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06/2002
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WAHLPROGNOSEN

Geschwindigkeit, doch keine Hexerei

22. September 2002, Punkt 18 Uhr. Überall in Deutschland werden in den Wahllokalen die Urnen geöffnet und der Inhalt auf Auszähltische gekippt. Noch kein einziges Kreuz ist offiziell registriert, und doch melden zu dieser Zeit die Fernsehanstalten schon, wie die Wahl ausgegangen ist. Tipps ins Blaue? Hexerei? Weder noch. Vielmehr die größte Herausforderung moderner Demoskopie, die mit großem Aufwand immer wieder Voraussagen liefert, die verblüffend nahe am Endergebnis liegen.

Bundestagswahlen. Das bedeutete in den Anfangsjahren der Republik spannende Nächte, die aber unendlich lang erschienen. Wahlkreisergebnis um Wahlkreisergebnis lief ein, wurde verkündet und addiert – bis das ungefähre Ergebnis von Stunde zu Stunde allmählich immer konkreter wurde. Es gab Bundeskanzler, die schlafen gingen und erst zum Frühstück erfuhren, ob sie weiter im Amt blieben. 1965 schlug die Geburtsstunde der ersten computergestützten Hochrechnung. Zumindest die Ahnung, wer wie abgeschnitten hatte, wurde nun schon sehr viel früher deutlich.

Ruhe vor dem Sturm: Um 18.00 Uhr kommt die Prognose.

Ruhe vor dem Sturm: Um 18.00 Uhr kommt die Prognose.

Fortan fütterten die Sozialforscher ihre Rechner mit den Ergebnissen aus ausgewählten Wahlkreisen. Dazu suchten sie sich in den einzelnen Bundesländern bestimmte Wahlkreise aus, deren Wähler in den vorangegangenen Jahren in ihrem Wahlverhalten dem Durchschnitt stets sehr nahe gekommen waren. Wenn also eine gewisse Anzahl derartiger Durchschnittsauszählungen vorlagen, musste man nicht mehr alle anderen Wahlkreise mit darüber und darunter liegenden Ergebnissen abwarten und konnte trotzdem bereits eine Hochrechnung anstellen.

Dieses Verfahren wurde im Laufe der Jahrzehnte immer weiter verfeinert. Je weniger Menschen zu den Stammwählern gehören, je mehr sich als Wechselwähler von Fall zu Fall und immer spontaner unter verschiedenen Parteien entscheiden, desto wichtiger wird die Identifizierung repräsentativer Wählergruppen, das Herausfinden von für sie jeweils typischen Wahlkreisen, die am Abend der Auszählung große Bedeutung bekommen, um exakter das Wählerverhalten einzelner Gruppen auf das vermutete Verhalten der Summe aller Gruppen hochrechnen zu können. Die Wahlvorstände vor Ort merken den besonderen Wert ihrer Zahlen oft erst, wenn Mitarbeiter der Forschungsinstitute ganz gezielt bestimmte Einzelauszählungen verfolgen und diese unabhängig vom amtlichen Weg schnellstmöglich an ihre Zentralen zur Auswertung durch die (Hoch-)Rechner durchtelefonieren.

Vom Prinzip her unterscheidet sich dieses ausgefeiltere Verfahren jedoch nicht von den ersten Hochrechnungen der Sechzigerjahre: Ein Teil steht für das Ganze. Aber immer auf der Grundlage schon vorliegender Auszählungen. Und je ähnlicher der ausgewählte Teil dem Ganzen ist, desto näher kommen die ausgewählten Einzelergebnisse dem vermuteten Endergebnis. Das kann zu der originellen Situation führen, dass die erste Hochrechnung näher an das tatsächliche Ergebnis heranreicht als die dritte oder vierte. Dann nämlich, wenn die in der Summe berücksichtigten Wahlkreise näher am Durchschnitt liegen. Das kann bei wenigen, aber "typischen" Wahlkreisen durchaus genauer sein als bei einer viel größeren, aber weniger "typischen" Anzahl.

Doch im Unterschied zu den Hochrechnungen beruht die um 18 Uhr veröffentlichte Prognose nicht auf Stimmenauszählungen, sondern auf Wählerbefragungen. Diese sind besonders aussagekräftig, weil sie – anders als die regelmäßig im Vorfeld gestellte "Sonntagsfrage" – nicht einen zufällig erfassten oder repräsentativen Ausschnitt aus der gesamten Bevölkerung zur Grundlage haben und deshalb immer mehr oder weniger "gewichtet" sind. Sie beruhen auf der Befragung von Bürgern, die gerade gewählt haben und gebeten werden, verdeckt noch einmal ihre Stimme abzugeben. Dieser Umstand und die herausragend breite Grundlage der Befragung, garantieren eine besonders exakte Aussagefähigkeit. Laufen "gewöhnliche" Umfragen auf der Basis von 800 bis 2.000 Befragten, werden für die Wählernachfragen (exit polls) rund 25.000 Wähler herangezogen.

Müssen die Demoskopen im Vorfeld des Wahltages immer berücksichtigen, dass die gewonnenen Aussagen nicht eins zu eins übernommen werden können, weil nicht jeder offen und ehrlich bekundet, es manchmal nicht einmal selbst weiß, welche Entscheidung er Wochen später tatsächlich treffen wird, so ist bei den Nachfragen die soziologische Zusammensetzung der gewonnenen Stichprobe auf die gesamte Wahlbevölkerung direkt zu übertragen. Für die Demoskopen ist somit die Wahl schon gelaufen lange bevor die Wahllokale schließen.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2002/bp0206/0206029a
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