> Dossier > Sonderthema 16. Wahlperiode
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Nach den vorgezogenen Wahlen 2005 präsentiert sich der neue Bundestag mit vielen neuen Mitgliedern, einer weiteren Fraktion und einer leicht gestiegenen Mandatszahl. Nach dem amtlichen Endergebnis sitzen im 16. Deutschen Bundestag 614 Abgeordnete, 420 Männer und 194 Frauen. Das sind elf Parlamentarier mehr als im 15. Bundestag bei seinem Zusammentreten vor drei Jahren. Da die Nachfolgerin der PDS unter dem Namen „Die Linke.“ den Einzug ins Parlament schaffte, sind wie vor sieben Jahren wieder fünf Fraktionen vertreten. Der Anteil der Frauen ist mit 31,6 Prozent ein wenig zurückgegangen.
Eigentlich setzt sich das Parlament je zur Hälfte aus den 299 in den Wahlkreisen direkt gewählten Kandidaten und einer gleichen Zahl Abgeordneten zusammen, die die Parteien über ihre Landeslisten in den Bundestag schicken. Das wären jedoch nur 598 Mitglieder. Die zusätzlichen 16 Sitze im Bundestag beruhen auf den überhangmandaten, die in einigen Bundesländern auf die SPD und auf die CDU entfielen.
Eines ihrer überhangmandate erhielt die CDU bei der Nachwahl in Dresden (Wahlkreis 160). Das hatte zur Folge, dass der CDU-Kandidat mit dem berühmten Namen Cajus Julius Caesar seine Wiederwahl verpasste, obwohl er nach dem vorläufigen Endergebnis am 19. September über die nordrhein-westfälische Landesliste seiner Partei gerade noch ins Parlament gerutscht war. Caesar musste sein Mandat an die Parteifreundin Anette Hübinger aus dem Saarland abgeben – eine Auswirkung des Verfahrens, nach dem die Zweitstimmen auf die einzelnen Landeslisten verrechnet werden.
Der Forstingenieur Caesar, der bei seinem Einzug in den Bundestag 1998 seinen damaligen Fraktionschef Wolfgang Schäuble erst durch Vorlage seines Personalausweises von der Echtheit seines Namens überzeugen konnte, ist einer von rund 150 Abgeordneten, die den Bundestag nach der Wahl 2005 freiwillig oder unfreiwillig verlassen haben. Bei der SPD etwa hatte der ehemalige Parteivorsitzende und Minister Rudolf Scharping nicht mehr kandidiert, ebenso der langjährige Erste Parlamentarische Geschäftsführer Wilhelm Schmidt. Auch einige der prominentesten Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion hatten auf eine Wiederwahl verzichtet, etwa der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe, der frühere Vorsitzende der CSU-Landesgruppe und Postminister Wolfgang Bötsch oder der Minister für Abrüstung und Verteidigung der letzten DDR-Regierung, Rainer Eppelmann. Von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gaben neben anderen die langjährige Vizepräsidentin des Bundestages, Antje Vollmer, und der frühere Fraktionschef Rezzo Schlauch ihr Mandat freiwillig auf. Im Kampf um die Wiederwahl unterlegen waren zum Beispiel die frühere Ministerin Claudia Nolte und DDR-Bürgerrechtler Günter Nooke, beide von der CDU/CSU-Fraktion.
An ihre Stelle treten neue Abgeordnete, etwa ein Viertel der Mitglieder ist erstmals dabei. Der Anteil der Neulinge ist erwartungsgemäß besonders groß bei der 54 Mitglieder starken Fraktion Die Linke. 75 Prozent ihrer Abgeordneten sind erstmals ins Bundesparlament eingezogen. Relativ viele Debütanten hat auch die FDP-Fraktion, eine Folge ihres gegenüber 2002 deutlich verbesserten Ergebnisses. Mehr als ein Drittel der Fraktion sind Neulinge. Vor allem auf der bayerischen Landesliste kamen Kandidaten zum Zuge, die sich selbst kaum eine Chance eingeräumt hatten. Die Freidemokraten sind nach 15 Jahren wieder zur drittstärksten Kraft im Bundestag gewählt worden. Bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 konnte die FDP zuletzt den dritten Platz erringen, der ihr bis dahin im politischen Gefüge der alten Bundesrepublik jahrzehntelang zugefallen war.
Wenn jemand neu in den Bundestag einzieht, heißt das keineswegs, dass er keinerlei Parlamentserfahrung hat. Viele waren vorher Mitglieder eines Landtages. So wie der bisherige Fraktionsvorsitzende der CDU im hessischen Landtag, Franz Josef Jung und Sigmar Gabriel von der SPD, zuletzt Fraktionschef im niedersächsischen Landtag. über drei Jahre lang hat er von Dezember 1999 bis März 2003 als Ministerpräsident auf der Bundesratsbank die Interessen seines Landes vertreten. Parlaments- und Regierungserfahrung weist auch die neue Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, Bärbel Höhn, auf. Sie war in Nordrhein- Westfalen zunächst Fraktionssprecherin und dann Umweltministerin.
Auf gewohntem Parkett bewegt sich auch Brigitte Zypries (SPD), obwohl sie bislang kein Mandat innehatte. Sie vertrat in der 15. Wahlperiode als Bundesjustizministerin auf der Regierungsbank die Exekutive. Politische und parlamentarische Erfahrung bringen aber auch viele andere Abgeordnete in den Bundestag mit. Fast alle haben zu Beginn ihrer politischen Laufbahn Politik an der Basis gemacht, die meisten in der Kommunalpolitik. Die Statistik des Bundeswahlleiters zeigt, dass mehr als die Hälfte der Abgeordneten vor ihrem Bundestagsmandat legislative oder exekutive Aufgaben ausgeübt haben. Und etwa ein Drittel der Parlamentarier sind Beamte. Sie fallen wie die Abgeordneten und Berufspolitiker aus Ländern und Kommunen unter die statistische Bezeichnung „Abgeordnete, administrativ entscheidende Berufstätige“.
Zumindest bei den beiden großen Fraktionen lässt sich oft das gleiche Karrieremuster feststellen: Arbeit in der Nachwuchsorganisation wird mit der Kandidatur für Kommunalparlamente gekoppelt.
Exemplarisch ist der Weg, den Peter Ramsauer (CSU) genommen hat: Der Diplom-Kaufmann, Müllermeister und Unternehmer tritt 1972 als 18-Jähriger in die Junge Union ein, ein Jahr später in die CSU. Er wird nacheinander Orts-, Kreis-, stellvertretender Bezirks- und stellvertretender Landesvorsitzender der Jungen Union. Außerdem ist er CSU-Ortsvorsitzender, Mitglied des CSU-Parteivorstands, Stadtrat und Kreistagsmitglied. 1990 wird er erstmals in den Bundestag gewählt. 1998 wird er Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion.
Auch bei der SPD bietet vielen die Kommunalpolitik den Einstieg, die Mitgliedschaft bei der Jugendorganisation spielt aber eine etwas geringere Rolle als in der CDU/CSU. Arbeiter wie der gebürtige Kroate Josip Juratovic kommen oft über Gewerkschaftsengagement politisch nach vorn. Nach Abschluss einer Lehre als Kfz-Mechaniker tritt er 1982 der SPD bei, ein Jahr später der IG Metall. Er wird Vertrauensmann bei Audi, später Betriebsrat. Seit 2001 arbeitet er beim Bundesvorstand seiner Gewerkschaft. Seine politische Laufbahn beginnt 1986 mit der Wahl zum stellvertretenden Juso-Kreisvorsitzenden. 1993 wird er stellvertretender Vorsitzender des SPD-Kreisverbands, 1997 Mitglied des Landesvorstands der SPD. Der Einzug in den neuen Bundestag stellt den bisherigen Höhepunkt seiner politischen Karriere dar. Eine solche – vor allem für die beiden großen Fraktionen – typische „Ochsentour“ versuchen jüngere Akademiker abzukürzen, indem sie das politische Geschäft als Mitarbeiter einer Fraktion, einer Partei, eines Abgeordneten oder als Referent eines Ministers lernen.
So Katrin Göring-Eckardt, jetzt Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages: Das Gründungsmitglied von „Demokratie jetzt“ und „Bündnis 90“ arbeitet in der Landtagsfraktion ihrer Partei in Thüringen als Referentin für Frauenpolitik, Familie und Jugend, wird Landessprecherin und Beisitzerin im Bundesvorstand. Von 1995 bis 1998 lernt sie den Bundestag als Mitarbeiterin des Abgeordneten Matthias Berninger kennen und schafft 1998 den übergang zum eigenen Mandat. Vier Jahre später ist sie bereits Vorsitzende ihrer Fraktion.
Seiteneinsteiger aus politikfernen Berufen sind dagegen selten. Konrad Schily, Arzt und Gründer der Privatuniversität Witten/Herdecke, ist so einer. Er tritt im Jahre 2005 der FDP bei und kommt noch im selben Jahr über die Landesliste der FDP in den Bundestag. Schily, Bruder des bisherigen Bundesinnenministers, gehört als Arzt einer winzigen Minderheit im Bundestag an. Dagegen treffen Juristen allenthalben Berufskollegen. Jedes fünfte Mitglied des Bundestages ist Jurist, versteht also etwas von Gesetzen, was bei einem Gesetzgebungsorgan kein Nachteil sein muss. Der strukturelle Wandel der Erwerbsgesellschaft spiegelt sich auch im Parlament: Bergleute sind nicht mehr vertreten, ebenso wenig Drucker. Und ganze drei Landwirte sitzen noch im Bundestag.
Viele Abgeordnete werden wohl nie mehr in ihren früheren Beruf zurückkehren, auch wenn sie diesen im Amtlichen Handbuch des Bundestages angeben und sich nicht wie die SPD-Parlamentarierin Uta Zapf eben schlicht als „Abgeordnete“ bezeichnen. Kaum einem lässt das Mandat noch Raum, um nebenher einen Beruf auszuüben. Ein Handwerksmeister wie Ernst Hinsken (CDU/CSU) sagt, er schaffe es kaum, in seinem Betrieb nach dem Rechten zu schauen. Er sei auf gute Mitarbeiter und „eine tüchtige Ehefrau“ angewiesen, erklärt der Bäckermeister und Konditor.
Stolz ist Hinsken darauf, auch dieses Mal in seinem Wahlkreis Straubing mit 68,0 Prozent das beste Erststimmenergebnis aller Direktkandidaten erreicht zu haben. Bei den Sozialdemokraten liegen drei Abgeordnete aus dem Stammland der SPD, dem Ruhrgebiet, ganz vorn. An der Spitze Johann-Andreas Pflug im Wahlkreis Duisburg II mit 61,6 Prozent. Die meisten Zweitstimmen holte die SPD im Wahlkreis Aurich-Emden mit 55,9 Prozent, während die CDU im nicht weit entfernten Wahlkreis Cloppenburg mit 57,2 Prozent auf ihr bestes Zweitstimmenergebnis kam. Der Gegensatz zwischen den beiden niedersächsischen Wahlkreisen verweist auch auf die traditionelle Stärke der Union in katholisch geprägten Gegenden (Cloppenburg), während die SPD in mehrheitlich protestantischen Landstrichen (wie Aurich-Emden) häufig stärkste Kraft ist.
Einen großen persönlichen Erfolg verbuchte der Berliner Hans-Christian Ströbele. Er holte wie schon vor drei Jahren für Bündnis 90/Die Grünen das einzige Direktmandat und verbesserte dabei seinen Stimmenanteil um über zehn Punkte auf 43,3 Prozent. Für Die Linke. haben Petra Pau und Gesine Lötzsch ihre Berliner Direktmandate verteidigt. Beide saßen im 15. Deutschen Bundestag noch als fraktionslose Abgeordnete. Ihren dritten Wahlkreissieg verbuchte die neue Fraktion ebenfalls in Berlin: Fraktionschef Gregor Gysi gewann in Treptow-Köpenick.
Ströbele, Jahrgang 1939, ist das älteste Mitglied seiner Fraktion, die mit 46,3 Jahren drei Jahre unter dem Altersdurchschnitt des neuen Bundestages liegt. Die Durchschnittsmarke von 49,3 Jahren hat sich gegenüber der vergangenen Wahlperiode nicht verändert. Die beiden großen Fraktionen liegen knapp über dem Altersdurchschnitt, Die Linke. unterbietet ihn leicht mit 48,4 Jahren. Die FDP-Fraktion, die vor drei Jahren zusammen mit der SPD noch das höchste Durchschnittsalter aufwies, hat sich deutlich verjüngt. Mit 47,5 liegen die Freidemokraten nur noch ein gutes Jahr über den Grünen.
Deren Altersdurchschnitt hat vor allem Anna Lührmann, Jahrgang 1983, gesenkt, die nach drei Jahren im Bundestag immer noch die jüngste Abgeordnete ist. Zwischen ihr und Alterspräsident Otto Schily, Jahrgang 1932, liegt mehr als ein halbes Jahrhundert. Beim Altersdurchschnitt herrscht seit 1949 Kontinuität: Schon zu Beginn der ersten Wahlperiode lag er mit genau 50 Jahren sehr nahe beim aktuellen Durchschnittswert von 49,3. Otto Schily und sein Bruder Konrad bilden das zweite Bruderpaar im Bundestag. Schon 2002 hatte Volker Kauder, nun Vorsitzender der CDU/CSUFraktion, Unterstützung durch seinen Bruder Siegfried erhalten. Immer wieder bewerben sich Angehörige von Familien mit politischer Tradition erfolgreich um ein Bundestagsmandat. So war Carl-Eduard von Bismarck bei dieser Wahl erstmals als Direktkandidat siegreich und zog als Vertreter des Wahlkreises „Herzogtum Lauenburg/Stormarn Süd“ in das Parlament ein. Der CDU-Politiker und Ururenkel des Reichskanzlers war seit April 2005 als Nachrücker für den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Peter-Harry Carstensen schon für wenige Monate im 15. Deutschen Bundestag vertreten. Und auch die neue Vizepräsidentin des Bundestages Gerda Hasselfeldt kann auf familiäre Traditionen zurückblicken: Wie sie war bereits ihr Vater Alois Rainer von 1965 bis 1983 Mitglied der CDU/CSU-Fraktion.
Fotos: Deutscher Bundestag, studio
kohlmeier
Erschienen am 01. Dezember 2005