Das Parlament mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 44 / 31.10.2005
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Dr. Wolfgang Gaiser, Martina Gille, Johann de Rijke, Dr. Sabine Sardei-Biermann

Politik und Jugend - eine reformbedürftige Beziehung

Was ist dran am Bild der politikmüden Jugend? Eine Antwort des Deutschen Jugend Instituts (DJI) München
In der Öffentlichkeit wird der Jugend häufig Politikverdrossenheit, Desinteresse an Politik und mangelndes Engagement attestiert. Gelegentlich wird ihr sogar der Verlust demokratischer Orientierungen angelastet. Was stimmt an diesen Zuschreibungen und Befürchtungen? Ist die Lebensphase Jugend ein politikfreier Raum?

Tatsächlich ist Politik als Lebensbereich für Jugendliche und junge Erwachsene deutlich weniger wichtig als Freundeskreise, Familie, Schul- und Berufsausbildung sowie Arbeit und Beruf; letztere Bereiche werden von über 90 Prozent als wichtig eingestuft, während Politik nur von 42 Prozent als wichtig erachtet wird (siehe linke Grafik). Dies ergeben die Daten des Jugendsurvey des Deutschen Jugendinstituts (DJI) in München, der auch für die meisten anderen hier verwendeten Ergebnisse die Grundlage ist. Der Jugendsurvey ist eine vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderte, repräsentative Befragung unter rund 7.000 jungen Menschen im Alter von 16 bis 29 Jahren, die in den Jahren 1992, 1997 und 2003 durchgeführt wurde.

Allerdings könnte dieses Ergebnis auch eher als Ausdruck jugendspezifischer Lebensverhältnisse verstanden werden und weniger als mangelnde Wertschätzung der Politik; es zeigt die besondere Bedeutung sozialer Netze und der Ausbildungs- und Arbeitsmarktintegration im Jugend alter. Dass Politik für junge Menschen durchaus ein relevanter Bezugspunkt ist, zeigt sich daran, dass immerhin ein Fünftel ein starkes Interesse an Politik bekundet und zwei Fünftel ein mittleres Interesse. Dabei nimmt das Interesse an Politik mit dem Alter zu. Repräsentative Bevölkerungsumfragen zeigen darüber hinaus, dass das Politikinteresse der über 30-Jährigen noch deutlich größer ist. Das Verständnis für Politik ist Ergebnis eines längerfristigen Sozialisationsprozesses, in dessen Verlauf sich junge Menschen zunehmend mehr Wissen aneignen und in öffentliche Räume hineinwachsen, und es setzt eine gewisse Lebenserfahrung voraus.

Dementsprechend schätzen Jugendliche und junge Erwachsene ihre eigene politische Kompetenz nicht sehr hoch ein. Allerdings steigen in ihrer Selbstwahrnehmung ihre politischen Fähigkeiten mit dem Alter deutlich. Während von den 16- bis 17-Jährigen erst 26 Prozent der Aussage "Ich verstehe eine Menge von Politik" zustimmen, sind dies unter den 27- bis 29-Jährigen schon 39 Prozent. Von besonderer Bedeutung für das politische Interesse und die subjektive politische Kompetenz ist das Bildungsniveau: Bildung fördert sehr deutlich Interesse an und das Verständnis für Politik. Auch die Geschlechtszugehörigkeit spielt eine Rolle: Junge Männer äußern mehr politisches Interesse als junge Frauen.

Dass politische Themen junge Menschen im Alltag aber durchaus immer wieder beschäftigen, zeigt sich daran, dass fast die Hälfte von ihnen sehr oft oder oft im Freundes- und Bekanntenkreis, mit ihrem Partner beziehungsweise ihrer Partnerin und mit Mitschülern oder Kommilitonen Gespräche über politische Fragen führen. Politik ist also sehr wohl ein Bereich, der für die Mehrheit der jungen Menschen zu ihrer Lebenswelt gehört. Veränderungstendenzen seit Anfang der 90er-Jahre sind dabei kaum festzustellen, allenfalls Schwankungen beim politischen Interesse aufgrund spezifischer Anlässe wie zum Beispiel Wahlen.

Welche Einstellungen gegenüber dem politischen System werden von Jugendlichen und jungen Erwachsenen vertreten? Gibt es einen nennenswerten Anteil junger Menschen, die dem System der Bundesrepublik kritisch gegenüberstehen? Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass die Idee der Demokratie von fast allen jungen Menschen befürwortet wird. Trotz dieser grundsätzlichen Zustimmung ist in Ostdeutschland eine graduell geringere Befürwortung festzustellen: Der Anteil derjenigen, die der Idee der Demokratie nur "etwas" zustimmen, die also eine gewisse Distanz zu dieser politischen Ordnungsvorstellung zum Ausdruck bringen, ist in den östlichen Bundesländern deutlich größer. Bedenklich ist die nachlassende Zustimmung zur Idee der Demokratie seit Anfang der 90er-Jahre in West- und noch ausgeprägter in Ostdeutschland und die Tatsache, dass diese Tendenz insbesondere bei den Gruppen, die nur ein vergleichsweise niedriges Bildungsniveau erreicht haben und durch Modernisierungsprozesse verunsichert sind, zu beobachten ist.

Im Gegensatz zur grundsätzlichen Befürwortung eines demokratischen Systems ist die Zufriedenheit der jungen Menschen mit der Alltagswirklichkeit der Demokratie in der Bundesrepublik sehr viel geringer. Nur gut zwei Drittel in Westdeutschland und ungefähr die Hälfte in Ostdeutschland äußern sich in dieser Hinsicht als sehr, ziemlich oder etwas zufrieden. Darüber hinaus hat die Zufriedenheit mit der realen Demokratie in West- und Ostdeutschland seit Anfang der 90er-Jahre erheblich abgenommen. Diese Entwicklung entspricht in etwa Veränderungstendenzen, wie sie für die bundesdeutsche Bevölkerung generell festgestellt worden sind.

Bei der Abnahme der Demokratiezufriedenheit der jungen Menschen lassen sich wieder ausgeprägte Bildungseffekte nachweisen: Der Rückgang geht insbesondere auf diejenigen mit Hauptschulabschluss oder mittlerer Reife zurück. Als noch bedeutsamer als das Bildungsniveau erweisen sich darüber hinaus die Zufriedenheit mit den eigenen Lebensverhältnissen, Orientierungsunsicherheiten und Einschätzungen der Gerechtigkeit der sozialen Unterschiede sowie des "gerechten Anteils", den man selbst vom gesellschaftlichen Wohlstand erhält.

Die insgesamt recht große Unzufriedenheit mit der realen Demokratie hängt unter anderem auch damit zusammen, dass das Vertrauen der jungen Menschen in die Reaktionsbereitschaft des politischen Systems und seiner Akteure nicht sehr groß ist. Etwa drei Viertel der jungen Menschen glauben, dass die Politiker nur daran interessiert sind, gewählt zu werden und sich "nicht viel darum kümmern, was Leute wie ich" denken. Ein sehr geringes Vertrauen wird auch den Institutionen der etablierten Politik wie der Bundesregierung, dem Bundestag und den Parteien entgegengebracht. Viel größer ist dagegen das Vertrauen, wenn es um die Einschätzung staatlicher Institutionen geht, die vom alltäglichen Prozess der Politik unabhängiger sind beziehungsweise diesem als Kontrollinstanz gegenüberstehen, wie zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht und die Polizei. Dabei sind die Bewertungen solcher Institutionen durchaus nicht jugendspezifisch, sondern lassen sich ähnlich auch bei Erwachsenen finden.

Trotz der sehr häufig skeptischen Einschätzungen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen gegenüber der Politik, ist ihre Bereitschaft zu politischer Partizipation durchaus beträchtlich (siehe rechte Grafik). Die Beteiligung an Wahlen steht dabei mit Abstand an erster Stelle. Für vier Fünftel kommt die Beteiligung an Unterschriftensammlungen in Frage, für drei Fünftel die Beteiligung an genehmigten Demonstrationen und für fast ebenso viele die Mitarbeit in einem Mitbestimmungsgremium in Schule, Ausbildungsstätte oder Betrieb. Etwas geringer ist die Bereitschaft zur Beteiligung an Dis-kussionen in öffentlichen Versammlungen und an gewerkschaftlichen Streiks.

Diese verschiedenen Formen politischer Partizipation werden auch tatsächlich häufig genutzt; an erster Stelle steht wieder die Beteiligung an Wahlen. Zwei Drittel der jungen Menschen haben bereits an Unterschriftensammlungen, etwa ein Drittel an einer genehmigten Demonstration teilgenommen. Veränderungstendenzen seit Anfang der 90er-Jahre sind bei den Bereitschaften zu politischer Aktivität in unterschied- lichem Maße vorhanden: Bei Unterschriftensammlungen und genehmigten Demonstrationen etwa hat es kaum einen Rückgang gegeben, bei der Bereitschaft zu einem gewerkschaftlichen Streik hingegen schon. Insgesamt kann man aber nicht von einem massiven Rückgang sprechen.

Informelle politische Gruppierungen, die spezifische soziale Probleme thematisieren und häufig mit Mitteln öffentlichen Protests agieren - häufig als "Neue Soziale Bewegungen" bezeichnet - , haben gerade bei jungen Menschen eine hohe Anziehungskraft. So wird Umweltschutzgruppen, Friedensinitiativen, Menschenrechtsgruppen und Tierschutzinitiativen viel Sympathie entgegengebracht; etwa drei Viertel der jungen Menschen befürworten diese Gruppierungen. Mit etwas Abstand folgen Dritte-Welt-Initiativen, Selbsthilfegruppen und Initiativen in der Region, dem Stadtteil oder der Nachbarschaft. Die tatsächliche Beteiligung, zum Beispiel durch aktive Mitgestaltung, ist bei den jeweiligen Gruppierungen nicht sehr hoch; dennoch ist insgesamt fast ein Viertel der jungen Menschen in einer solchen Gruppe aktiv. Dieser Anteil ist seit 1992 etwa gleich geblieben. Dafür, dass die "Politikverdrossenheit" in der Lebensphase Jugend zu einer abnehmenden Beteiligung führen könnte, gibt es insofern keine empirischen Hinweise.

Insgesamt gesehen beteiligen sich Mädchen und junge Frauen am politischen Leben fast in gleichem Ausmaß wie ihre männlichen Altersgenossen. Nur Parteiarbeit und politische Ämter sind nach wie vor eher "Männersache". Bei anderen Formen spielen Geschlechterunterschiede dagegen kaum eine Rolle. Im Hinblick auf geäußerte Sympathien und auch die aktive Beteiligung bei den "Neuen Sozialen Bewegungen" zeigen sich junge Frauen gleichermaßen engagiert wie junge Männer. Die ökologischen und sozialen Ziele und die flexiblen Strukturen solcher eher informellen Gruppierungen schaffen offensichtlich bessere Beteiligungsmotivationen und Zugangschancen für Mädchen und junge Frauen.

Bildungseffekte sind beim Zugang junger Menschen zur Politik erheblich: Eine längere und anspruchsvollere Bildungsphase verbindet sich nicht nur mit höherem politischem Interesse und größerer politischer Kompetenz, sondern auch mit stärkerer Beteiligung bei informellen Gruppierungen, insbesondere den Umweltschutz-, Menschenrechts- und Selbsthilfegruppen sowie bei den Friedens- und Dritte-Welt-Initiativen. Bei anderen Partizipationsformen sind Bildungseffekte teils niedrig - am geringsten beim Wählen - aber teils auch deutlich feststellbar, beispielsweise beim Spenden für politische Zwecke, beim Schreiben von Briefen an Politiker und der Teilnahme an Demonstrationen. Das politische Interesse selbst hat einen starken Einfluss auf politische Partizipation: Als bedeutsam erweisen sich auch Wertorientierungen, die Meinungsfreiheit und Mitbestimmung betonen, sowie politisch orientierte soziale Netze.

Auch wenn es eine Vielfalt von Möglichkeiten der politischen Teilnahme für junge Menschen gibt, sind sie generell gesehen mit ihren Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme äußerst unzufrieden (siehe mittlere Grafik). Fast die Hälfte von ihnen bringt große Unzufriedenheit zum Ausdruck und nur ein Zehntel ausgesprochene Zufriedenheit. Dabei ist die Unzufriedenheit in Ostdeutschland sowie bei den unteren Bildungsgruppen besonders hoch. Selbst von denjenigen, die ein starkes politisches Interesse bekunden oder sich eine hohe politische Kompetenz zuschreiben, ist es gut ein Drittel, das mit seinen politischen Einflussmöglichkeiten sehr unzufrieden ist.

Etwas geringer ist die Unzufriedenheit bei jungen Erwachsenen, wenn es um die eigenen politischen Rechte und Freiheiten geht. In dieser Hinsicht äußert sich ein knappes Viertel als sehr unzufrieden und ungefähr ein Viertel als zufrieden. Davon, dass mehrheitlich Zufriedenheit zum Ausdruck gebracht wird, kann aber auch in dieser Hinsicht nicht gesprochen werden. Beides deutet darauf hin, dass im Verhältnis von Jugend und Politik Veränderungsbedarf besteht.


Für weitere Informationen zum Jugendsurvey: www.dji.de/jugendsurvey


Die Autoren arbeiten als Wissenschaftler am Deutschen Jugend Institut (DJI) in München und sind dort für die Durchführung des Jugendsurveys verantwortlich.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.