Das Parlament mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 21 / 23.05.2005
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Ulrike Schuler

Wie sich die Zeiten ändern...

Die Linke und die NATO - ein schwieriges Verhältnis
Als eine "weitsichtige und weise" Entscheidung bezeichnete der sicherheitspolitische Sprecher der Grünen, Winfried Nachtwei, am 21. April im Bundestag den deutschen NATO-Beitritt. Wie sich die Zeiten ändern. Dabei war die Forderung nach Auflösung der Militärbündnisse und Austritt aus der NATO gerade bei den aus den sozialen Bewegungen hervorgegangenen Grünen lange Grundkonsens. Mit dem Eintritt in die Regierungskoalition und der schrittweisen Akzeptanz von Militäreinsätzen durch die Mehrheit der Grünen milderte sich ihre Skepsis.

Im grünen Grundsatzprogramm von 2002 wurde die neue Haltung mit dem Satz "Ein einseitiger Austritt Deutschlands aus der NATO ist abzulehnen" auch offiziell manifestiert. Doch auch wenn die Grünen eine Wandlung vollzogen haben, bleibt die Haltung der nicht parteilich gebundenen Linken in der Bundesrepublik gegenüber der NATO auch nach der Auflösung des Ost-West-Konflikts ablehnend.

Das Misstrauen der Linken gegenüber der NATO reicht weit zurück. In den Anfängen der Bundesrepublik war die Position gegen eine Wiederbewaffnung keineswegs einer Minderheit vorbehalten, die Mehrheit rechnete nicht mit der Gründung einer neuen deutschen Armee, hatten die Alliierten den Deutschen doch strikten Antimilitarismus verordnet. In Umfragen hätten sich bis zu 80 Prozent der Bevölkerung aus unterschiedlichen Motiven gegen eine Wiederbewaffnung ausgesprochen, stellt der Politologe und Friedensaktivist Andreas Buro fest. "Der junge Deutsche, der seinen Widerwillen gegen die Uniform bekundete, war 1949 durchaus lobenswert. Ein Jahr später wurde er zum Angeklagten", schreibt der französische Sozialwissenschaftler Alfred Grosser in seinem Buch "Geschichte Deutschlands seit 1945".

Als sich die Westalliierten unter dem Eindruck des sich verschärfenden Ost-West-Gegensatzes für eine Wiederaufrüstung entschieden und die Regierung Adenauer für eine kompromisslose Westbindung eintrat, formierte sich die erste Protestwelle der Friedensbewegung der jungen Republik. Diese "Ohne-mich-Bewegung" wurde keineswegs nur von der Linken getragen, sondern auch von konservativen, liberalen und religiösen Kräften unterstützt. Ein wichtiges Argument war neben der Ablehnung der Remilitarisierung die Befürchtung, mit der Westbindung die Chance auf eine Wiedervereinigung zu verspielen. Ein neutrales Deutschland ohne eigene Streitkräfte war die Forderung der verschiedenen Gruppen.

"Das war der erste Höhepunkt der Friedensbewegung, und die NATO wurde als federführende Organisation zum Symbol für die Politik der Aufrüstung der Bundesrepublik", sagt Andreas Buro. Die Protestler hätten Westbindung und Aufrüstung als Einheit gesehen, der NATO-Beitritt habe für sie den Einstieg in die Aufrüstung bedeutet, erklärt Buro das negative Bild des Verteidigungsbündnisses. Dass der Protest nicht nur von linken Randgruppen getragen wurde, sondern bis in die Mitte der Gesellschaft reichte, zeigte der Rücktritt von CDU-Bundesinnenminister Gustav Heinemann. Im Oktober 1950 gab er aus Protest gegen die Remilitarisierungspolitik des Bundeskanzlers, die er als Abkehr vom Prinzip der Wiedervereinigung interpretierte, sein Amt auf. Heinemann gründete ein Jahr später die "Notgemeinschaft für den Frieden Europas", die sich eine Verhinderung der Aufrüstung zum Ziel setzte, und 1952 die "Gesamtdeutsche Volkspartei" (GVP).

Die zweite Hälfte der 50er-Jahre war bestimmt durch die Debatte um eine Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen. Sie wird Ausgangspunkt für die Kampagne "Kampf dem Atomtod", die von Gewerkschaften, SPD und evangelischer Kirche initiiert wurde. Die Spitze der Sozialdemokraten verordnete der Partei dann allerdings 1959 in Bad Godesberg eine Umorientierung in Richtung große Koalition und versuchte, die pazifistischen Kampagnen abzuwürgen. Für die Sozialdemokratie war damit der Weg zur Akzeptanz der NATO eingeschlagen. "Viele Genossen fragten sich jedoch, warum die Losungen, die vorher ihre eigenen waren, nicht mehr gelten sollten", sagt Buro. Also engagierten sich viele Sozialdemokraten auch weiterhin in der neu entstehenden Ostermarschbewegung, die gegen Atomwaffen in Ost und West protestierte. "Während der Widerstand gegen die Wiederbewaffnung in den 50er-Jahren von Großorganisationen bestimmt wurde, konstituierte sich 1960 mit dem ersten Ostermarsch eine eigenständige neue soziale Bewegung", sagt Buro, der Mitbegründer der Ostermärsche war.

In der zweiten Hälfte der 60er-Jahre spielte das Thema Vietnamkrieg zunehmend eine Rolle. Mit dem Entstehen der Studentenbewegung formierten sich verschiedenste kommunistisch oder sozialistisch orientierte Gruppen, für die die Kritik an den USA und an der NATO zu ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Kapitalismus gehörte. "Die NATO galt als Teil des kapitalistischen Systems, das bekämpft werden müsse", sagt Buro über die Einstellung vieler Linker in den 60er- und 70er-Jahren. Eine Haltung, die sich heute eher bei den Autonomen wiederfindet. Die Ein-Punkt-Bewegung der Pazifisten, die sich zu Protesten gegen die Aufrüstung versammelte, verlor während der Zeit der Entspannungspolitik in den 70er-Jahren an Bedeutung.

Die Wiederauferstehung der Friedensbewegung wurde 1979 vom NATO-Doppelbeschluss ausgelöst. Ab 1983 sollten in der Bundesrepublik Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles aufgestellt werden, während der Sowjetunion gleichzeitig Verhandlungen über eine Rüstungsbegrenzung angeboten wurden. Die Nachrüstung mit atomaren Mittelstreckenraketen löste in weiten Teilen der Bevölkerung Ängste vor einem Atomkrieg aus, der Deutschland als Erstes auslöschen würde. Hunderttausende fanden sich in den 80er-Jahren zu Demonstrationen und in lokalen Friedensgruppen zusammen, um eine Rücknahme des NATO-Doppelbeschlusses und Initiativen zu weltweiter Abrüstung zu fordern.

"In den Augen der Friedensbewegung war die NATO ein grundsätzlich gefährlicher Gewaltapparat, der auf eine Militarisierung der Politik drängte", sagt Buro. "Dieses Bild hat sich bis 1989 auch nicht geändert." Diese Haltung spiegelte sich auch bei den 1980 gegründeten Grünen wider, die eine ihrer stärksten Wurzeln in der Friedensbewegung haben. Im Bundesprogramm von 1980 hieß es: "Der Ausbau einer am Leitwert Frieden ausgerichteten Zivilmacht muss mit der sofort beginnenden Auflösung der Militärblöcke, vor allem der NATO und des Warschauer Paktes einhergehen." Besonders Petra Kelly und der Ex-General Gert Bastian wurden zu grünen Galionsfiguren, denen Abrüstung Herzensthema und die Politik der NATO ein Dorn im Auge waren.

"Für die Grünen war der Protest gegen die Raketenstationierungen nach dem NATO-Doppelbeschluss gründungsrelevant", sagt der Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele über seine Partei. Viele Grüne hätten eine Tradition als Demonstranten vor den Stationierungsstandorten gehabt. Zwar habe die SPD-Linke moderater ein Beschneiden der Macht der NATO gefordert, aber für die übrige Linke sei die Forderung nach einem Austritt aus der NATO selbstverständlich gewesen. "Raus aus der NATO, Klassenkampf im eigenen Land", sei ein beliebter Protestslogan gewesen, erinnert sich Ströbele. "Es war auch lange Meinung der Grünen, dass die NATO ein aggressives Bündnis ist, das im Ost-West-Konflikt eine eskalierende Rolle gehabt hat", sagt Ströbele, der die Anfänge der Grünen miterlebt hat und bis heute als kompromissloser Kriegsgegner und eifriger Friedensdemonstrant gilt. Bis 1990 habe die Meinung vorgeherrscht, die NATO müsse in einen Sicherheitspakt wie die OECD überführt werden, der für alle offen und nicht auf den Gegensatz zum Ostblock ausgerichtet sein sollte. Auch danach habe die Mehrheit der Grünen das Bündnis zumindest aufweichen oder überflüssig machen wollen, so Ströbele.

Unter anderem wegen dieser Haltung zur NATO galten die Grünen bei der SPD als nicht-regierungsfähig. Sie seien "nicht akzeptabel" und "unkalkulierbar", wenn sie ihre Beschlüsse zur Außen- und Sicherheitspolitik nicht änderten, äußerte 1989 der außenpolitische Sprecher der SPD, Karsten Voigt, in der "tageszeitung" (taz).

Bei den Koalitionsverhandlungen 1998 habe die NATO keine große Rolle gespielt, sagt der Grüne Ströbele: "Man hat das Thema ausgespart, weil man wusste, dass das mit der SPD nicht verhandelbar war." Viel bedeutender sei die Frage gewesen, ob sich die Bundeswehr mit grüner Zustimmung an einem Krieg beteiligt. "Mit der Zustimmung zu den NATO-Einsätzen im Kosovo und in Afghanistan setzte sich bei der Mehrheit der Grünen eine pragmatische Haltung durch, die das NATO-Bündnis nicht aufgeben wollte", berichtet der Bundestagsabgeordnete. Ströbele ist bis heute bei seiner NATO-kritischen Haltung geblieben. "Ich bin damit allerdings nicht mehrheitsrepräsentativ bei den Grünen", sagt er.

Außerhalb des Parlaments hat die Kritik an der NATO jedoch nicht an Schärfe verloren. Gerade das sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts reformierende Militärbündnis liefert der Linken Anlass zu Protest. "Die neue NATO hat ihre engen Grenzen des Einsatzes im Vertragsgebiet und zur Verteidigung beiseite gewischt und entwickelt sich zu einem Interventionsinstrument für bestimmte wichtig erscheinende Interessen", rügt Buro. Zudem hätte der Einsatz der NATO im Kosovo gezeigt, dass die neue NATO aus internationalem Recht ausbreche. "Im Falle wichtiger Interessen kümmert sie sich nicht um die Charta der Vereinten Nationen", meint Buro. Die USA würden die NATO zunehmend als Instrument ihrer aggressiven Militärpolitik missbrauchen, so die Kritik der Friedensbewegung.

Galten der Linken die NATO-Einsätze im Kosovo 1999 und in Afghanistan 2001 ohne UN-Mandat als Beleg für die "interventionistische Orientierung der NATO", waren die NATO-Luftangriffe auf serbische Stellungen in Bosnien 1994/95 Anlass für eine Spaltung in so genannte Bellizisten und Pazifisten. Die einen fanden den NATO-Einsatz angesichts der Massaker an den bosnischen Muslimen gerechtfertigt, die anderen lehnten weiterhin militärisches Vorgehen ab.

Eine besonders massive Mobilisierung löste der drohende Krieg der USA gegen den Irak aus. Da die NATO in der Irak-Kriegsfrage gespalten war, richteten sich die Protestierenden weniger gegen die NATO, sondern explizit gegen den Alleingang der USA ohne völkerrechtliche Legitimation und ihre "coalition of the willing". Zum ersten Mal deckte sich die Haltung der Friedensbewegung mit der der Regierung, die dem Irak-Krieg ebenfalls ablehnend gegenüber stand. Eine grundsätzliche Änderung der skeptischen Haltung gegenüber der NATO ergab sich jedoch nicht, zumal sie von großen Teilen der Linken als Vollstreckungsorgan der USA angesehen wird. "Für mich lassen sich NATO und USA nicht trennen", formuliert auch Christian Ströbele.

Eine Abschaffung der NATO wird jedoch von Seiten der Friedensbewegung nur noch selten als Forderung laut. "Das ist so unrealistisch, dass sie heute eher die Linie vertritt, so viel Abrüstung wie möglich und so viel zivile Konfliktbewältigung wie möglich", sagt Buro. Zudem zeichnet sich eine in verteidigungs- und außenpolitischen Fragen zunehmend selbstbewusstere EU ab, die die Bedeutung der NATO schwächen könnte. Die neue EU-Verfassung ist für die Pazifisten ein Thema geworden, das ihnen unter den Nägeln brennt. Insbesondere Artikel I-41, der die EU-Mitglieder verpflichtet, "ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern". Auch die geplante Einrichtung einer Rüstungsagentur stößt auf Empörung.

"Die Kritik an der EU ist, dass sie auch auf den Zug der Militarisierung der Politik aufspringt", sagt Buro. "Dahinter steckt die politische Auffassung, dass die EU-Staaten nicht aus der NATO rausgehen, sondern daneben ein eigenes Sicherheitssystem entwickeln", interpretiert Ströbele die EU-Verfassungsartikel. "Dass die EU sich von der US-Militärpolitik, die eher aggressiver geworden ist, löst, finde ich fortschrittlich", sagt Ströbele: "Aber das darf nicht dazu führen, dass Europa auch auf Militär setzt und sich in eine aggressive Richtung entwickelt."


Ulrike Schuler arbeitet als freie Journalistin in Berlin.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.