Das Parlament mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 37 / 12.09.2005
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Martin Gerner

Urnengang mit Risiko - das afghanische Wahlsystem


Die Parlamentswahlen am 18. September sind der vorerst letzte Markstein, der im Abkommen vom Bonner Petersberg Ende 2001 für ein neues Afghanistan festgelegt wurde. Auch wenn das internationale Interesse geringer als bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr ist, dürften die Parlamentswahlen mehr Konsequenzen für die politische Zukunft des Landes haben.

Für die 249 zu vergebenden Sitze in der neuen Volksvertretung (Wolesi Jirga) haben sich über 2.700 Kandidaten beworben, für die ebenfalls zu wählenden Regionalparlamente in den 34 Provinzen bewerben sich weitere 3.000 Kandidaten. Das sind weit mehr Bewerber als die UNO, die die Wahl im Kern organisiert, erwartet hatte.

In beiden Fällen sind so genannte "commander" oder "warlords" - reden wir adäquater von Milizenführern, die noch über Gefolgschaft und ein gewisses Waffenarsenal verfügen - herausgefordert. Denn im Wahlgesetz heißt es, dass nur kandidieren darf, wer vorher entwaffnet wurde. Das aber ist bei einer Reihe der Kandidaten, darunter ehemalige Mudschahedin-Führer, von denen einigen mutmaßliche Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, nicht der Fall. Schätzungen zufolge dürften über 200 Kandidaten wegen bewaffneter Anhängerschaft gegen das Wahlgesetz verstoßen. Ausgeschlossen worden sind de facto aber nur rund ein Dutzend von ihnen, obwohl sich die offizielle Wahlbeschwerdekommission für ein härteres Durchgreifen ausgesprochen hat.

Die Order dafür kommt von oben: Präsident Hamid Karsai verfolgt, gestützt durch amerikanische Zustimmung, seit seinem Amtsantritt einen Kurs der möglichst breiten Integration. Will sagen: Lieber potenzielle Übeltäter mit im Boot haben, sie kontrollieren und in die Pflicht nehmen als sie außen vor und damit schwer berechenbar werden zu lassen. Die Kehrseite der Medaille: Einmal gewählt, können die in Frage stehenden Milizenführer ihre vom Volk erhaltene Legitimität zur eigenen Entlastung ins Feld führen. Das verstärkt den Eindruck, in Afghanistan herrsche eine "culture of impunity", eine "Kultur der Straflosigkeit".

Das Wahlrecht ist - den meisten internationalen Beobachtern zufolge - kritikwürdig. Es sieht keinerlei repräsentatives Element vor und spiegelt nach Meinung der Kritiker den Wählerwillen nicht angemessen. Die Partei, die die Mehrheit der Stimmen erringt, gewinnt deshalb nicht die Mehrheit der Sitze. Beispiel: Kandidat A von der Partei X erhält 20 Prozent der Stimmen, Kandidat B von der Partei Y 18 Prozent und die Kandidaten C, D und E von der Partei Z jeweils 15 Prozent. Angenommen, es sind zwei Sitze zu vergeben, gehen diese an die Partei X und Y, Partei Z erhält trotz 45 Prozent der Stimmen keinen Sitz. Das Wahlsystem favorisiert also Einzelkandidaten statt Parteien. Das verhindert die Bildung stabiler politischer Parteien und damit klare Verhältnisse nach westlichem Vorbild. Karsai bedient damit ein verbreitetes Misstrauen unter Afghanen gegenüber politischen Parteien jeglicher Art. Das hat historische Wurzeln, angefangen bei der kommunistischen Partei Afghanistans, die eine Marionette Moskaus war, bis hin zu den rivalisierenden islamischen und islamistischen Parteien aus den Bürgerkriegsjahren, von denen eine Reihe noch bestehen. Im Gegensatz zu den wenigen wirklich neuen demokratischen Parteien, verfügen die alten Parteiapparate über finanzielle Mittel für ihre Kandidaten. Sie scheinen zudem eher in der Lage, ihre Wählerschaft zu disziplinieren, um eine maximale Zahl an Sitzen zu erringen.

Die Umstände am Wahltag deuten sich chaotisch an: der Wahlzettel in Kabul ist nichts Geringeres als eine 18-seitige Wahlzeitung im Größenformat der taz. Darin abgebildet sind die Passfotos der über 600 Kandidaten der Provinz Kabul, ihr Name und eines von 6.000 nach dem Zufallsprinzip verlosten Symbolen. Die Parteizugehörigkeit steht dagegen nicht auf dem Wahlzettel. Selbst informierten Wählern wird damit Transparenz und taktisches Wählen erschwert, zumal 80 Prozent der Bevölkerung nicht lesen und schreiben kann. Das Etikett "unabhängiger Kandidat" ist bei manchen echt. Es spricht aber vieles dafür, dass ein nicht unwesentlicher Teil der Bewerber tatsächlich einer der 72 eingeschriebenen Parteien zugerechnet werden muss. Zu erkennen geben wollen das die wenigsten. Dieses Wahlsystem des "Single non-transferable vote" (SNTV), das außer in Jordanien und einigen Klein- und Inselstaaten bisher weltweit so gut wie keine Anwendung findet, hat Präsident Hamid Karsai zusammen mit engsten US-Beratern durchgeboxt, gegen die Empfehlung von UN- und EU-Beratern.

68 der 249 Sitze im neuen Parlament sind Frauen per Quote vorbehalten. Das sind zwei weibliche Abgeordnete pro Provinz. Insgesamt werden 27 Prozent Frauen in der Wolesi Jirga sitzen. Damit wird Afghanistan - was die Frauen-Quote angeht - weltweit unter den Top 20 liegen - noch vor den USA und Großbritannien. Besonders für die paschtunischen Provinzen im Süden und Südosten, in denen Frauen in der Regel kaum vor die Haustür treten, ist dies eine Herausforderung in vielerlei Hinsicht. Manche internationale Beobachter meinen sogar, in Afghanistan bestehe die Gefahr, dass zu schnell an der Schraube der Frauenförderung gedreht werde.

Die afghanische Zivilgesellschaft hat es mittlerweile geschafft, einen Teil der politischen Bildung unter den Wählern selbst zu übernehmen. Auf dem Land aber wissen die meisten Menschen nicht, worum es bei dieser Wahl wirklich geht. Die Aufgaben der neu zu wählenden Provinzparlamente etwa wurden per Gesetz erst drei Wochen vor der Wahl festgelegt, und das überaus vage. Für Stammesführer, Mullahs und Shuras ist es ein Leichtes, die Stimmagabe durch mehr oder weniger Einschüchterung zu manipulieren und dem ethnischen Proporz Vorrang einzuräumen.

Die Sicherheitslage in den vergangenen Wochen ist angespannt, aber nicht dramatisch. Mehr als ein Dutzend Kandidaten sind bisher von Gegnern dieser Wahlen umgebracht worden. Meist passierte es in paschtunischen Provinzen. Es gibt dort unverändert eine Taliban-Bewegung, deren Ausmaß und Schlagkraft schwer einzuschätzen ist. Insgesamt rund 38.000 Tausend Soldaten von ISAF und der US-Spezialkräfte werden helfen, diese Wahl abzusichern. Die EU und die OSZE schicken insgesamt über 200 offizielle Wahlbeobachter an den Start. Die meisten unabhängigen Wahlbeobachter stellen jedoch die Afghanen selbst.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.