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Immer wieder dienstags füllen sich fünf Säle im Reichstagsgebäude bis zum letzten Platz. Lebhaft ist hier das Interesse der Medien, obwohl sie nicht bei den Treffen mit dabei sein dürfen. Ein untrügliches Zeichen dafür, welch wichtige Rolle die Fraktionen spielen: Hier, in den Fraktionssitzungen, fallen wichtige Vorentscheidungen. Hier entwickeln die Oppositionsfraktionen ihre Alternativen, hier entscheidet sich, ob die Regierung eine Mehrheit für ihre Politik findet.
Und das ist nicht erst seit kurzem so. Vom früheren Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier ist ein Gespräch mit Konrad Adenauer übermittelt, in dem der „Alte“, der von 1949 bis 1963 als Bundeskanzler tiefe Spuren in der Republik hinterließ, die eigene Bundestagsfraktion als „Fegefeuer“ bezeichnete. Er erlebte die Versammlung aller Abgeordneten aus der eigenen Partei als Tortur, weil er damit rechnen musste, peinlich genau befragt und argumentativ herausgefordert zu werden – oder aber mit seiner Politik stecken zu bleiben.
Die Fotografen und Kameraleute dürfen vor Beginn der Fraktionssitzung ein paar Szenen vom Saal und vom Vorstandstisch festhalten, aber dann werden die Türen geschlossen. Wer sitzt dann drin? An der Stirnseite an einem langen Tisch der Vorstand. Ist die jeweilige Fraktion an der Regierung beteiligt, finden sich hier auch der Kanzler oder die Kanzlerin und weitere Regierungsmitglieder aus der eigenen Partei, auch wenn sie nicht der Fraktion angehören. Die Sitzordnung im Saal ist von Fraktion zu Fraktion unterschiedlich. Sie kann zum Beispiel nach Landesgruppen organisiert sein, also regionaler Herkunft der Abgeordneten. Auch Mitglieder des Europäischen Parlamentes, die von der jeweiligen Partei nominiert worden sind, können an den Fraktionssitzungen teilnehmen; schließlich wird vieles, worüber in Berlin zu entscheiden ist, von Europa vorgegeben oder beeinflusst. Je nach Thema sind auch immer wieder Gäste geladen.
Forum für Argumente
Am Rand nehmen zahlreiche Beobachter Platz. Das sind Mitarbeiter von Abgeordneten und Fraktion, unter anderem auch aus der Fraktionspressestelle, die von Zeit zu Zeit draußen über den Fortgang der Beratungen berichten, bis Vertreter des Fraktionsvorstandes vor die Kameras treten und die Medien zusammenfassend informieren. Zu den Beobachtern gehören auch Vertreter aus Ministerien und Landesregierungen, die von Parteifreunden geführt werden. So kommen bei den großen Fraktionen leicht rund 400 Menschen bei einer Sitzung zusammen. Die Fraktionen sind Motor und Schnittpunkt der Politik. Noch mehr zeigen das die Abläufe. Hier wird die Tagesordnung des Plenums des Bundestages besprochen und es wird festgelegt, wie sich die Fraktion in einzelnen Abstimmungen verhalten, wer sie als Redner vertritt und welche Argumente in der Diskussion betont werden sollen. Aber es geht hier auch immer wieder um die großen Linien über die Sitzungswoche hinaus, um nationale und internationale Entwicklungen.
Die Fraktionssitzung ist der entscheidende Ort für einzelne Gruppen und Abgeordnete, die Mehrheit der Parteifreunde von der eigenen Meinung zu überzeugen. Nicht selten hat hier die Regierung oder Fraktionsführung Abstriche an Vorhaben machen müssen. Es wird aber nicht nur diskutiert, es wird auch abgestimmt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte jeder die Chance, für seine Sicht zu werben. Danach gilt die Mehrheitsmeinung auch für die Minderheit. Die Entscheidungsfreiheit des einzelnen Abgeordneten bleibt jedoch erhalten; allerdings kennen die meisten Fraktionen die Regelung, dass der Vorstand rechtzeitig vor der Abstimmung im Bundestag informiert werden soll, wenn der einzelne Abgeordnete von der Mehrheitsmeinung abweichen will.
Damit die Fülle der im Bundestag behandelten Themen in übersichtlicher Zeit behandelt werden können, sind gründliche Vorbereitungen nötig. So machen sich die Parlamentarischen Geschäftsführer (kurz PGF) intern und mit den Amtskollegen aus den anderen Fraktionen in regelmäßigen „PGF-Runden“ Gedanken über die Gestaltung der Tagesordnung in der folgenden Sitzungswoche.
Vor der Fraktionssitzung am Dienstag haben am Montag die Geschäftsführenden Vorstände und Fraktionsvorstände getagt und dabei versucht, die Herausforderungen der Woche vorzuklären: Wo gibt es noch Probleme? Wo lauern Gefahren? Wo lässt sich die eigene Politik gut verkaufen? Was muss dringend geklärt werden? Aber auch bei den einzelnen Abgeordneten herrscht Hochbetrieb lange bevor die Plenarsitzungen der Woche eröffnet werden. Sie treffen sich in ihren jeweiligen Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen, um die Politik der eigenen Fraktion in den Fachausschüssen des Bundestages zu beraten.
Gruppen in den Fraktionen
Die Obleute, also die von der Fraktion für einzelne Ausschüsse als Koordinatoren ernannten Fachpolitiker, kommen zu eigenen Runden zusammen, in denen sie die Positionen über den eigenen Ausschuss hinaus mit Unterstützung der Fraktionsführung ver- und abgleichen. Außerdem treffen sich die Obleute aus einzelnen Ausschüssen über die Fraktionsgrenzen hinweg, um zu ergründen, wo Einigungschancen bestehen, wo sich die eine oder andere Fraktion bewegen könnte. Und schließlich haben die Fachpolitiker regen Kontakt mit Fachleuten in Ministerien von Bund und Ländern, damit die Fraktionen schon im Prozess des Entstehens Einfluss auf die Details von Gesetzentwürfen nehmen können.
Wichtig ist auch das Wirken der Landesgruppen innerhalb der Fraktionen, die ein besonderes Augenmerk darauf richten, wie sich neue Regelungen und Entscheidungen auf ihre Heimatregion auswirken, ob ihr Land im Vergleich zu den anderen in der Politik und in der Repräsentanz hinreichend berücksichtigt wird. Daneben treffen sich weitere Gruppen, die die Vorhaben etwa aus dem Blickwinkel der Wirtschaft, der Arbeitnehmer, der Frauen, der Flüchtlinge oder der Jugend verfolgen. Nicht zu vergessen sind die größeren Strömungen innerhalb der einzelnen Fraktionen. Zu den bekannten gehören etwa innerhalb der SPD-Fraktion die „PL“, die Parlamentarische Linke, die (konservativeren) „Seeheimer“ und die (pragmatischen) „Netzwerker“. Außerdem holen sich die Fraktionen auch immer wieder Sachverstand von außen und halten Anhörungen mit Experten aus Wissenschaft und Praxis ab.
Das alles muss vorbereitet, koordiniert, ausgewertet, zusammengefasst, aufbereitet und vermittelt werden. Deshalb haben nicht nur die einzelnen Abgeordneten verschiedene Mitarbeiter (häufig einen für den Wahlkreis und zwei für das Berliner Büro), sondern auch die Fraktionen verfügen über versierte personelle Unterstützung. So sind Fraktionen nicht nur Zusammenschlüsse einzelner Abgeordneter, sondern auch Arbeitgeber, die bei den größeren Fraktionen durchaus die Dimension mittelständischer Unternehmen mit einer dreistelligen Zahl von Beschäftigten annehmen. Da gilt für die Politik selbst genau das, was die Politik den Firmen vorgibt: Personalvertretungen, Betriebsräte, Behinderten- und Gleichstellungsbeauftragte arbeiten gemeinsam mit den Verwaltungsleitungen der Fraktionen am optimalen Arbeiten hinter den Kulissen.
Gesellschaftlicher Dialog
Möglichst viele möglichst früh möglichst umfassend zu beteiligen – das ist das Geheimnis erfolgreicher Politik in einer parlamentarischen Demokratie. Deshalb sind die Verbindungen in die Bundesländer für die Fraktionen besonders wichtig. Sie haben eigens Stabsstellen eingerichtet, die die Fraktionspolitik in die Länder kommunizieren und mit dem abstimmen, was aus den Ländern kommt. Denn viele Gesetze können in Deutschland nur entstehen, wenn sich die Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat einig sind.
Natürlich ist nicht nur der Kontakt zur Länderkammer von herausragender Bedeutung. „Wichtig ist vor allem, dass eine Fraktion nicht nur in und mit diesem Parlament lebt, sondern dass sie auch immer das Ohr nach draußen hat, immer für Kontakt sorgt“, betont Dagmar Enkelmann, Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion Die Linke. Deshalb habe ihre Fraktion unmittelbar nach der Konstituierung eine Kontaktstelle für außerparlamentarische Bewegungen eingerichtet. „Wir wollen auch den direkten Draht haben, nicht nur durch die einzelnen Abgeordneten, sondern auch durch die Fraktion“, erläutert Enkelmann. Im Bundestag könne es sehr leicht geschehen, dass die einzelnen Abgeordneten mit Arbeit regelrecht überhäuft würden. Deshalb sei es wichtig, als Fraktion die politischen Schwerpunkte immer gemeinsam mit den Betroffenen zu entwickeln.
Veränderte Gesellschaft
Das alles ist natürlich nicht statisch. Und immer wieder gibt es Versuche, auch außerhalb eingefahrener Gleise voranzukommen. Spektakulär wirkte 1983 der Einzug der Grünen in den Bundestag. Unter der Devise „keine Macht für niemand“ ließen sie ihre Abgeordneten alle zwei Jahre „rotieren“, beschränkten die Einkünfte der Parlamentarier, verfolgten kritisch die Politik der eigenen Kollegen in teils öffentlichen, stets aber langen Sitzungen und wählten etwa 1984 einen rein weiblichen Fraktionsvorstand. Seit 1986 wird nicht mehr rotiert.
„Wir sind professioneller geworden“, sagt der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der aktuellen Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Volker Beck. Aber nicht nur seine Fraktion arbeite heute anders als früher: „In vielen Punkten, an denen sich damals die anderen Fraktionen gerieben haben, da haben wir uns schlicht durchgesetzt.“ Niemand belächele mehr den hohen Frauenanteil von 60 Prozent in seiner Fraktion, niemandem falle mehr ein, das Auftreten von Grünen-Politikerinnen mit Macho-Sprüchen zu begleiten. Allenfalls werde von anderen Fraktionen deren eigener geringer Frauenanteil als Problem empfunden. Sein Fazit: „Wir haben die Gesellschaft verändert und wir uns mit ihr.“
Text: Gregor Mayntz
Erschienen am 8. Februar 2006