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Januar 01/2001
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essay

Junge Leute und die Politik

Selbstentfaltung statt Pflichtorientierung

Von Klaus Hurrelmann

Sind die Jugendlichen heute unpolitisch? Viele Ältere sind mit diesem Urteil schnell bei der Hand. Doch für die meisten jungen Leute trifft das nicht zu. Jugendliche suchen angesichts der Lösung von historisch vorgegebenen Sozialformen und Sozialbindungen, dem Verlust von traditionellen Sicherheiten durch Glauben und Autorität in der Regel nur nach einer neuen Art und Form der sozialen Einbindung, die sie in ihrer persönlichen Entwicklung nicht hemmt.

Diese Grundhaltung überträgt sich auch auf ihr politisches Interesse und ihr bürgerschaftliches Engagement. Auch politischen Entwicklungen gegenüber stellen Angehörige der jungen Generation spontan die Frage, was die Entwicklung für sie selbst bedeutet. Sie sind selbstbezogen und themenorientiert, nicht undemokratisch, sondern im Gegenteil eher urdemokratisch, auf direkten Einfluss ausgerichtet.

Jugendliche auf einem Kirchentag.
Jugendliche auf einem Kirchentag.

Das Vorurteil der älteren Generation gegenüber der jüngeren ist, sie sei stark auf sich selbst fixiert und klinke sich aus sozialen Verpflichtungen aus, wodurch das für eine moderne Gesellschaft notwendige Engagement und die Beteiligung in Gruppen, Vereinen, Parteien und Verbänden immer seltener werde. Die Alltagssolidarität, die vertrauensvollen zwischenmenschlichen Beziehungen, sei dadurch gefährdet, und das vor allem auch, weil die junge Generation wenig in das "soziale Kapital" investiere.

Dabei wird häufig übersehen, dass die Bereitschaft zum sozialen Engagement in der jungen Generation vorhanden ist, allerdings andere Profile und Konturen aufweist als in der älteren Generation. Engagement der jungen Generation kommt nicht mehr aus einem Gefühl der Verpflichtung, das aus traditionellen Gemeinschaftsbindungen folgt, sondern aus Freiwilligkeit, die durch Eigeninteresse gespeist ist. Die Pflichtorientierung und Staatsgläubigkeit der älteren Generation werden von Jugendlichen abgelehnt. Sie handeln im eigenen Interesse, wobei dieses Eigeninteresse aber durchaus für das Gemeinwesen von Bedeutung sein kann. Umgekehrt engagieren sie sich nur dann in gesellschaftlich wichtigen Institutionen und Verbänden, wenn ihnen eine Gestaltung und Mitbestimmung von Strukturen möglich ist und sie zugleich eigene Wünsche und Vorstellungen einbringen können.

Orientiert an der Selbstentfaltung, bemühen sich die Angehörigen der jungen Generation, eigene Fähigkeiten und Kenntnisse einzubringen und weiter zu entwickeln und durch ihr soziales Engagement interessante Leute kennen zu lernen und dabei Spaß und Freude zu haben. Es ist eine andere Wertorientierung als sie in der älteren Generation vorherrscht, wo mehr die Pflichtorientierung, anderen Menschen zu helfen, etwas Nützliches für das Gemeinwesen zu tun und praktische Nächstenliebe zu pflegen im Vordergrund der Motivation steht.

Eine solche Pflichtkomponente ist im bürgerschaftlichen Engagement von Jugendlichen und jungen Erwachsenen heute kaum noch enthalten. Eine kontinuierliche oder lebenslange Anbindung an spezifische Institutionen ist deswegen auch ungewöhnlich geworden. Aus diesem Grunde haben auch politische Parteien und Kirchen ein schwindendes Engagement von Jugendlichen zu verzeichnen, während einige Vereine und Selbsthilfeinitiativen von einem Zuwachs berichten. Die Motivation zur Mitarbeit ist stark an bestimmte Projekte und Themen und an feste Ziele orientiert. Man möchte nicht aus Prinzip für eine Sache engagiert sein, sondern deswegen, weil damit ganz bestimmte inhaltliche Ziele erreicht werden, die man selbst für wichtig und bedeutsam hält.

Politische Einstellungen der jungen Generation sind in ihr gesamtes Lebensverständnis eingebettet. Die überwältigende Mehrheit der Jugendlichen spricht sich für Demokratie als die geeignetste Staatsform und auch für die heutige Verfassung der Bundesrepublik Deutschland aus. Gleichwohl sind viele von ihnen mit der Realisierung demokratischer Ideale und Strukturen in Deutschland unzufrieden. Unzufrieden sind sie auch mit der Art und Weise, wie die Parteien und die Regierungen in unserem demokratischen Staat agieren.

Nicht die viel beschworene "Politikverdrossenheit" ist also zu verzeichnen, sondern vielmehr eine Parteienverdrossenheit und eine Politikerverdrossenheit. Die Parteien haben sich nach Auffassung der jungen Generation abgelöst von den Diskussionsprozessen in der Bürgerschaft, sie sind zu eigenen Machtzentren geworden, die um sich selbst kreisen. Die Politikerinnen und Politiker sind nicht das Sprachrohr für Belange und Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger, auch und gerade nicht der Kinder und Jugendlichen, sondern sie werden als Funktionäre eines abgehobenen Kartells von Parteien und Regierungsapparaten wahrgenommen.

Die Partei- und Politikerverdrossenheit wird verstärkt dadurch, dass die Mehrheit der Jugendlichen befürchtet, Parteien und Politiker seien nicht in der Lage, mit Krisen der Gesellschaft umzugehen. Es fehlt an einer politischen Vision, nach der gerade "sinnhungrige" Jugendliche verlangen, die sie durch die wirtschaftliche und kulturelle Krisensituation hindurchführen könnte. Die sozial eher benachteiligten Jugendlichen flüchten in Gewaltverherrlichung und Rechtsextremismus.

Das Prinzip der Wohlstandsmehrung, das in der Nachkriegszeit identitätsstiftend war, fällt heute aus, da gerade Jugendliche spüren, dass wir nicht mehr in Gesellschaften leben, deren Existenz dadurch begründet wird, von Generation zu Generation über wachsenden Wohlstand zu verfügen. Gewaltige Herausforderungen an eine Neudefinition von Solidarität, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit in der Verteilung von gesellschaftlichen Privilegien und Gütern kommen auf uns zu. Für diese Themen waren Jugendliche schon immer sehr sensibel.

Fazit: Jugendliche sind auf eine andere Weise politisch, als es der Apparat von Parteien und Regierungsinstitutionen kennt. Jugendliche verstehen Politik ganzheitlich: Sie sind nicht bereit, Politik nur als eine Frage kühler Überlegungen und Aushandlungen zu betreiben, sondern sie wollen ihre Bedürfnisse, Interessen, Neigungen, Emotionen und auch Sehnsüchte mit einbeziehen.

Ob diese Orientierung den politischen Parteien gefällt oder nicht – Jugendliche sind damit Vorreiter für ein Politikverständnis, das sich bald in der Gesamtbevölkerung zeigen wird. Denn sie spüren so intensiv wie vielleicht keine andere Bevölkerungsgruppe die Umbrüche in den Qualifikationsanforderungen mit den hohen Erwartungs- und Leistungsansprüchen. Sie spüren am eigenen Leibe die Auswirkungen der Lockerung von sozialen Bindungen, zum Beispiel durch Probleme, die sie mit ihren Eltern haben. Die Folge sind Beziehungsängste und emotionale Verunsicherungen, die in der ohnehin existenziell krisenhaften Lebensphase Jugend sehr intensiv erfahren werden. Weiterhin erfahren viele Jugendliche früh Sinngebungskrisen und Orientierungsverunsicherungen. Sie setzen sich mit Erwerbslosigkeit, Umweltverschmutzung, Kriegsgefährdung und sozialen Spannungen als globalen Problemen auseinander und sind nicht nur mit ihrem Kopf, sondern auch mit ihrer Seele und mit ihren Gefühlen beteiligt. Alles das führt zu einem stark emotionalen Zugang zur Politik. Die eigenen Ängste, Bedürfnisse und Sorgen im gefühlsmäßigen Bereich, die nicht immer rational zu artikulieren sind, werden mit in die politische Diskussion einbezogen.

Die hohe Sensibilität der Jugendlichen ist eine Chance für die Zukunftsgestaltung. Parteien und Politiker müssen diese Stimmungslage und dieses Problemempfinden aufnehmen, wenn sie nicht über die Psyche der jungen Menschen hinweg Politik machen wollen. Unpolitisch sind Jugendliche jedenfalls nicht.



Prof. Dr. Klaus Hurrelmann.
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann.

Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, Jahrgang 1944, geb. in Gdingen, dem heutigen polnischen Gdynia. Nach dem Studium (Soziologie, Psychologie und Pädagogik) promovierte Hurrelmann in der Sozialisationsforschung, 1975 habilitierte er sich mit der Arbeit "Erziehung und Gesellschaft" und übernahm eine Professur für Sozialforschung an der Universität Essen. Seit 1980 ist er Professor für Sozial und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld, von 1994 bis 1998 war er als erster Dekan für den Aufbau der Fakultät für Gesundheitswissenschaften verantwortlich, zurzeit ist Hurrelmann Direktor am Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik an der Universität Bielefeld.

Seine Forschungsfelder in Lehre und Forschung sind Sozialisation, Bildung, Familie/Lebenslauf, Kindheit/Jugend und Gesundheit. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a.: Handbuch Sozialisationsforschung","Jugend und Politik". Zwei erwachsene Kinder.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2001/bp0101/0101004
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