Das Parlament mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 38 - 39 / 23.09.2005
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Susanne Balthasar

Kein sattes Land

Immer mehr Familien langt ihr monatliches Budget nicht - aber es mangelt nicht an Geld allein
Gelegentlich ist Frau Loeser schon vor dem Monatsende blank. Das Portemonnaie ist leer, am EC-Automaten hilft das Drücken der Bearbeitungstaste auch nichts mehr, und das Sparschwein wurde schon beim letzten Mal ausgeräumt. Ebbe. Keine Lebensmittel im Kühlschrank. Nur ein paar alte Tuben liegen vergessen im Türregal. Der Einkauf von Filzstiften für die Kinder ist zurückgestellt, die Bezahlung der Telefonrechnung wird noch mal verschoben. Auch das süße Leben hat Pause: Cola, Fertigpuddings und Zuckerwatte - nun sind sie gestrichen.

Aber Frau Loeser braucht auch nicht viel, sagt sie. Zerbrechlich wie ein Mädchen sitzt die Mittdreißigerin in ihrem grauen XL-Shirt auf dem formlosen Sofa. Sie atmet den Rauch aus, um kurz darauf wieder an den "Stickis" zu ziehen. Von denen qualmt sie eine nach der anderen. Aber sonst? "Mir macht es nichts aus, nichts zu essen", sagt sie und ascht in die granitschwere Steinschale. Das soll was heißen. "Früher war sie ja verwöhnt", neckt sie Olaf Martinek, ihr Lebensgefährte, arbeitsloser Tierpfleger, arbeitsloser Lagerist und arbeitsloser Wachmann. Zu Hause bei Loesers gab's Frischwurst vom Metzger. Jetzt kommt die Salami aus der Plastikfolie auf den Tisch. Beim Discounter ist alles ein paar Cent billiger.

Jeden Monat beginnt der Kreislauf von Neuem - das Warten. Das Warten auf die Sozialhilfe, das Kindergeld oder das Wohngeld. Wenn dann endlich wieder etwas auf dem Konto ist, wird eingekauft. Es geht die Straße runter, raus aus der Plattenbausiedlung zu dem gartencentergroßen Netto an der Durchfahrtsstraße. "Mir macht das Hungern wie gesagt ja nix. Aber die Tiere und die Kinder, die sollen immer was haben." Zwei kleine Söhne und drei Tiere - das macht fünf Mäuler.

Ein anderer Weg, den die Loesers oft gehen, führt sie zu einem grauen Plattenbau der evangelischen Freikirche. Das Haus liegt in einer toten Straße in Berlin-Hellersdorf. Gegen Mittag lärmen hier täglich 150 Kinder, rennen über den abgetretenen Linoleumboden die Treppe runter in den Speisesaal. Die Loesers sind auch hierher gekommen, wie immer in den letzten Tagen. Hier im Untergeschoss gibt es Kartoffeln und Porree, Spinat und Spiegelei oder Erbsensuppe. Die Arche ist ein gemeinnütziger Verein, dessen Träger das "Christliche Kinder- und Jugendwerk" ist. Die Arche finanziert sich zu über 95 Prozent aus Spenden. Jeder der bedürftig ist, kann hier warm zu Mittag essen. "Billig und nahrhaft soll es sein", sagt Peter, der Koch, und rührt in dem waschtrommelgroßen Bottich mit Hackepeter. Heute gibt es Nudeln mit Hackfleischsauce. An den Kiefernholztischen sitzen die Großen und Kleinen, in der Luft wabernder Bolognesedampf und Stimmen - die Kantine der armen Kinder brummt. Der Mangel selbst versteckt sich. Klamotten aus der Kleidersammlung hat hier niemand an. Streetwearhosen, Kapuzenpullis und tadellose Turnschuhe sind angesagt. Sie sehen zwar alle nach Billigkaufhaus aus, sind aber neu. Außerdem sind ein Fernsehteam und die Reporterin eines Nachrichtenmagazins da. Seit einem halben Jahr kommen ständig Journalisten, dabei gibt es die Arche schon seit zehn Jahren. Aber erst seit Hartz IV die Menschen beschäftigt, schockt die Einrichtung die Öffentlichkeit: Gibt es Kinder in Deutschland, die nicht genug zu essen bekommen?

"Ja", sagt Bernd Siggelkow ohne Umschweife. Der Pastor der evangelischen Freikirche von Hellersdorf sitzt in seinem Büro auf der Couch, aber viel Zeit hat er nicht - das Telefon klingelt im Minutentakt. Gerade hat Siggelkow die erste Arche-Filiale in Berlin-Friedrichshain eingerichtet. Am Essen fehlt es in der ganzen Stadt. Der Pastor hat das eher zufällig gemerkt. Vor zehn Jahren kam bei einer Umfrage heraus, dass ein Drittel der Kinder nicht regelmäßig ein warmes Mittagessen bekommt, seither gibt es die Arche. Deutschland ist kein sattes Land.

Die Republik verarmt. Laut einer OECD-Studie leben in Deutschland 10,2 Prozent der Kinder in Armut, das sind 1,4 Millionen. Seit den 90er-Jahren ist ihre Zahl um 2,7 Prozent gewachsen. Während die Gründe für diese Entwicklung sattsam bekannt sind, hapert es an Schlussfolgerungen. Bernd Siggelkow jedenfalls hat dem Hunger den Kampf angesagt: "Wir wollen ganz Deutschland mit Archen überziehen." Täglich kommen in Hellersdorf Anfragen aus anderen deutschen Städten, auch im reichen München sind die hungernden Kinder den Bürgern aufgefallen. Bernd Siggelkow sagt: "Es sind Privatleute, die das Problem sehen. Politiker melden sich nicht." Offiziell haben Arbeitslosengeld und Sozialhilfe die Armut schließlich abgeschafft. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Weniger Geld und mehr Eigenverantwortung, damit sind viele überfordert.

Birgit Loeser sitzt mit ihrer Freundin am Tisch und redet übers Geld. Das heißt, eigentlich reden sie über Hartz. 781,95 "Hartz-Euro" bekomme sie jetzt, erzählt Birgit Loeser, vorher waren es 659 Euro. Ja, das sei zwar mehr, sagt sie, aber lieber sei ihr die alte Regelung gewesen, als sie noch einen neuen Tisch oder Kochtopf beim Amt beantragen konnte. Dem Amt geht das Geld wenigstens nicht aus. Zeit, Anträge zu stellen, hat sie als Langzeitarbeitslose ja genug. Geld eigentlich auch. Oder sind fast 800 Euro nicht ausreichend?

"Geld", sagt Pastor Siggelkow, "ist nicht allein die Ursache." Er kennt sie alle, die Gründe, weshalb die Menschen irgendwann mit einem Kind an der Hand vor der Glastür der Arche stehen. Erst schämen sie sich, dass sie da sind, aber dann erzählen sie. Der Pastor hört die Geschichten der allein erziehenden Mütter, denen der Vater keinen Unterhalt zahlt. Bei manchen Eltern bleiben die Sozialleistungen für ein paar Monate aus, oder sie bekommen gar nichts vom Staat, andere arbeiten und haben doch nicht genug zum Leben. Häufig aber steht hinter dem wirtschaftlichen Desaster auch die Unfähigkeit, den Überblick über das bisschen Geld zu behalten.

Damit haben auch Birgit Loeser und Olaf Martinek zu tun. Sie selber zählen sich eher zu den Überblickern. Sie können aus dem Stand und auf den Cent genau sagen, wie viel Sozialhilfe sie bekommen, wie viel Kindergeld, und was die Versicherungen exakt kosten. Und wenn Herr Martinek darüber doziert, warum es sich nicht rechnet, dass sie beiden in einer Wohnung leben, oder wie viel er verdienen müsste, damit am Monatsende mehr als die Sozialhilfe herausspringt, dann könnte man meinen, dass er das wild wuchernde Regelwerk des Staates kennt wie ein Angesteller des Arbeitsamts. Bis er dann vorrechnet, warum das mit dem Geld nicht klappen kann. Er nimmt den Ordner mit den Unterlagen seiner Lebensgefährtin aus dem Wohnzimmerschrank: "Sehen sie selbst." 312, 95 Euro stehen Frau Loeser laut Sozialamt für die Miete zu, sie zahlt aber 435,75 Euro. Für 75 Quadratmeter in einem Plattenbau am Rande von Berlin - wo soll man Bitteschön noch billiger wohnen? Im Badezimmer, das klein wie eine Besenkammer ist, kann man sich die Hände waschen, die Waschmaschine abstellen, muss man die Schmutzwäsche sortieren. Die abwaschbare Mauertapete ist porös, die Auslegware zertreten. Manches hat Herr Martinek schon ausgebessert und nachgestrichen, aber selbst renovieren kostet schließlich auch. Und dann bricht seine Beweisführung auch schon wieder zusammen. Die angemessene Miete vom Sozialamt ist kalt angesetzt, natürlich werden die Nebenkosten auch bezahlt, so können sie die Miete locker bezahlen. "Naja", sagt Herr Martinek, und klappt den Ordner wieder zu. Falsch gerechnet, das kann passieren. Mit dem Geld jedenfalls haut's vorne und hinten nicht hin. Warum, das wissen die beiden auch nicht. Würden sie besser zurecht kommen, wenn sie mehr Geld bekämen? "Nein", sagt Birgit Loeser, "es ist doch immer zu wenig."

Armut hat es immer gegeben. Früher sagten die sozial Schwachen: Meinen Kindern soll es einmal besser gehen, und das haben viele auch geschafft. Mittlerweile ist die Tugend des Sparens aus der Mode gekommen. Geld in den Händen haben, bedeutet jetzt konsumieren - die Zukunft ist keine reale Größe mehr. Die Armut wird in vielen Familien wie ein altes Erbstück von einer Generation zur nächsten weiter gegeben. Es gibt mittlerweile Sozialhilfeempfänger in der dritten Generation.

Auch Herr Martinek kommt aus einer armen Familie. Wenn er rauchend neben Frau Loeser auf dem bunt gemusterten Sofa sitzt, das zwar nicht schön aber bequem ist, und sich die beiden über ihren echten Filterkaffee freuen, dann sieht es so aus, als hätten sie es sich in ihrer Armut gemütlich gemacht. Olaf Martinek empfindet sich auch nicht als arm: "Einen gewissen Luxusstandard versuchen wir zu halten." Und meint die monatliche Pre-Paid-Handykarte für zehn Euro. Und dann gehe man mit den Kindern öfter in den Tierpark, ergänzt Frau Loeser. Ist das zu viel? Sollten sie sich das auch sparen? Die Tiere abschaffen? Aufhören die Stickis zu rauchen? Ach, sagt Frau Loeser, ein Laster muss man doch haben. Herr Martinek ergänzt: "Ich sauf schon nicht mehr."

Bernd Siggelkow spricht von einer umfassenden Hoffnungslosigkeit. Die Hoffnungslosigkeit der Armen, jemals aus dem Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit und Armut heraus zu kommen. Die Spirale aus nicht gemachtem Hauptschulabschluss, fehlender Berufsausbildung, Langzeitarbeitslosigkeit und übersättigtem Arbeitsmarkt dreht sich den Menschen wie ein Strick um den Hals. Da bleibt dann nichts mehr außer Frust, Fernseher und Flasche. In den leeren Tagen lösen sich Verantwortlichkeiten auf, gemeinsame Essenszeiten ersetzt der Kühlschrank als individuelle Selbstversorgungseinrichtung, die bei Geldmangel geschlossen bleibt. Daneben stehen hungrige Kinder. Symptom eines Phänomens, das Jugendhelfer, Psychologen, Lehrer und Sozialarbeiter seit den 90er-Jahren zunehmend beobachten: Das Verschwinden der Familienstruktur, die tradierten Gesetze sind nicht mehr gültig, die tragenden Bindungen der Mitglieder beginnen zu bröckeln. Selbstverständlichkeiten, wie Zeit mit den eigenen Kinder zu verbringen oder mittags den Tisch zu decken, sind nicht mehr selbstverständlich. Dabei spielt neben der nicht gelebten Selbstverantwortung auch die Zersetzung der äußeren Struktur der Keimzelle eine Rolle. Ihre Aufspaltung in Scheidungskinder und Lebensabschnittseltern, hat inzwischen das Innere erreicht und die Zuständigkeiten verwischt.

Die Folge sind Kinder, die entwedern hungern oder nur Süßigkeiten essen, Kinder die zu dick oder unterernährt oder einfach ungesund ernährt sind. Kinder, die nicht nur materiell, sondern auch emotional verwahrlost sind. Kinder, die nicht mehr kommunizieren können oder motorisch gestört sind, keine Zeitstrukturen mehr kennen und keine Konflikte austragen können. Deshalb versucht Siggelkow in der Arche nicht nur die Mägen, sondern auch die Seelen zu füllen. "Viele Kinder haben überhaupt kein Selbstwertgefühl", sagt der Pastor, und bietet ihnen nach dem Essen auch Freizeitgestaltung an: Tischtennisspielen, malen, mit anderen Menschen zusammen sein. "Wir bilden die Persönlichkeiten heran", sagt er. Eine Aufgabe, der viele Eltern nicht mehr gewachsen oder der sie sich gar nicht bewusst sind.

Unterm Strich bleibt für die Kinder nicht viel mehr als Hoffnungslosigkeit. Als Ursache macht Bernd Siggelkow nicht nur individuelles, sondern auch gesellschaftliches Versagen aus: "Seit Jahren stärkt die Politik die Familie nicht mehr als Mittelpunkt der Gesellschaft. Von Kindern wird in den Nachrichten ein ausschließlich negatives Bild vermittelt: Sie sind dumm, sie sind dick, sie sind arm, sie sind gewalttätig. Wir sehen in unseren Kindern nicht die Zukunft."

Birgit Loeser dagegen sieht nur für ihre Kinder eine Zukunft. Für sich selber hat sie keine Wünsche, "aber die Kinder sollen einen guten Abschluss machen." Viel Bildung gleich ein guter Abschluss gleich ein guter Job gleich eine gesicherte Zukunft. Zu dem Ergebnis kommt auch Siggelkow: Bildung sei der einzige Ausweg aus der Armutsfalle. Olaf Martinek nickt. Stolz erzählt er von dem Bildungsguthaben, das ein Verwandter für zwei seiner Kinder angelegt hat. Die Schulbücher sind gesichert. "Damit die Kinder eine gute Ausbildung bekommen", sagt Herr Martinek, und freut sich, über den Vorsprung, den nun zwei seiner elf Kinder haben. Wenn nicht jemand anders nachgeholfen hätte, dann hätte in der Familie Martinek/Loeser am Ende wohl auch gelegentlich das Geld für die Schulbücher gefehlt.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.