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März 02/2000
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streitgespräch

Menschen als TV­Objekte

Voyeurismus per Gesetz verhindern?

Schon vor dem Start lieferte "Big Brother" – die bisher wohl umstrittenste Fernsehsendung Deutschlands – Stoff für heftige Diskussionen. Was passiert bei "Big Brother"? Zunächst zehn Kandidaten sollen 100 Tage lang in einem von der Außenwelt abgeschirmten 153­qm­Wohncontainer samt 284 qm Garten leben. Dabei werden sie rund um die Uhr von Kameras beobachtet und überwacht. Nicht einmal die Schlafzimmer sind tabu. Über die neuesten Highlights aus Haus und Garten können sich die Fernsehzuschauer in der täglichen Zusammenfassung beim Privatsender RTL 2 informieren. Der vom Publikum gewählte Sieger erhält 250.000 Mark. Noch vor dem Start der Sendung diskutierten beim Streitgespräch von Blickpunkt Bundestag die kultur­ und medienpolitischen Sprecher ihrer Fraktionen, Monika Griefahn (SPD) und Hans­Joachim Otto (F.D.P.), die gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Aspekte von "Big Brother".

Monika Griefahn (SPD) und Hans­Joachim Otto (F.D.P.) im Streitgespräch.
Monika Griefahn (SPD) und Hans­Joachim Otto (F.D.P.) im Streitgespräch.

Blickpunkt Bundestag: Kritiker sehen durch "Big Brother" die Menschenwürde verletzt. Frau Griefahn, wie beurteilen Sie dieses Fernsehexperiment?

Griefahn: Ich bin zutiefst erschrocken darüber, das heute Realität werden soll, was wir vor 20 Jahren als Horrorszenen eines Science­fiction­Autors (George Orwells 1984) diskutiert haben. Besonders schlimm ist, dass die Bereitschaft zum Exhibitionismus der Teilnehmer und zum Voyeurismus der TV­Zuschauer schamlos fürs Quoten­ und Geschäftemachen ausgenutzt wird.

"Voyeurismus der Zuschauer wirdschamlos ausgenutzt"

Es ist doch erschreckend, dass fast 20.000 Menschen bereit waren, an diesem Experiment teilzunehmen. Und das lag offenbar nicht nur an der hohen Prämie für den "Sieger". Für mich wird mit "Big Brother" die Menschenwürde eindeutig verletzt.

Dann könnte man die Sendung verbieten – sollte man es auch, Herr Otto?

Otto: Richtig ist: Die wichtigsten gesetzlichen Grenzen für die Informationsfreiheit liegen vor allem im Jugendschutz und in der Menschenwürde. Unterhalb dieser Schwelle allerdings hat der Verbraucher ein Recht auf Information und Unterhaltung. Die zentrale Frage ist also nicht, ob einem "Big Brother!" gefällt.

Ich lehne diese Sendung strikt ab. Dennoch setze ich mich dafür ein, dass sie ausgestrahlt werden kann, solange sie sich im gesetzlichen Rahmen bewegt. Denn wir müssen uns vor Zensur und Bevormundung hüten. Beide sind im Grundgesetz nicht vorgesehen.

"Wir müssen uns vor Bevormundung und Zensur hüten"

Hans­Joachim Otto: "Das Grundgesetz verbietet Zensur."
Hans­Joachim Otto: "Das Grundgesetz verbietet Zensur."

Bevor die Sendung nicht angelaufen ist, sehe ich überhaupt keine Möglichkeit zum Eingreifen. Wenn sie dann allerdings Menschenwürde und Jugendschutz verletzen sollte, wird die zuständige Landesmedienanstalt mit Sicherheit eingreifen.

Reicht Ihnen das als Schutz der Betroffenen aus, Frau Griefahn?

Griefahn: Das ist mir zu wenig. Die Sendung, in der ein Mann seine Ehefrau zur Tilgung seiner Schulden im TV sozusagen öffentlich anbieten wollte, wurde ja auch vorher gekippt. Ich will mich nicht damit abfinden, dass das für "Big Brother" nicht gelten soll. Deshalb sollte noch einmal genauestens geprüft werden, ob die bestehenden Gesetze wirklich ein Unterbinden der Sendung nicht ermöglichen. Sollte das so sein, bin ich für eine Verschärfung der Gesetze.

Otto: Der Vergleich hinkt. Dort sollte eindeutig gegen das gesetzliche Verbot der Förderung der Prostitution verstoßen werden! Gesellschaftliche Fehlentwicklungen aber kann man nicht durch Gesetzesänderungen korrigieren. Nach "Big Brother" und den oft unappetitlichen Talkshows am Nachmittag gibt es eine erhebliche Nachfrage des Publikums. Und da muss man sich fragen, woher das kommt.

Griefahn: Wenn es steigende Nachfrage von Jugendlichen nach Waffen gibt und damit dann – wie in den USA – Schüler und Lehrer umgelegt werden, müssen die Waffengesetze verschärft werden. Nachfrage ist doch kein Wert an sich.

Halten Sie diesen Vergleich für gerechtfertigt, Herr Otto?

Otto: Das hat doch mit TV­Sendungen nichts zu tun. Hier geht es um Voyeurismus. Der gibt zur Sorge Anlass, kann aber nicht per Gesetz verboten werden. Der Bundestag darf nicht seinen Geschmack per Ordre de Mufti durchzusetzen versuchen. Das Grundgesetz verbietet Zensur. Wir dürfen nicht vorschreiben, was die Deutschen sehen dürfen und was nicht.

Wir sollten uns aber Gedanken machen, wie die dahinter stehenden gesellschaftlichen Fehlentwicklungen behoben werden können. Da gibt es offenbar erhebliche Defizite bei der Erziehung, wenn immer mehr Schulunterricht ausfällt und das Fernsehen zunehmend zum Babysitter und zur Kinderverwahranstalt wird, weil sich die Eltern nicht um ihre Kids kümmern können oder wollen.

Griefahn: Da gebe ich Ihnen Recht. Ein Blick auf die Titel des heutigen Fernsehprogramms genügt: "Undankbar – wie konntest du mich und die Kinder im Stich lassen" oder "Begreif es endlich, ich will nichts mehr von dir" oder "Du bist ein Miststück – und sie sollen es wissen".

"Blick auf die Titeldes TV­Programmsgenügt mir"

Da kommen die Kinder aus der Schule und werden mit derartigen Talk­Shows konfrontiert. Das Fernsehen ist inzwischen für viele Kinder die entscheidende Bildungsinstitution geworden. Deshalb sind "Big Brother" und diese Talk­Shows, die in die gleiche Richtung gehen, so gefährlich. Auch deshalb möchte ich sie stärker reglementieren.

Monika Griefahn: "Big Brother verletzt die Menschenwürde."
Monika Griefahn: "Big Brother verletzt die Menschenwürde."

Otto: Ich halte die Talkshows eher für schlimmer als "Big Brother". Für diese Sendung wurde wenigstens noch versucht, psychisch stabile Kandidaten zu finden. Bei den Talkshows mit Voyeur­Charakter werden ungeniert Behinderte oder Menschen in psychischen Extremsituationen präsentiert. Das ist ebenso unerträglich wie unappetitlich, aber eben doch (noch) nicht gesetzeswidrig.

Wie kann man die Kinder denn vor TV­Schrott schützen?

Griefahn: Freie Marktwirtschaft und die Informationsfreiheit dürfen nicht im Gegensatz zur demokratischen Entwicklung, Menschenwürde und zur Erziehung unserer Kinder stehen. Hier muss der Staat aus meiner Sicht handeln. Als die Mediengesetze gemacht wurden, hat niemand solche Auswüchse für möglich gehalten. Hier muss also notfalls nachgebessert werden.

Das ist ein grundsätzlicher Dissens zu Herrn Otto und seiner F.D.P., die immer nur an Deregulierung interessiert sind. Ich füge aber hinzu: Wenn zunehmend Eltern und Schule versagen, ist das ein weiteres Argument für ein flächendeckendes Angebot an Ganztagsschulen.

"Sie wandeln auf einem genauso schmalen Grat wie RTL 2"

Otto: Darüber könnten wir uns schnell einig werden. Ich hätte nichts gegen Angebote von Ganztagsschulen. Sie werden aber kläglich damit scheitern, falls Sie tatsächlich versuchen sollten, die Grenzen der Menschenwürde gesetzlich zu formulieren. Das ist in der Menschheitsgeschichte bisher noch nie gelungen, auch wenn es Diktaturen immer wieder versucht haben. Da wandeln Sie auf einem genauso schmalen Grat wie RTL 2 mit "Big Brother". Deshalb sollte man die Auslegung der Menschenwürde weiterhin den Gerichten belassen.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0002/0002076
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