Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 11 / 14.03.2005
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Annette Rollmann

Ein Dichter unter Menschen

24 Stunden Schillermarathon in der neuen Akademie der Künste in Berlin
Natürlich hört sich Schiller nach Bildung, nach intellektueller Durchdringung, nach hohem Streben an. Man könnte so hübsche Sätze über ihn schreiben wie: Schiller ist Hochkultur. Er ist Nationaldichter. Es gibt eine Nationalausgabe. In jeder Stadt gibt es eine Schillerstraße, eine Schillerschule. Stimmt alles. Aber genau in diesem Hochfahrenden, in dieser wortklingenden Kulturschwere liegt auch das Problem: Unwillkürlich setzt Ermüdung, Erschöpfung, erwartete Langeweile ein. Die Erinnerung daran, dass Schiller vor allem eine Aufgabe für beflissene Deutschlehrer ist, ein Dramatiker für pflichtschuldige Theaterabende, ein Dichter für die Vitrine - sozusagen.

Doch mitnichten. Dass dem nicht so ist, haben wir vor allem Friedrich Schiller selbst zu verdanken, der mit seinen Texten, in denen der Wille zur Freiheit, die Liebe zur Rebellion jeden ansprechen, der nicht innerlich das Leben längst hinter sich gelassen hat. Er erreicht die, die Anmut und Schönheit lieben, die die Wahrheit suchen und doch an ihr scheitern. Schiller ist der, der mit ästhetischer Sprachgewalt kantige Personen formt und damit die Gegenwart reizt und erreicht wie wenige.

Lebendig gemacht haben dies am 5. und 6. März in einem furiosen 24-Stunden-Marathon in dem neuen Bau der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin etwa 80 Schauspieler, Politiker und prominente Vertreter aus Politik und Theater. Jeder, der las, konnte sich einen Text aussuchen, nur begrenzt durch den Wunsch eines anderen. Sie trugen Balladen und Gedichte vor, wie auch Passagen aus den theoretischen Schriften und aus den Szenen der Dramen von Schiller. Die Veranstaltung wurde organisiert von der Kulturstiftung des Bundes, der Akademie der Künste und dem Theaterkanal.

Schirmherrin Kulturstaatsministerin Christina Weiss eröffnete mit dem Prolog zu "Wallenstein" die "Tour de Schiller" mit den für das Gebäude passenden Worten: "O! möge dieses Raumes neue Würde / Die Würdigsten in unsre Mitte ziehn", Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) trug Schillers "Kampf mit dem Drachen vor" und Bundesinnenminister Otto Schily las "Über das Erhabene" und rezitierte kraftvoll: "Alle andere Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen welches will." Der 90 Jahre alte George Tabori war sozusagen Ehrengast und trug den wohl kürzesten Text mit Würze vor. "Der Name Württemberg schreibt sich von der Wirt am Berg. Ein Württemberger ohne Wein, kann der ein Württemberger sein?"

Die Tagnachttaglesung war die offizielle Auftaktveranstaltung zum Schillerjahr. Der Dichter starb vor 200 Jahren, 45-jährig von Fieberkrämpfen gepeinigt und doch zuversichtlich. Einen Tag vor seinem Tod am 9. Mai 1805 hatte er auf die Frage nach seinem Befinden geantwortet: "Immer besser, immer heiterer."

Es hätte ihm gefallen: Überall hallte und sprach es in der künftigen Akademie Schillerverse, es waren Monitore aufgestellt, Leinwände aufgezogen, junge Frauen hatten FC Schiller Fan T-Shirts an. Die 8.000 Besucher drängelten sich im Vortragssaal, standen Schlange, saßen im Foyer, an der Bar und ließen ihren Blick durch das Gebäude schweifen, durch die Glasfront des Hauses auf die Kuppel des Reichstages mit den im Wind wehenden Fahnen. Man könnte denken, extra für den Nationaldichter.

Und was macht Schiller so gegenwärtig? Der Shootingstar Matthias Schweighöfer, der im Mai im ARD-Film "Schiller" mit flammendroten, abstehenden Haaren die Hauptrolle spielt, formulierte das neue Schillerbild zum Schillerjubiläum 2005, das über ihn aller Orten geprägt wird. Schiller soll nicht länger nur der große Dichter und Idealist auf einem hohen Sockel sein, er soll endlich so werden, dass wir ihn erkennen: "Er ist Mensch, wie wir alle", sagte Schweighöfer.

Und auch der Theater- und Fernsehschauspieler Heikko Deutschmann erzählte, ihn fasziniere an Schiller das Sich-selbst-Vergessene, das Menschliche und berichtet von der Szene, wie der 22-jährige Schiller die um 17 Uhr angesetzte Uraufführung seiner "Räuber" in Mannheim fast versäumt habe. In Schwetzingen war er hängen geblieben, weil er sich mit einem Schankmädchen verlustierte. Damit hätte Schiller fast seinen Triumph verpasst, wie es ihn bis dahin kaum gegeben hatte: Ein junger Dichter und sein beginnender Weltruhm. Wie in Quellen ein Zeuge der Uraufführung schildert, brach nach der Vorführung die Hölle los: "Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraume! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung bricht." Schiller, der hoch aufgeschossene, schlaksige Kerl, bietet aber auch sonst allerlei Menschliches. Er liebt mehrere Frauen gleichzeitig, er leidet, ist oft krank, er jammert über zu wenig Geld, spielt Karten, trinkt Champagner, nimmt Schnupftabak. Auch in diesem Sinn sagte der Schweizer Schriftsteller und Präsident der Akademie Adolf Muschg zu Beginn des Lesemarathons: "Wir wollen Schiller von vielen Seiten zeigen, auch von seiner lockeren, sogar selbstironischen Seite." Die Schauspieler, sie lasen Bekanntes und unbekanntes, rezitierten mal donnernd oder auch selbstbespiegelnd. Esther Schweins versuchte sich mit einem Text über Anmut und heischte beim Publikum um dieselbe. Nach einem Seufzer hauchte sie: "Ich hoffe, das war anmutig."

Die, die die ganze Nacht aushielten, wurden belohnt durch Feldbetten, auf die sie sich müde legen konnten und mit Beats, die von Tyron Ricketts, Ex-Vivamoderator, Rapper und Schauspieler aufgelegt wurden. Er sang Schiller, "Kastraten und Männer". Die, die Lider schon gesenkt hatten, wachten spätestens da wieder auf. Am nächsten Morgen ging es weiter, mit Leander Haußmann, der zusammen mit Detlev Buck aus seinem Drehbuch "Kabale und Liebe" vortrug, das er verfilmen will. Ganz am Ende, Sonntagmittag, sprachen die Veranstalteter, als Schillers "Ode an die Freude" mit der Verszeile "Alle Menschen werden Brüder" verklungen war, von einem "kollektiven Aufstand gegen die sprachliche Verarmung und die Inhaltsleere einer überinformierten Mediengesellschaft".

Das Akademiegebäude, in dem sich die Menschen in diesen 24 Stunden zusammengefunden hatten, ist zur Seite des Pariser Platzes mit seinen gläsernen Fassade luftig und einsichtig von Günter Behnisch entworfen worden. Die Fassade, um die lange im sogenannten "Fassadenstreit" gerungen wurde, wirkt zum Platz hin offen und transparent, wie schon Behnischs Bonner Plenarsaal und sein heiter, leichtes Olympiastadion in München. Der Bau vermittelt eine einladende Öffentlichkeit, die im Gegensatz zu den vielen steinernen Fassaden am Platz steht. Er lädt ein zum Betreten. Darin weist die Architektur auf den Sinn einer Akademie hin. Ihr früherer Präsident György Konrád schrieb: "Die Stadt, die Welt der Künstler und das Publikum - die sensible und nachdenklich Öffentlichkeit - brauchen das Haus der Akademie an diesem Ort." Doch das, was Behnisch im Bonner Plenarsaal so vorzüglich gelang, die Offenheit mit einer großen Klarheit auch im Innenraum zu verbinden, wird in der Akademie zu einem großen Spiel für Erwachsene. Da sind Treppen und Brücken, die sich inspitzen Winkeln durch den Raum schwingen. Die luftigen Stiegen scheinen wie im Nichts zu verschwinden, wie Himmelsleitern in Märchenwelten. Doch ob so Architektur die Gegenwart erreicht? Gleich der Nachbar nebenan, der Entwurf von Frank Gehry für die DG-Bank hat vorgemacht, wie man Glas mit moderner Verheißung von Stadtsein zusammenführt, ohne kitschig zu werden.

Das Gebäude Pariser Platz 4, wurde erstmals 1734 errichtet. Als Akademie wurde es gerade in den 20er- und frühen 30er-Jahren unter der Präsidentschaft von Max Liebermann ein herausragender Ort für das künstlerische Leben. Die Akademie wurde zum wichtigsten Forum für die kulturpolitischen Fragen in der Zeit der Weimarer Republik. Von den Nazis wurde das Haus zur Generalbaudirektion umfunktioniert, in der jungen DDR diente es den Akademiemitgliedern als Atelier. Später, in den letzten Jahren der DDR wurde das Gebäude vor allem von Grenztruppen genutzt. Nachdem die Akademie der Künste lange am Tiergarten, fast versteckt, residiert hatte, ist sie nun wieder an ihrem historischen Ort angekommen, direkt am Brandenburger To. Am 21. Mai wird sie offiziell eröffnet werden.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.