Das Parlament mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 11 / 14.03.2005
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Sten Martenson

Ohne Anstand in der Politik geht es nicht

Ein Gespräch mit Hans-Jochen Vogel
Wer Hans-Jochen Vogel als Journalist aus der Nähe erlebte, kann an Heribert Prantls Charakterskizze nichts aussetzen: der junge Oberbürgermeister von München, der Bundeswohnungsminister, der Bundesjustizminister, der SPD-Vorsitzende und Kanzlerkandidat seiner Partei hat seine politische Arbeit stets mit "pedantischer Lust, mit bürokratischer Genialität und elitärem Anspruch" verrichtet. Aber das ist vielleicht noch nicht das Besondere an diesem Politiker. Pedanten und Workaholics sind ja nicht gar so selten.

Bald 80 Jahre alt, hat es Hans-Jochen Vogel geschafft, zeitlebens nur Schlagzeilen zu produzieren, die etwas mit der politischen Sache, der er sich verschrieben hatte, zu tun hatten. Skandale? Fehlanzeige. Vogel hat seinem geliebten München, seinem Land und seiner Partei gedient: aufopferungsvoll und nie nach persönlichen, gar materiellen Vorteilen schielend. Und auch in den Jahren nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik hat er sich von den stets lüsternen Medien nicht verlocken lassen, sich gegen diesen oder jenen Nachfolger oder auch gegen die eigene Partei instrumentalisieren zu lassen. Wer also wäre aus der lebenden politischen Klasse dieser Republik geeigneter, sich über "Politik und Anstand" zu äußern als der Sozialdemokrat Hans-Jochen Vogel?

Heribert Prantl, Politikredakteur bei der "Süddeutschen Zeitung", hat den spannenden Versuch gewagt, den ideellen Leitplanken, dem Lebens- und Politikstil Hans-Jochen Vogels, den Quellen seiner charakterlichen Stärken auf den Grund zu kommen. Streckenweise ist es bei dem Versuch geblieben. Nicht alle Kapitel des Buches sind von gleicher Intensität. Nicht alle lassen sich unter dem auf Vogel zugeschnittenen Titel "Politik und Anstand" gleichermaßen einordnen.

Vogels Münchner Jahre, die den Politiker zweifellos besonders geprägt haben, weil sie dem "Jung-Siegfried der SPD" (Prantl) nicht nur sensationelle Wahlergebnisse bescherten, sondern auch beträchtlichen Ärger mit dem nicht sehr viel jüngeren Jungvolk seiner eigenen Partei, wären entbehrlich gewesen. Auch das sehr spezifische Frage- und Antwortspiel zu den ethischen Herausforderungen der Gentechnik oder der Diskussion um die Sterbehilfe lenkt von dem Thema, wie es um den Anstand in der Politik damals wie heute bestellt ist, ein wenig ab.

Das aber schmälert den Ertrag für den Leser nicht. Es lohnt sich, von Vogel zu erfahren, was ihm in turbulenten Jahren politischer Arbeit Halt verliehen und was ihn vor dem "Weg in die moralische Anarchie" bewahrt hat. Manchen mag es irritieren, dass der SPD-Politiker als persönlichen Orientierungspunkt seinen Glauben und die Verantwortung vor Gott nennt. Dabei legt er Wert darauf, dass es in politischen Parteien zwar Christen gebe, aber keine christlichen Parteien.

Glaubwürdig, weil er es so vorgelebt hat, prangert Vogel die fortschreitende Ökonomisierung vieler Lebensbereiche an. Für die kommerzielle Verwertung der eigenen Persönlichkeit hat Vogel kein Verständnis. Und ihn empören die maßlosen Abfindungen, die gescheiterten Managern in die Taschen fließen. Alle diese Auswüchse widern den in Anstand ergrauten Sozialdemokraten an: "So etwas tut man nicht."

Vogel verkennt im Gespräch mit Prantl nicht, dass seine Ansichten die eines Altpolitikers sind, mithin vielleicht altmodisch. Er gehört zu jenen, die meinen, dass im politischen Geschäft mit dem Begriff "Freund" viel zu inflationär umgesprungen wird. Vogel misstraut Egozentrikern, was auch viel mit seinem "Parteifreund" Oskar Lafontaine zu tun hat, mit dessen Flucht aus der Verantwortung ein Pflichtfetischist wie er überhaupt nichts anfangen kann. Politiker sollten sich aber ihrer einigermaßen sicher sein, ohne sich deshalb sogleich für unfehlbar zu halten.

Es steht viel Nachdenkenswertes und Besinnliches in diesem Buch. Seinem Gesprächspartner gelingt es freilich nicht immer, Vogel so zu fordern, dass er vielleicht noch mehr von sich preisgegeben hätte. Dazu ist der Journalist Prantl zu sehr darauf bedacht, sich selbst in den Dialog einzubringen, seine eigenen Thesen zu dem einen oder anderen Thema loszuwerden und sich als scharf denkender Jurist auf gleicher Augenhöhe zu präsentieren. Was, so fragt man sich, hätte wohl der begnadete Interviewer Günter Gaus in einer solchen Gesprächssituation zutage gefördert!

Und noch eines: es mag Geschmackssache sein, aber Vogels Gedanken und Erinnerungen hätten sprachlich ein wenig farbiger und lebendiger ausfallen können. Ob das nun an einem übereifrigen, auf hundertprozentige Seriosität der Texte bedachten Lektorat gelegen hat oder an Vogels gedanklicher Disziplin und sprachlicher Pedanterie, spielt aber auch keine Rolle mehr.

Hans-Jochen Vogel im Gespräch mit Heribert Prantl

Politik und Anstand.

Warum wir ohne Werte nicht leben können.

Verlag Herder, Freiburg/Br. 2005; 223 S., 19,90 Euro

Der Autor lebt als freier Journalist und Autor im Rheinland.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.