Deutscher Bundestag
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April 03/1999
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Umzug Bonn Berlin

Mit der feierlichen Übergabe des umgebauten Reichstagsgebäudes an den Deutschen Bundestag rückt der Wechsel des Parlaments an die Spree in greifbare Nähe. Ist der Umzug des Deutschen Bundestages von Bonn nach Berlin nur eine Formsache oder der Beginn einer neuen Ära in der deutschen Politik?
Der neue Plenarsaal im reichstagsgebäude
Antike Fotografie von Wegweisern

Dazu die Meinungen der Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag auf den folgenden Seiten.

Peter Struck, SPD

"Wir sind und bleiben Bundesrepublik Deutschland"

Peter Struck, SPD

Jeder Umzug bedeutet Zäsur. Abschied von Vertrautem, aber auch gespanntes Warten auf das Neue. Jeder, der umzieht, gibt etwas auf und gewinnt gleichzeitig hinzu. Da geht es dem Parlament nicht anders als jeder Familie, die die Koffer packen muß. Der Umzug von Bonn nach Berlin ist weder eine Formsache noch beginnt mit ihm eine neue Ära. Die Veränderungen, die er mit sich bringt, müssen irgendwo zwischen diesen beiden Polen angesiedelt werden. Das Vertraute des kleinen Regierungsviertels am Rhein wird fehlen. Der Metropole Berlin werden Parlament und Regierung nicht so dominant den Stempel aufdrücken können, wie das in Bonn möglich war. Salopp gesagt: In der Hauptstadt müssen sich die demokratischen Institutionen die Aufmerksamkeit mit vielen Highlights teilen.

Ich halte nichts davon, jetzt so zu tun, als begäben wir uns auf die Reise von der Bonner in die Berliner Republik. Wir sind und bleiben Bundesrepublik Deutschland. Leichtfertig sollten wir von dieser Selbstverständlichkeit nicht abgehen. Wir wollen und brauchen keine andere Republik. Denn die sozialen und demokratischen Traditionen, die sich in fünfzig Jahren am Rhein gebildet haben, sind eine Erfolgsgeschichte, auf die wir stolz sein können.

Dennoch wird unser Blickwinkel sich ändern. Er wird in Berlin stärker von unserer Geschichte geprägt. Entrinnen geht da nicht. Wegschauen ist nicht möglich. Massierter als anderswo werden wir in der Hauptstadt mit den Zeugen von Glück und Unglück konfrontiert. In Berlin wurde die erste Republik ausgerufen, aber genauso der totale Krieg. Berlin, das ist der Ort des Aufstandes gegen die DDR­Diktatur am 17. Juni 1953 und der Ort, an dem sich im November 1989 die Mauer nach den Demonstrationen der Bürger öffnete.

Mit dem Einzug des Bundestages in den Reichstag stellt sich das Parlament dieser Geschichte. Wie kaum ein anderes Gebäude steht er für die Höhen und Tiefen der jüngeren deutschen Vergangenheit. Er begleitete das Land als Parlamentssitz aus dem Reich der Hohenzollern in die erste deutsche Demokratie, wurde von Rechten als "Schwatzbude" abgetan und war Schauplatz von Hitlers Machtergreifung. Die Mißachtung des Parlaments als Ort demokratischer Willensbildung war der Vorbote der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, die dieses Jahrhundert überschattet hat. Später stand der Reichstag mahnend an jener Narbe namens Mauer, die das Land nach dem Krieg zerrissen hat.

Der Einzug des Parlaments in dieses Haus muß Verpflichtung sein für den Umgang gegenseitiger Achtung der Demokraten. Nie wieder darf von hier aus durch Mißachtung der Demokratie Schaden zugefügt werden. Dies muß Konsens sein für alle demokratischen Parteien und Fraktionen, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen willens sind.

Zu hoffen ist, daß der Umzug an die Schnittstelle des lange zweigeteilten Landes mehr als ein Zeichen des Zusammenwachsens wird, daß er tatkräftig hilft, sich gegenseitig besser zu verstehen und Trennendes vergessen zu machen. Manche Erwartungen, die mit dem Umzug gehegt werden, halte ich für eine Mär. Beispielsweise die Behauptung, die soziale Wirklichkeit könne im pulsierenden Berlin besser wahrgenommen werden als im beschaulichen Bonn. Alle Abgeordneten kennen die Wirklichkeit aus ihren Wahlkreisen. Wer sie wahrnehmen wollte, konnte das bisher. Wer sie verdrängt hat, wird weiter die Möglichkeit haben.

Für die Bürger darf nicht das Wo des Parlaments entscheidend sein. Sie müssen sich darauf verlassen können, daß in Berlin genau wie in Bonn um die besten Lösungen fürs Land gerungen wird. Der Bundestag macht entweder schlechte oder gute Gesetze. Ob am Rhein oder an der Spree. Daran muß er sich ganz unabhängig vom Standpunkt von den Bürgern messen lassen.

Der Umzug verlangt uns Parlamentariern Umstellung ab. Den Bürgern aber muß er Kontinuität garantieren. Und unseren Nachbarn auch. Das Koordinatensystem unserer Politik wird sich durch ihn nicht verschieben. Wir brauchen weiterhin eine Politik, die nach innen wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit sozialer Gerechtigkeit verbindet und nach außen eine der guten Nachbarschaft bleibt. Diese Traditionen, die über weite Teile die Bundesrepublik geprägt haben, werden wir mit nach Berlin nehmen. Der Umzug nach Berlin bedeutet stärkere Begegnung mit unserer Geschichte. Er ist aber keine Reise in die Vergangenheit. Er markiert den Aufbruch in eine chancenreiche Zukunft.

Wir ziehen zwar in die größte deutsche Metropole. Doch wir sind weit davon entfernt, den Rest der Republik als Provinz abzutun. Der Föderalismus wird auch künftig tragende Säule unseres Gemeinwesens bleiben. Johannes Rau, unser Kandidat für das höchste Staatsamt, hat recht, wenn er sagt: "Das Fundament deutscher Politik, das in den vergangenen fünfzig Jahren gelegt worden ist, wird auch in Berlin tragen."

Wolfgang Schäuble, CDU/CSU

"Aus der Behaglichkeit ausbrechen und sich der neuen Wirklichkeit stellen"

Wolfgang Schäuble, CDU/CSU

Jeder, der selbst schon einmal umgezogen ist und seinen kompletten Hausstand in eine neue und ungewohnte Umgebung verlegt hat, kennt den Zauber, der trotz aller Unbequemlichkeiten des Ein­ und Auspackens jedem neuem Anfang innewohnt. Wenn dem nicht so wäre und wenn man sich vom Ortswechsel nicht mehr Chancen als Risiken versprechen würde, hätte man es ja gleich bleiben lassen können. Deshalb ist es durchaus angebracht, hier noch einmal an die Gründe zu erinnern, die die Mehrheit des Deutschen Bundestages dazu bewogen hat, sich am 20. Juni 1991 für die Verlegung des Sitzes von Parlament und Regierung vom Rhein an die Spree zu entscheiden.

Einer der Gründe für die Entscheidung vom 20. Juni 1991 war die von fast allen geteilte Überzeugung, daß die endgültige Überwindung der Teilung die Bereitschaft zum Teilen erfordert, was vor acht Jahren genauso wie heute in erster Linie heißt, daß wir gemeinsam bereit sein müssen, die Veränderungen miteinander zu tragen, die sich durch die deutsche Einheit ergeben. Ohne Zweifel haben die größten Veränderungen und die schwierigsten Umstellungen die Menschen in den neuen Bundesländern auf sich genommen und oft vorbildlich gemeistert. Aber auch in den alten Bundesländern konnte und kann nicht alles so bleiben, wie es war, wenn wir die innere Einheit vollenden und die Herausforderungen der Zukunft wirklich gemeinsam bestehen wollen. Diese Veränderungsbereitschaft vor allem im Westen sowohl zu fördern als auch symbolisch auszudrücken, ist Sinn und Zweck dieser Geste des Parlaments, aus der Behaglichkeit auszubrechen und sich der neuen Wirklichkeit zu stellen.

Ein weiterer Grund für den Ortswechsel in östlicher Richtung war und ist immer noch die Verpflichtung, die Errungenschaften der Einigung Europas, Frieden, Freiheit und soziale Stabilität nicht auf Westeuropa beschränkt zu lassen, sondern sie auf unsere Freunde und Nachbarn jenseits des ehemals Eisernen Vorhangs auszudehnen. Denn gerade wir Deutschen haben ein vitales Interesse daran, daß Europa nicht an der Oder aufhört. Und in dieser Hinsicht bleibt die Entscheidung für Berlin auch eine Entscheidung für Europa und für die Überwindung seiner Teilung.

Wenn wir diese Überzeugungen mitnehmen in unserem Umzugsgepäck und wachhalten in unserem Bewußtsein an der neuen Arbeitsstätte, dann schaffen wir Kontinuität in den besten und unverzichtbaren Grundsätzen unserer Politik, wie sie Tradition und Konsens in den vergangenen 50 Jahren waren und in den kommenden Jahrzehnten durchaus bleiben sollten. Wir bauen also auch in Berlin auf den alten und bewährten Fundamenten auf und nehmen deshalb in den wesentlichen Fragen keinen Richtungswechsel vor. Verläßlichkeit und Solidarität sowohl nach innen, zwischen Starken und Schwachen, zwischen neuen und alten Bundesländern, zwischen Gesellschaft und Staat, als auch nach außen, zu unseren europäischen Freunden und zu den Partnern im Bündnis werden auch von Berlin aus Kennzeichen deutscher Politik bleiben. Auch hier gilt im Großen wie im Kleinen, im Politischen wie im Privaten: Wer umzieht, entledigt sich nicht deshalb seines kostbarsten und wertvollsten Inventars.

Selbstverständlich wird und soll sich ja auch einiges ändern im politischen Betrieb. In Berlin kommt die Politik in eine völlig neue Umgebung. Der Gegensatz zwischen der doch recht geschützten Atmosphäre des Bonner Regierungsviertels auf den Feldern zwischen Bonn und Bad Godesberg einerseits und der von gewaltigen Aufbrüchen geprägten Metropole andererseits könnte größer kaum sein. Ich verspreche mir davon vor allem eine selbstverständlichere und natürlichere Einbeziehung des politischen in das großstädtische Leben. Die Standorte von Parlament und Ministerien sind so in die Mitte Berlins eingebettet, daß sie und die dort arbeitenden Menschen sich dem Leben der Metropole gar nicht entziehen können. Sie müssen sich vielmehr den um sie herum sich vollziehenden Veränderungen aussetzen und auch ein Stück weit anpassen. Dies kann der Politik im Sinne der Bewährung an der Wirklichkeit und der Tauglichkeit für die Praxis nur nutzen. Der Austausch zwischen Politik einerseits und Kultur, Medien, Wissenschaft und den vielen anderen Aspekten großstädtischer Gesellschaft andererseits wird allen Seiten zum Vorteil gereichen, Horizonte erweitern und gegenseitiges Verstehen erleichtern. Die Qualität der Politik wie auch ihre Akzeptanz bei den Bürgern werden sich verbessern.

Formsache – um auf den Wortlaut der gestellten Frage zurückzukommen – wird allein der eigentliche Umzugsvorgang, also seine technische und logistische Dimension sein. Ungeachtet aller Unbequemlichkeiten, Holprigkeiten und Anlaufschwierigkeiten, die es eben mit sich bringt, wenn man an dem einen Ort alles ein­ und an dem anderen wieder alles auspacken muß, bin ich mir sicher, daß wir alle, Parlament und Verwaltung, Abgeordnete und Mitarbeiter, sehr schnell in Berlin einsatzbereit und in unserer politischen Arbeit handlungsfähig sein werden. Die Berliner genauso wie die Bonner Verantwortlichen für den Umzug haben jedenfalls in großen Kraftanstrengungen alles in ihren Möglichkeiten stehende dafür getan, daß der Wechsel vom Rhein an die Spree ohne große Unregelmäßigkeiten und nicht zuletzt für alle vom Umzug betroffenen Menschen annehmbar verläuft. Deswegen nutze ich gerne die Gelegenheit, an dieser Stelle all denen herzlich zu danken, die mit weit über Normalmaß hinausgehendem Einsatz und Engagement mitgeholfen haben.

Rezzo Schlauch, Bündnis 90 / Die Grünen

"Der Hauptstadtumzug nach Berlin wird zur politischen Zäsur werden"

Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen

Unabhängig vom Hauptstadtumzug steht Deutschland vor politischen Herausforderungen, die unsere Republik nachhaltig verändern. Der Fall der Mauer und die Vereinigung haben die geopolitische Rolle unseres Landes neu bestimmt. Die innenpolitischen Aufgaben haben eine starke Ausweitung erfahren. Der Rückzug des Wachstums von Wirtschaft, Einkommen und Staatseinnahmen, die Globalisierung der Wirtschaft und die anhaltende hohe Arbeitslosigkeit erfordern neue Politikkonzepte. Die Globalisierung der Wirtschaft, die anhaltende hohe Arbeitslosigkeit und das Ende des schnellen Wachstums von Wirtschaft, Einkommen und Staatseinnahmen erfordern neue Politikkonzepte. Das System der sozialstaatlichen Leistungen bedarf grundlegender Reformen, um es wieder tragfähig zu machen. Die europäische Union ist enger zusammengerückt und stellt uns vor neue schwierige Aufgaben. Aus all diesen Gründen wird der Hauptstadtumzug nach Berlin zur politischen Zäsur werden: Die Nachkriegszeit ist abgeschlossen, sie wird historisch mit der "Bonner Republik" identifiziert – und auf der anderen Seite auch mit dem totalitär sozialistischen Experiment DDR. Der Kerngehalt der "Bonner Republik" aber, das auf dem Grundgesetz aufbauende demokratische Selbstbewußtsein, wird auch in Berlin Basis der Politik bleiben. Gerade in dieser Hinsicht darf und wird es keinerlei Diskontinuität im Übergang von Bonn nach Berlin haben.

Die Verlagerung des politischen Zentrums vom Rhein an die Spree markiert gleichzeitig die Ablösung der 16 Jahre Kohl­Regierung durch die Regierung Schröder/Fischer. Diese Regierung zielt auf eine integrierte Modernisierung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft und einen neuen Ausgleich von wirtschaftlichen Handlungsräumen und sozialstaatlicher Gerechtigkeit. Darüber hinaus wird die Standortveränderung auch den Blickwinkel und bestimmte politische Gewichtungen verschieben, und dies ist auch dringend geboten: Mit dem Umzug muß und wird sich die Politik verstärkt den Problemen der Menschen in Ostdeutschland zuwenden, sie liegen nun vor der Haustür. Polen liegt 60 km östlich von Berlin. Die Gestaltung der EU­Osterweiterung und die Intensivierung der Beziehung zu den Mittel­ und Osteuropäischen Staaten gewinnt von Berlin aus eine neue Nähe und Konkretion. Auch die Metropolen­ und Großstadtprobleme lassen sich nicht mehr so leicht übersehen: die wachsende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, sozial instabile Stadtteile und Siedlungen, Jugendarbeitslosigkeit und Jugendgewalt, das Zusammenleben der multinationalen Großstadt­Gesellschaft – Berlin wird die Bundesrepublik in neuer Weise mit sozialen Spannungen konfrontieren.

Doch es geht nicht nur um Alltagspolitik. Mit dem Umzug erfüllen Bundestag und Bundesregierung die im Grundgesetz eingegangene Selbstverpflichtung, Berlin wieder zur Hauptstadt zu machen. Damit kehrt die Bundesrepublik Deutschland an den zentralen Ort der deutschen Geschichte zurück und stellt sich der politischen Verantwortung für diese Geschichte. Die Diskussion um den Namen Reichstag ist mehr als nur die Frage nach dem Ortssinn von Taxifahrern. Mit dem Bau und der Einweihung des Reichstages hat das Parlament 1894 dem Kaiser gegenüber seine politische Eigenständigkeit gezeigt. Im Reichstag wurde am 9. November.1918 durch Scheidemann die Republik ausgerufen. Knapp einen Monat nach dem Reichstagsbrand hat aber der Reichstag mit großer Mehrheit Hitlers Ermächtigungsgesetz und seiner eigenen Abdankung zugestimmt – gegen die Stimmen der Sozialdemokraten und unter Ausschluß der bereits verfolgten Kommunisten.

66 Jahre später nimmt das deutsche Parlament seine reguläre Arbeit wieder im Reichstag auf, nunmehr als gereifte und selbstbewußte Demokratie. Bei dem Bauensemble rund um den Reichstag wird dieses Selbstbewußtsein allerdings etwas zu stark in selbstgefällige Prächtigkeit umgemünzt, ganz so, als ob wir Deutschen der Welt endlich zeigen müßten: "Seht her – wir sind wieder wer!" Hier hätten wir Grünen uns gewünscht, daß ein bißchen mehr von der unprätentiösen Bonner Bescheidenheit auch nach Berlin verpflanzt worden wäre.

Wolfgang Gerhardt, F.D.P.

"Die Verlagerung des politischen Geschäfts nach Berlin bringt für alle Beteiligten die Notwendigkeit der Neuorientierung"

Wolfgang Gerhardt, F.D.P.

Der Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin ist sicherlich kein alltäglicher Vorgang. Natürlich ist die Durchführung des Umzugs zum Teil auch "Formsache"; es bedarf einer umfassenden Planung, einer genauen Festlegung der Verwaltungsschritte und einer vorausschauenden Organisation bis in die kleinsten Einzelheiten, damit die Durchführung des Umzugs gelingt. Wenn man die Planungen hier nicht sorgsam in eine Form bringt, läuft alles auseinander.

Die Bundestagsabgeordneten der 13. Wahlperiode haben am 20. Juni 1991 in freier Abstimmung mit knapper Mehrheit dafür votiert, daß der Sitz von Parlament und Regierung von Bonn in die neue Hauptstadt Berlin verlagert werden soll. Unter dem Eindruck der damals neu wiedergewonnenen deutschen Einheit geriet die Diskussion um eine Entscheidung zwischen Bonn und Berlin zu einer Glanzstunde der parlamentarischen Demokratie. Einige damals gehaltene Reden sind in die Parlamentsgeschichte eingegangen, und die Abgeordneten waren sich wohl bewußt, daß sie mit ihrer Stimmabgabe eine Weichenstellung in der deutschen Geschichte vornahmen.

Die Verlagerung von Regierungs­ und Parlamentssitz von Bonn nach Berlin war damals heftig umstritten, und je näher der Umzug rückt, um so öfter werden wieder Bedenken geäußert. Wie schwer sich manche noch mit der Tatsache tun, daß die Republik bald von Berlin aus regiert wird, erkennt man am zur Zeit heftig geführten Streit darüber, ob denn nun das Parlamentsgebäude in Berlin weiterhin "Reichstag" heißen soll, oder ob auch das Gebäude in Berlin dann "Deutscher Bundestag", "Plenargebäude", "Deutscher Bundestag im Reichstag", oder wie auch immer die Vorschläge lauten, genannt werden soll.

Was derzeit noch fehlt, ist die Unbefangenheit gegenüber der Stadt, die für mein Dafürhalten ganz selbstverständlich nach der Erlangung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 wieder zur deutschen Hauptstadt geworden ist. Die dargestellte und sich selbst darstellende öffentliche Meinung hat offensichtlich den Mittelweg zwischen maßloser Überschätzung der Weltstadt und blanker Ablehnung der Großstadt noch nicht gefunden. Was die einen als pulsierendes Leben bezeichnen, das reißt die anderen aus ihrer kleinstädtischen Beschaulichkeit. Manche Orte deutscher Geschichte machen alte Wunden deutlich und lassen Bedenken hervortreten.

Der Umzug von Regierung und Parlament von Bonn nach Berlin führt nicht zum Entstehen einer neuen Republik. Die Bezeichnungen "Bonner Republik" beziehungsweise "Berliner Republik" bezeichnen lokale Gegebenheiten, nicht aber qualitative oder inhaltliche Prämissen des politischen Handelns. Natürlich war das politische Leben in Bonn auch geprägt vom kleinstädtischen Habitus der Stadt, von der relativen Ruhe, in der gearbeitet werden konnte, von der Dominanz des politischen Geschäfts in der Region. Aber auch in Bonn haben die Abgeordneten, die Minister oder die Verwaltungsbeamten ihre Arbeit nicht auf Parkbänken am Rhein mit beschaulichem Siebengebirgsblick erledigt. Auch in Bonn ist hart gearbeitet worden, es sind immens wichtige Entscheidungen getroffen worden, und die Bundesrepublik hat sich prächtig entwickelt. Bonn hat sich als Hauptstadt und als Regierungssitz bewährt.

Was wird sich ändern, wenn das Land von Berlin aus regiert wird? Alle Beteiligten, Politiker, Journalisten, Betrachter, auch die Bürger, werden sich ein neues Terrain erschließen müssen. Auch die Politprofis werden sich im wahrsten Sinn des Wortes "neue Wege" suchen müssen. Die Arbeitsabläufe werden sich neu ordnen müssen. Die Arbeitsstätten, die Umgebung, die Fahrtstrecken und die Entfernungen ändern sich. Alle werden dazulernen müssen. Alle Beteiligten werden neue Erkenntnisse gewinnen und neue Eindrücke verarbeiten müssen. Das Regierungsviertel in der Mitte Berlins wird näher am Leben sein als die oftmals – und nicht immer zu Unrecht – kritisierte Bonner "Käseglocke".

Dennoch ist das nicht der Beginn einer "neuen Ära" in der deutschen Politik. Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte eine neue Ära, die Teilung Deutschlands und Europas, die Außenpolitik nach dem Ende des "Kalten Krieges", die Erlangung der deutschen Einheit waren geschichtliche Ereignisse, die zu Politikveränderungen, zu neuen politischen Ansätzen und zum Beginn oder zum Ende einer "Ära" geführt haben.

Die Verlagerung des politischen Geschäfts nach Berlin bringt für alle Beteiligten die Notwendigkeit der Neuorientierung. Beruflicher und privater Umzug, Aufgabe bisheriger sozialer Beziehungen, die Notwendigkeit der Eingewöhnung in ein neues Lebensumfeld und das Erfordernis einer persönlichen Neupositionierung sind ein wesentlicher Einschnitt im Leben der Betroffenen. Eine "neue Ära in der deutschen Politik" aber hängt von der jeweiligen Regierung und von deren politischen Schwerpunkten ab, nicht von der Stadt oder der Region, in der Politik "gearbeitet" wird.

Gregor Gysi, PDS

"Weltoffenheit und eine neue Art von Problembewußtsein sind gefordert"

Gregor Gysi, PDS

Ein Gespenst geht um in Deutschland, das Gespenst hat einen Namen: "Berliner Republik". Ganze Heerscharen von Bundespolitikerinnen und Bundespolitikern, Geistesriesen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Publizistinnen und Publizisten bemühen sich um eine Deutung oder Interpretation, malen Schreckensszenarien oder Chancen an die noch freien weißen deutschen Wände. So viel Aufbruch war lange nicht. Der teure Umzug reicht doch schon, muß es auch noch eine "Berliner Republik" sein?

Ich halte es zunächst mit Roman Herzog. "Wenn nun die Umzugswagen rollen, sollten wir wissen, daß wir nicht in eine andere Republik umziehen", sagte er bei den Feierlichkeiten aus Anlaß des 50. Jahrestages der Erarbeitung des Grundgesetzes. Richtig. Es wird nicht die Verfassung ausgetauscht, die Regierung bleibt sicherlich auch noch eine ganze Zeit, das Parlament in seiner jetzigen Zusammensetzung höchstwahrscheinlich bis zum Jahre 2002 und Berlin liegt ja nicht außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland. Und trotzdem liegen die Probleme auf der Hand: Der Umzug nach Berlin ist die körperliche und örtliche Rückkehr in das Zentrum der größten deutschen Katastrophe. Der Finanzminister zieht in Görings Luftfahrtministerium, der Arbeitsminister in Goebbels Propagandaministerium, der Verteidigungsminister in das frühere Oberkommando des Heeres – überall Boden von Verbrechen, Narben und Erinnerungen. Wir ziehen näher an die noch existierende DDR­Gesellschaft (wenn auch ohne Staat) und an die Grenzen zu Osteuropa. Da verstehe ich als Berliner schon manche Gedanken und Überlegungen von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Oder gruselt sich mancher der Wortmelderinnen und Wortmelder gar wie die Neue Zürcher Zeitung vor den Gefahren einer "linken Berliner Republik"?

Bei solchen Überlegungen verliert der Begriff seine natürliche Harmlosigkeit, die ihm eigentlich innewohnt: die von Berlin aus regierte Bundesrepublik Deutschland. Denn keiner kann leugnen, daß er auch an andere gängige Epochen­Etiketten denkt: die Weimarer Republik, das Dritte Reich, die Bonner Republik. Und: "Man spürt sofort, das ist eine Republik auf Abruf", schrieb Martin Walser. "Mal sehen, wie lange das diesmal hält." Aber es spricht von uns auch keiner über oder von einer Pariser oder Londoner Republik.

Die Veränderung eines Regierungssitzes ist in der modernen europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht alltäglich. Und es wäre zu kurz gedacht, deshalb Berlin als normale Fortschreibung der Bonner Regierungsgeschichte zu beschreiben. Natürlich ist der Umzug auch Hoffnung für einen Aufbruch. Die Bundesrepublik muß sich verändern, weil sie größer geworden ist, weil das vereinigte Europa kommen wird und die Weltlage sich dramatisch verändert hat. So sehr Berlin von rheinischer Gemütlichkeit und Entspanntheit profitieren könnte, die Herausforderungen liegen in Berlin anders auf der Straße als in Bonn. Weltoffenheit und eine neue Qualität von Problembewußtsein sind gefordert. Die geradezu beängstigende Entkoppelung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit kann angesichts von über vier Millionen Arbeitslosen nicht weitergetrieben werden, die Erosion der Gesellschaft durch Ausgrenzung von Teilen ihrer Mitglieder muß aufgehalten, dem neuen Rechtsextremismus, auch dem geistigen, muß eindeutiger und konsequenter begegnet werden.

Wenn diese und viele andere Probleme deutlicher erkennbar in Berlin einer Lösung zugeführt werden könnten, dann fiele es mir leichter, nicht nur vom Beginn einer neuen Ära in der deutschen Politik zu sprechen, sondern ihn herbeizusehnen.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9903/9903076
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