlegenen Bewerber werden nicht berücksichtigt.
Damit im Parlament der Willen der gesamten Wählerschaft gerecht repräsentiert ist, wird die Sitzverteilung im Bundestag nach dem Verhältnisprinzip bestimmt. Denn entscheidend für das Gewicht der Parteien im Bundestag ist die Zweitstimme. Diese heißt so, weil sie an zweiter Stelle auf dem Wahlzettel steht – und nicht, weil sie weniger wichtig ist. Im Gegenteil: Die Zweitstimme entscheidet darüber, welche Partei die Nummer eins in der Bundesrepublik wird. Und sie bestimmt, welche Fraktion oder welche Parteienkoalition im neuen Bundestag die Mehrheit haben wird, um den Bundeskanzler zu wählen.
Mit der Zweitstimme wird festgelegt, in welchem Verhältnis die Parteien im Bundestag vertreten sind – daher spricht man hier von Verhältnisprinzip. In jedem Bundesland werden die Zweitstimmen unabhängig von den Erststimmen ausgezählt. Der Anteil an Zweitstimmen bestimmt die Zahl der Mandate einer Partei insgesamt und damit das Kräfteverhältnis der Parteien im Parlament. Bundesländer mit vielen Einwohnern schicken mehr Abgeordnete als Bundesländer mit wenigen. Jede Stimme muss gleiches Gewicht haben. Damit nicht in einem Bundesland 10.000 und in einem anderen 500.000 Wähler über ein Mandat bestimmen. Bei der Auszählung der Zweitstimmen erhält eine Partei den Anteil an Sitzen, der ihrem Anteil an Wählerstimmen entspricht. So kommen auch kleine Wählergruppen, deren Partei beispielsweise im Schnitt nur sieben Prozent der Stimmen erhält und die deshalb in den Wahlkreisen keinen Direktkandidaten entsenden können, zu ihrem Recht auf eine angemessene Vertretung im Bundestag.
Jede Zweitstimme zählt für die Sitzverteilung – es sei denn, sie wurde für eine Partei abgegeben, die an der Sperrklausel („Fünf-Prozent-Hürde“) scheitert. Denn eine Partei muss bundesweit mindestens fünf Prozent der abgegebenen Zweitstimmen erhalten, um im Bundestag vertreten zu sein – abgesehen von der Ausnahmeregelung für Parteien nationaler Minderheiten. Oder sie muss mindestens drei Direktmandate errungen haben, um bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten berücksichtigt zu werden. Die Sperrklausel soll helfen, die Zersplitterung des Parteiensystems zu vermeiden.
Der Bundestag wird nach dem Verhältniswahlrecht gewählt, in das Elemente des Mehrheitswahlrechts integriert sind. Über die Mehrheiten und die Sitzverteilung im Parlament entscheidet das Verhältnis der von den Parteien erzielten Zweitstimmen. Die eine Hälfte der insgesamt 598 Abgeordneten sind dabei Politiker, die in ihrer Heimatregion jeweils die meisten Erststimmen erhalten haben, also direkt gewählt wurden. Die andere Hälfte der Abgeordneten zieht über die Landeslisten der Parteien gemäß dem Zweitstimmenanteil in den Bundestag ein.
So hat der Stimmzettel zwei Abteilungen: In der linken Spalte für die Erststimme steht in jeder Rubrik jeweils nur ein Name – der des Wahlkreiskandidaten. In der rechten Spalte für die Zweitstimme hingegen sind je Partei mehrere Namen abgedruckt. Das sind die Kandidaten auf den ersten Plätzen auf den Landeslisten der Parteien. Mit der Auszählung der Stimmen wird der prozentuale Anteil jeder Partei in jedem Bundesland festgestellt. Von der Gesamtzahl der daraus resultierenden Sitze werden zunächst die in Wahlkreisen errungenen Direktmandate abgezogen. Dann wird von den Landeslisten „von oben weggenommen“: Eine Partei, die nach Abzug der Direktmandate noch Anspruch auf zehn Sitze hat, schickt die ersten zehn der Liste ins Parlament. Wer auf der Liste steht, zugleich aber auch ein Direktmandat errungen hat, wird übersprungen. Abgeordnete, die hingegen in ihrem Wahlkreis unterlegen sind, können dank einer guten Platzierung auf der Landesliste in den Bundestag einziehen.
Die Landeslisten haben die Parteien auf Parteitagen aufgestellt. Auf den Landeslisten stehen Politiker, die die Parteien für geeignet halten und von denen sie annehmen, dass sie von den Wählern besonders geschätzt werden. Mit einem oberen Listenplatz verbindet sich die Erwartung, sicher ins Parlament einzuziehen – aber eine Garantie ist er nicht. Stehen etwa einer Partei nach der Auszählung der Zweitstimmen in einem Bundesland 15 Abgeordnetensitze zu, so kann es passieren, dass selbst der allererste Listenplatz nicht „zieht“, wenn bereits 15 andere Parteifreunde in ihren Wahlkreisen direkt gewählt wurden. Dann wäre selbst der Spitzenkandidat der Landesliste nicht gewählt – es sei denn, er ist unter jenen 15, die ein Direktmandat gewonnen haben.
Das zeigt, welches Gewicht in Deutschland die Meinung der Heimatregionen hat und wie nahe die Entscheidungsgewalt bei jedem einzelnen Wähler liegt. Beleg hierfür sind auch die so genannten Überhangmandate: Die Anzahl der Wahlkreismandate kann nämlich die eigentlich nach dem Zweitstimmenanteil festgeschriebene Sitzverteilung verändern. Stehen zum Beispiel einer Partei in einem Bundesland nach ihrem Anteil an den Zweitstimmen 15 Sitze zu, hat sie zugleich aber in 17 Wahlkreisen mit ihren Kandidaten die Mehrheit der Erststimmen gewonnen, bekommt sie nicht 15, sondern 17 Abgeordnete. Schließlich sind alle 17 direkt gewählt, alle 17 haben das Vertrauen der Mehrheit der Wähler in ihrer Heimat. So entstehen zwei Überhangmandate.
Wählen dürfen alle deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Die Voraussetzungen, um das aktive Wahlrecht auszuüben: Man muss am Wahltag mindestens 18 Jahre alt sein und seit mindestens drei Monaten im Bundesgebiet wohnen. Es gibt einige Sonderregelungen. Schließlich sollen etwa deutsche Seeleute, die seit Monaten auf hoher See sind, bei der Zusammensetzung des Parlaments mitbestimmen. Natürlich sind auch alle anderen Deutschen, die im Ausland leben, in ihrer Heimat wahlberechtigt. Man braucht nicht selbst ins Wahllokal gehen, um seine Stimme abzugeben. Wenn eine Krankheit oder etwas Wichtiges dazwischenkommt, kann jeder Bürger von der Möglichkeit der Briefwahl Gebrauch machen. Dafür sollte man frühzeitig bei der zuständigen Gemeindebehörde den Antrag stellen, um die Briefwahlunterlagen zu erhalten.
Jeder Deutsche, der mindestens 18 Jahre alt ist, kann auch das passive Wahlrecht ausüben – das heißt, sie oder er kann sich um ein Mandat bewerben und in den Bundestag gewählt werden. Entweder, indem eine Partei ihn im jeweiligen Wahlkreis oder auf der Landesliste aufstellt, oder aber, indem mindestens 200 Wahlberechtigte mit Anschrift und Unterschrift bezeugen, dass sie ihn vorschlagen. Die Unterlagen werden noch von den Behörden überprüft – und schon steht der Name mit auf dem Stimmzettel. Nun kommt es auf die Wählerinnen und Wähler an. Sie entscheiden, welchem Kandidaten sie in ihrem Wahlkreis den Vorzug geben. Jede Stimme zählt. Und die kann zusammen mit Gleichgesinnten den Nachbarn in den Bundestag bringen – oder einer Partei den Wahlsieg. Jede einzelne Stimme entscheidet, wer Deutschland regiert.
Text: Sönke Petersen
Fotos: Picture-Alliance
Grafik: Karl-Heinz Döring
Erschienen am 13. September 2005