Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 11 / 14.03.2005
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Ute Grundmann

Chemie und Braunkohle prägten Jahrzehnte das Land

Die Industrieregion Bitterfeld nördlich von Leipzig als Symbol des ständigen industriellen Wandels in Deutschland
Bitterfeld? Chemiedreieck, Dreckschleudern, europäische Umweltkatastrophe. Das wird den meisten zur Stadt nördlich von Leipzig einfallen. Vielleicht noch der "Bitterfelder Weg", mit dem die SED die Künstler der DDR Richtung "sozialistischer Realismus" schickte und Laien mit dem Slogan "Greif zur Feder Kumpel, die sozialistische Nationalkultur braucht Dich" zum Schreiben animieren wollte. Den Fluss Mulde machte erst das August-Hochwasser 2002 bekannt.

Aber es gab eine Zeit, in der man zumindest den lokalen und regionalen Bedarf an Altarwein aus den hier erzielten Erträgen decken konnte. So beweisen es Klosterrechnungen von Brehna. Gräfenhainichen etwa war um 1380 vom Hopfenanbau geprägt, im 18. Jahrhundert dann vom Tabakanbau. Land- und Forstwirtschaft bestimmten bis Mitte des 19. Jahrhunderts den Raum, vor allem Weizen und Zuckerrüben wurden angebaut. Damals standen noch über 100 Wind- und Wassermühlen in der Region. Die Gemeinden Brehna, Jeßnitz, Raguhn, Bitterfeld, Gräfenhainichen und Zörbig waren bis spätestens Ende des 15. Jahrhunderts urkundlich erwähnt.

Gräfenhainichen etwa, das westliche Tor zur Dübener Heide, war Sitz eines kursächsischen Amtes, später, 1867 bis 1878, einer preußischen Garnison und von 1950 bis 1994 Kreisstadt. Heute gehört es zum Landkreis Wittenberg. Rund drei Kilometer um die Stadtmitte sind bronzezeitliche Siedlungen und mehrere Hügelgräberfelder nachgewiesen. Zwei (von vier) verbliebene Tortürme markieren noch heute die mittelalterliche Stadt. Ackerbau, Handwerk und Bierbrauereien bestimmten das wirtschaftliche Leben der Stadt, in der um 1800 von 1000 Einwohnern 92 Handwerksmeister waren. 1859 entstand der Bahnhof, 1874 wurde die erste Druckerei angesiedelt.

Bitterfeld wurde bereist 1224 erstmals in einer Urkunde erwähnt. 1925 wurde bei Erdarbeiten das "Bitterfelder Kreuz", ein bronzenes Vortragekreuz aus der Zeit um 1200, entdeckt. Bitterfeld war eine Ackerbürgerstadt; um 1800 dominierten Gewerbe, die landwirtschaftliche Erzeugnisse und Rohstoffe verarbeiteten. Später prägten Tuchmacher und Töpfer das Wirtschaftsleben, 1839 lief in einer Tuchmacherei die erste Dampfmaschine der Stadt.

Dorf "bei den Wölfen"

Und Wolfen, 1400 erstmals als Dorf "bei den Wölfen", also nahe am Waldrand, erwähnt, war ein entlegenes, wenig bedeutendes Bauern- und Leineweberdorf mit etwa 20 Hofstellen und einem Rittergut. Hier und in der ganzen Region sollte der Beginn des Kohlebergbaus den Charakter völlig verändern; in Wolfen hatte der Bergbau schon vor dem Ersten Weltkrieg die Landwirtschaft fast verdrängt.

Der Beginn großflächigen Bergbaus auf Braunkohle geht auf den Bitterfelder Tuchfabrikanten Johann David Schmidt zurück, der 1839 auf dem Pomselberg am Kreuzeck südlich von Bitterfeld die Grube "Auguste" eröffnete. Die Grube "Johannes" bei Wolfen folgte 1845. Ab 1880 wurde auch in Greppin Braunkohle, aber auch wertvolle Braunkohlentone für Verblendziegel und Terrakotten gefördert. Ab 1888 wurde bei Golpa und später auch bei Zschornewitz großflächig und mit schwerer Technik abgebaut.

Noch beherrschte man die Wasserhebung nicht. Viele Gruben soffen im Grundwasser ab - in der "Deutschen Grube" lief ab 1850 die erste Dampfmaschine, die das Grundwasser abpumpte. Wurde anfangs mit Hacke und Schaufel gegraben, die Kohle auf Karren und mit Pferdefuhrwerken transportiert, arbeitete ab 1965 das größte Gerät im Tagebau "Muldenstein": der "Europabagger", der mit seiner Eimerkette ein Volumen von 2240 Tonnen Lockermaterial erreichte. Insgesamt wurde zwischen 1839 und 1993 in 50 Gruben, überwiegend im Tagebau, Braunkohle abgebaut.

Dass die Bitterfelder Kohle wegen ihres hohen Wassergehaltes weniger Heizwert hatte, erwies sich später, bei der Ansiedlung von Chemieindustrie und der Energiegewinnung, als Standortvorteil. Ein weiterer Vorteil der Region war die gute Verkehrsanbindung: Südöstlich des Bitterfelder Stadtkerns, in Höhe Holzweißig, kreuzen sich zwei ältere Verkehrswege. Die heutige Bundesstraße 184 schuf von Nordwesten die Verbindung von Dessau nach Leipzig, die Strecke von Südwesten nach Nordosten verbindet Halle an der Saale mit Wittenberg. Die heutige Bundesstraße 100 war bereits 1823 als Chaussee ausgebaut.

Zwischen 1840 und 1860 erreichte der Bau der Eisenbahn einen ersten Höhepunkt; bereits 1840 gab es die durchgehende Verbindung Magdeburg-Leipzig, - die erste Eisenbahn, die Grenzen von Staaten des Deutschen Bundes überschritt. Weitere Bahnstrecken verbanden den Bitterfelder Raum schließlich mit Berlin, den preußischen Provinzen, mit Anhalt, Sachsen und dem thüringischen Staatenverbund. Und auch die Reichsautobahn bekam für die Region große Bedeutung: 1936 entstand der erste Autobahnknoten Schkeuditzer Kreuz, wo sich heute die Autobahn 9 (Berlin-Nürnberg) und die Autobahn 14 (Görlitz-Magdeburg) kreuzen.

Diese Standortvorteile der Region erkannte auch Walther Rathenau. Er war während des Aufbaus des Werkes der Berliner Elektrochemischen Werke in Bitterfeld Geschäftsführer und lebte in der Stadt. Er blieb bis 1907 Geschäftsführer des Bitterfelder Werkes, auch wenn er inzwischen in Berlin wohnte. Die Etablierung der Großchemie vollzog sich zwischen 1893 und 1909, in einem industriellen Kern um Bitterfeld und die Gemeinden Greppin, Wolfen, Sandersdorf und Holzweißig. Die immer noch intensiv betriebene Landwirtschaft diente nun der Versorgung der Werke, der Arbeiter und ihrer Familien.

Auch die Aktiengesellschaft für Anilinfabrikation Berlin (AgfA) siedelte sich an; die Greppiner Farbenfabrik wurde 1895, auf Betreiben Rathenaus, eröffnet. Kraftwerke auf Braunkohlenbasis entstanden: 1915 das damals größte in Zschornewitz, das den Großraum Berlin mit Elektrizität versorgen sollte.

Im Ersten Weltkrieg wurden die Chemiebetriebe in die Kriegswirtschaft einbezogen; sie produzierten Salpetersäure und chemische Kampfstoffe wie Phosgen. In einem Konzentrationsprozess, der zur Gründung der IG Farben führte, wurden den Werken spezielle Aufgaben zugewiesen. PVC wurde in der Region seit 1936 hergestellt, auch für den Bedarf der AgfA-Filmfabrik. Hier wurde die erste vollsynthetische Faser entwickelt, die PeCe-Faser, die zu Fallschirmseide verarbeitet wurde. Die Wolfener Farbenfabrik wurde erweitert, sie stellte auch den gefürchteten Kampfstoff Diphosgen (Grünkreuz) her, unter der Herrschaft der Nationalsozialisten gab es eine enorme Steigerung bei der Herstellung von Chlor, Phosphor und Explosivstoffen.

Demontagen

Die Region wurde im Krieg sehr viel weniger zerstört als andere. Nach der Demontage von etwa 55 Prozent der Elektrochemie und 60 Prozent der Filmfertigung durch die Sowjets begann nach 1945 in Bitterfeld schrittweise der Aufbau der Produktion von Grundchemikalien, Düngemitteln und Gebrauchsgütern aus Aluminium (Geschirr) und PVC (Schuhe, Schürzen). Später wurde hier auch die Suppenwürze BINO (Bitterfeld Nord) und Zahnpasta hergestellt.

In der Farbenfabrik Wolfen entstanden Lösungsmittel und Pharmazeutika. 1958 gab es eine Kampagne zum Siebenjahrplan "Chemieprogramm zur Chemisierung der gesamten Volkswirtschaft" mit dem Motto "Chemie gibt Wohlstand, Brot und Schönheit". Bitterfeld wurde die "Apotheke der Volkswirtschaft" genannt, mit 260.000 Tonnen pro Jahr war das Werk der größte Chlorhersteller der DDR.

Bitterfeld und Wolfen waren über viele Jahre mit innovativen Entwicklungen der Chemischen Industrie verbunden. Hier wurden Weltneuheiten wie Anilinfarbe, Kunststoffe auf Plastbasis entwickelt, ebenso der erste mehrschichtige Kinefarbfilm der Welt (ORWO - "Original Wolfen" hieß es später) und die Polyamidfaser Perlon/Dederon. Doch spätestens in den 50er-Jahren waren viele Anlagen veraltet oder verschlissen, technologisch rückständig. Fehlender Umweltschutz sorgte für große Beeinträchtigungen von Mensch und Natur. 50 Millionen Kubikmeter Rückstände wurden in aufgelassenen Tagebauen entsorgt. Erst 1988 gab es ein Klärwerk für die Chemieproduktion, womit die 1915 gebaute Chloratanlage ersetzt wurde.

Nach der Wende verloren die Standortvorteile und die traditionelle Produktpalette ihre Bedeutung, Kosten- und Altersstruktur waren von Nachteil. Es gab Teilprivatisierungen, etwa bei der Chlor- und Phosphorchemie. Die Chemie AG Bitterfeld-Wolfen und die Filmfabrik Wolfen AG gingen 1994 in Konkurs. Alte Anlagen wurden abgerissen, erhaltene modernisiert, und so entstand der Chemie-Park Bitterfeld-Wolfen der Firmengruppe Preiss-Daimler.

Nach der Zeit der Ackerbürgerstädte, dann der Großchemie und des Tagebaus begann für die Region mit der Wende eine neue, radikale Veränderung. Die Städte, einst für die Werksarbeiter großflächig erweitert, verloren bis zu einem Viertel ihrer Bewohner. In Wolfen begann man 1999 mit dem "Rückbau" von Plattenwohnhäusern. In Gräfenhainichen entwickelten sich neue Branchen wie Metall- und Stahlbau, Bau- und Druckgewerbe sowie Handwerk. Heute ist der 1927 fertiggestellte, 37 Meter hohe Wasserturm ein markantes Element in der Silhouette der Stadt, in der 1607 Paul Gerhardt geboren wurde, der nach Luther bedeutendste evangelische Liederdichter. Und nahe der Stadt kam der Astronom Johann Gottfried Galle zur Welt, der den Planeten Neptun entdeckte.

Den größten Wandel erfährt die Natur in dieser Region und damit auch die Umwelt. Das Staatliche Forstamt Bitterfeld bemüht sich, Natur- und Umweltschutz mit der Forstwirtschaft in einer von Bergbau und Industrie geprägten Landschaft in Einklang zu bringen. Im Landkreis Bitterfeld gibt es heute 21 größere Landwirtschaftsbetriebe. Einer gehört der öffentlichen Hand: Das Rittergut Greppin kam schon 1581 zur Stadt Bitterfeld. Die Muldenaue, einst ausgeprägte regionale Schadstoffsenke für Abwässer, erholt sich.

Und die Tagebaue werden renaturiert und aufgeforstet. So "Golpa Nord", nördlichster der ehemaligen Großtagebaue, der bis vor die Tore von Gräfenhainichen reicht. 1959 aufgeschlossen, wurden dort bis Oktober 1991 circa 70 Millionen Tonnen Kohle gefördert. Seitdem wurden mehr als 15 Millionen Kubikmeter Abraum bewegt und Böschungen gestaltet. Seit 2000 wird der Tagebau geflutet für einen Tagebaurestsee, der 2005 fertig sein soll. Dafür gibt es eine 12,5 Kilometer lange Rohrleitung, die eine Pumpstation bei Altjeßnitz mit dem Restloch verbindet.

Gefluteter Tagebau

Auch der Muldenstausee ist ein gefluteter Tagebau, aus dem zwischen 1955 und 1975 126 Millionen Tonnen Kohle gefördert wurden. Heute führen 20 Kilometer Naturpfade und Wege um den See herum; Gänse, Kormorane und Lappentaucher sind wieder heimisch, man findet dort eine große Biberburg des Elbebibers. Der ist auch im Naturschutzgebiet "Untere Mulde" zu Hause, 1137 Hektar von der Mulde-Mündung bis Steinberg bei Muldenstein. 147 Vogelarten sind dort angesiedelt, 31 Arten kommen als Durchzügler oder Wintergäste. Waldkauz- und Weißstorchpaare sind zu beobachten.

Und aus 65 Quadratkilometern Folgelandschaft und 23,6 Quadratkilometer Wasserfläche aus Restseen ist inzwischen die "KulturLandschaft Goitzsche" entstanden. Wo von 1949 bis 1991 Kohle gefördert wurde, siedelte sich heute das Bauhaus-Projekt "Industrielles Gartenreich" an. Es wurde ein architektonisch-künstlerisches Konzept entworfen, um die Landschaft als touristisches Ziel in Mitteldeutschland anziehend zu machen.

Ein besonderes Denkmal hat man dem Bergbau in Ferropolis (nahe Gräfenhainichen) gesetzt. Aus fünf Tagebaugroßgeräten wurde die "Stadt aus Eisen", - auf der Halbinsel des Gremminer Sees, der noch geflutet wird. Dies ist die äußere Kulisse für eine Freiluftarena, die 25.000 Besucher fasst und in der Konzerte und Veranstaltungen zum Erhalt des Denkmalensembles veranstaltet werden.

Ein Förderverein betreut die eiserne Stadt; die Schaltware der Verteilerstation, Schlosser- und Elektrowerkstatt können besichtigt werden. Fotoausstellungen erinnern an Tagebauverfahren und die verlorenen Gemeinden Gremmin und Golpa. Der englische Bühnendesigner Jonathan Park schließlich taufte die Eisenriesen auf Namen wie "Mosquito", "Mad Max" und "Gemini". So wurde das Sinnbild des Wandels in der Region auch zu einem Kunstobjekt.


Bibilografischer Hinweis:

Bitterfeld und das untere Muldental.

Band 66 der Reihe "Landschaften in Deutschland. Werte der deutschen Heimat".

Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2004;

367 S., 29,90 Euro.


Ute Grundmann arbeitet als freie Journalistin zu kulturpolitischen Themen in Leipzig.


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