Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 11 / 14.03.2005
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Karl-Otto Sattler

Geschichten vom verregelten Völkchen

Heftig umstritten: Das Antidiskriminierungsgesetz
Es brodelt in der politischen Hexenküche. In Düsseldorf droht sogar eine Regierungskrise. Der grüne Landesvorsitzende Frithjof Schmidt will "die Koalitionskarte ziehen", sollte SPD-Ministerpräsident Peer Steinbrück im Bundesrat gegen das Antidiskriminierungsgesetz stimmen: Dieses ADG wird von den Fraktionen der SPD und der Grünen im Bundestag betrieben, von Steinbrück aber als "zusätzliche Belastung für die Wirtschaft" abgelehnt.

Wirtschaftsminister Harald Schartau, auch Parteivorsitzender im Land, ruft die SPD-Bundestagsabgeordneten von Rhein und Ruhr auf, das umkämpfte Projekt abzulehnen - ein spektakulärer Vorgang. In Brandenburg hofft die CDU, die SPD für ein Nein in der Länderkammer gegen das ADG zu gewinnen: Potsdams Regierungschef Matthias Platzeck - "Wir sind ein völlig verregeltes Völkchen geworden" - hatte zur besten TV-Sendezeit gefordert, nur das in hiesiges Recht umzusetzen, was die EU verlangt. So will es auch der Mainzer Kollege Kurt Beck. Zum Ärger vor allem der Grünen gehen selbst SPD-Bundesminister wie Otto Schily, Wolfgang Clement und Hans Eichel auf Gegenkurs.

Steinbrück und Platzeck sind zu Jokern in einem heißen Spiel avanciert: Votieren sie im Bundesrat gegen das ADG, dann bringen sie zusammen mit den Unions-Ministerpräsidenten eine Zwei-Drittel-Mehrheit zusammen und damit das Gesetz zu Fall. Union und FDP schießen krachendes Sperrfeuer gegen das ADG, das für die CDU-Vorsitzende Angela Merkel ein "absoluter Jobkiller" ist. Ein in der vergangenen Woche im Bundestag eingebrachter Antrag der Unions-Fraktion fordert die Rücknahme der rotgrünen Vorlage.

Die Befürworter sehen sich in der Defensive. Die grüne Vorsitzende Claudia Roth verteidigt die deutsche Ausformung der EU-Vorgaben als "pragmatisches, modernes Gesetz". Krista Sager weist SPD-Vorwürfe als "diffus" zurück: Die Fraktionsvorsitzende erinnert wie der Parlamentarische Geschäftsführer Volker Beck die Minister Schily, Clement und Eichel daran, dass ihre Ressorts an der Ausarbeitung des ADG-Entwurfs beteiligt waren. Bei der SPD wollen Parteichef Franz Müntefering, Verhandlungsführer Olaf Scholz oder der Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz am Grundanliegen des Projekts festhalten. Eines aber steht schon fest: In der jetzigen Fassung wird das ADG keine Gesetzeskraft erhalten. Scholz, Volker Beck und andere Koalitionspolitiker erklären sich zu Änderungen bereit. Claudia Roths Co-Parteivorsitzender Reinhard Bütikofer: "Über alles kann man reden" - wenn am Ziel, der Bekämpfung von Diskriminierung, nicht gerüttelt werde.

Es herrscht helle Aufregung kurz vor Toresschluss, und das verwundert auf den ersten Blick. Sicher, vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen wollen sich die Grünen mit einem strikten Pro-Kurs profilieren, die Visa-Affäre Joschka Fischers soll nicht alles überlagern. Und angesichts der Massenerwerbslosigkeit möchte sich die SPD nicht dem Vorwurf aussetzen, durch eine gegen die Wirtschaft gerichtete Linie Arbeitsplätze zu gefährden. Der Urnengang an Rhein und Ruhr wie das härter werdende Kräftemessen zwischen Opposition und Koalition erklären den so unvermittelt ausgebrochenen Fight um das ADG indes nicht im Kern. Vielmehr musste irgendwann dieses Gewitter losbrechen: einfach deshalb, weil das Gesetz über gravierende Änderungen des Arbeits- und Zivilrechts tief ins Alltagsleben eingreift.

Seit Jahren ist absehbar, dass die Bundesrepublik die Brüsseler Antidiskriminierungsrichtlinien in nationales Recht transformieren muss. Doch eine breite gesellschaftliche Diskussion dieses heiklen und hochkomplizierten Themas fand nie statt. Das war die Sache von Fachpolitikern wie von Interessengruppen, die sich auch jetzt fast unversöhnlich gegenüberstehen: Wohlfahrtsorganisationen, Behindertenverbände, Frauenassoziationen, Ausländervertretungen oder Gewerkschaften machen sich für das ADG stark, Unternehmer, Privatversicherungen, die Wohnungswirtschaft oder die Gastronomie geben Contra, die Kirchen lavieren. Zu den Kritikern zählen mit dem Deutschen Richterbund und dem Deutschen Anwaltverein freilich auch Institutionen, die nicht als Lobby agieren. Die Advokaten dürfen sogar mit mehr Aufträgen rechnen.

Die Erörterung zentraler Fragen verblieb weithin im Kreis innerer Zirkel. Was ist eigentlich "Diskriminierung", wie wird das präzise definiert? Was kann, was soll, was muss man gegen derartige Benachteiligungen tun? Ziehen Gegenstrategien vielleicht anderweitig negative Konsequenzen nach sich - vor allem dann, wenn die Bekämpfung von Diskriminierungen kompromisslos selbst den letzten denkbaren Einzelfall eliminieren will?

Die Crux des verfahrenen Streits um das ADG wurzelt auch im seltsamen Verhältnis zwischen nationaler und europäischer Politik. Vor fünf Jahren verabschiedete die EU zwei verschiedene Richtlinien, die für das Arbeitsrecht und das Zivilrecht auf differenzierte Weise Verbote für Diskriminierungen verlangen. Dieses Brüsseler Recht hätte bis Ende 2003 in allen Mitgliedsländern umgesetzt werden müssen. Schon 2000 war zu beobachten, dass die EU-Vorschriften öffentlich kaum registriert wurden, auch deren Ausarbeitung zuvor spielte sich hinter den Kulissen ab. Dieses Phänomen trifft auf weite Bereiche der EU-Politik zu, Ausnahmen wie etwa der Dauerclinch um den Stabilitäts-pakt oder momentan der Kampf um die Dienstleistungsrichtlinie bestätigen diese Regel.

Nun heißt es: Brüssel fordert ein Antidiskriminierungsgesetz. Dieser Eindruck ist falsch. Die EU ist kein außerhalb der Bundesrepublik angesiedeltes politisches Gebilde, das Berlin einfach so zu irgendetwas zwingt. Die Brüsseler Politik ist nichts anderes als der politische Wille der nationalen Regierungen, die mal im Konsens, mal per Mehrheitsvotum entscheiden: Die haben nämlich im Kräftespiel mit Kommission und EU-Parlament das letzte Wort. Den Richtlinien von 2000 hat die deutsche Regierung jedenfalls zugestimmt. Die Integration der EU-Vorgaben in hiesiges Recht ist also das, was Berlin seinerzeit in Brüssel beschlossen hat. Daran führt kein Weg vorbei.

Der innenpolitische Streit kreist in der Substanz um die Frage, ob das ADG über das EU-Recht hinausgehen soll oder nicht. Die Gegner, von denen sich nur bei den Grünen keine finden, wollen es bei der Transformierung der Brüsseler Richtlinien belassen, sozusagen eins zu eins. Die Koalitionfraktionen haben die EU-Vorgaben indes genutzt, um einen Entwurf mit viel tiefgreifenderen Verboten zu präsentieren: Dies gilt vor allem für die Geltendmachung sämtlicher "Diskriminierungstatbestände" im Zivilrecht, aber etwa auch für die Ausweitung der Beweislastumkehr. Mit Diskriminierung gleichgesetzt wird überdies eine "Belästigung" - die im Gesetz nicht präzise definiert wird, sondern ziemlich ausgedehnt interpretierbar ist. Das Draufsatteln war es, das jahrelang eine Umsetzung der Brüsseler Regelungen verhindert hat, die frühere Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin etwa galt nicht als Befürworterin eines solchen Vorgehens.

Warum, fragen die Anhänger des ADG, soll man im Zivilrecht, etwa bei der Vermietung von Wohnungen oder bei der Überlassung von Hotelzimmern, weniger streng sein als in der Arbeitswelt? Die grüne Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk wendet sich dagegen, "Diskriminierungsmerkmale zu hierarchisieren". Andererseits wird die Vertragsfreiheit tangiert, so die juristische Kategorie: Arbeitgeber können nicht mehr frei über Einstellungen befinden, Wohnungseigentümer nicht mehr frei über Vermietungen und Wirte nicht mehr frei über den Zugang zu ihren eigenen Lokalen entscheiden - zumindest wird diese Freiheit massiv beschnitten.

In diesem Zusammenhang und im Blick auf die rechtsstaatlich zweifelsohne fragwürdige Beweislastumkehr steht auch der Vorwurf von Unternehmern, Wohnungswirtschaft und anderen Kritikern, das ADG provoziere einen Wust an Bürokratie: Man müsse von der Suchanzeige über das Einstellungsgespräch bis zum Verlauf der Arbeitstätigkeit wie auch beim Vermieten alles dokumentieren, um für den Fall einer eventuellen Klage die "diskriminierungsfreie" Behandlung des Betreffenden belegen zu können - weil eben in letzter Konsequenz Arbeitgeber oder Hausbesitzer ihre Unschuld beweisen müssen.

Der Verweis auf alltägliche Vorkommnisse dient Befürwortern des ADG als Begründung für ein über das EU-Recht hinausreichendes Gesetz. Da wird Behinderten keine Ferienwohnung überlassen oder ihnen werden im Kino nur Plätze in der ersten Reihe zugewiesen. Schwulen Paaren bleibt ein Hotelzimmer versperrt. Ein Unternehmer stellt lieber einen Deutschen als einen Ausländer ein. Ein Türke wird nicht in die Disco eingelassen. Eine Deutsche erhält die Wohnung doch nicht, als der Makler kurz vor der Unterzeichnung des Mietvertrags von der schwarzen Hautfarbe ihres Freundes Wind bekommt.

"Immer wieder", schreibt der Sozialverband Deutschland, höre man von solchen Dingen. Das ist unstreitig so. Wie häufig ist das aber der Fall? Bei einem Hearing im Bundestag sagten auch Anhänger des ADG, Diskriminierungen kämen nur selten vor.

Bei einer TV-Debatte kontert Renate Künast den Alarmruf von Arbeitgeber-Präsident Dieter Hundt wegen Bürokratie und drohenden Prozesswellen so: "99 Prozent der Unternehmen werden dieses Gesetz gar nicht lesen müssen, weil sie gar kein Problem haben" - weil sie nämlich das bereits jetzt existierende gesetzliche Diskriminierungsverbot beachten. Diese Argumentation der grünen Ministerin liefert freilich auch den Gegnern des ADG Munition: Muss man, wenn die Untersagung von Benachteiligungen rechtlich schon heute auf vielfältige Weise verankert ist, noch über die EU-Richtlinien hinausgehen? Und rechtfertigt die geringe Zahl von Diskriminierungsfällen die negativen oder sogar kontraproduktiven Konsequenzen, die ein ins letzte Detail der Lebenswirklichkeit eingreifendes Gesetz mit sich bringt?

Wenn Behinderten- oder Ausländergruppen von unschönen Erfahrungen im Alltag berichten, so führen die Kritiker des ADG ebenfalls viele praktische Beispiele an. Eine Stellenanzeige wirbt um "Verstärkung für unser junges dynamisches Team": Ist das nicht mehr machbar, weil Ältere diese Formulierung bei einer Klage als "Diskriminierungstatbestand" präsentieren können? Das umfassende Benachteiligungsverbot soll bei Vermietungen nur fürs "Massengeschäft" gelten, bei denen es nicht auf die einzelne Person ankommt: Aber spielt dieser Aspekt nicht bei jeder Vermietung eine Rolle? Wenn Hausbesitzer künftig einfach Bewerber mit dem höchsten Einkommen nehmen, um so ein objektives "gerichtsfestes" Auswahlkriterium vorweisen und Vorwürfen einer Benachteiligung wegen Geschlecht oder Nationalität von vornherein aus dem Weg gehen zu können: Wird so nicht die soziale Auslese auf dem Wohnungsmarkt verstärkt? Werden Betriebe zwecks Umschiffung von Ärger mit "korrekten" Stellenanzeigen Mitarbeiter vermehrt unter der Hand suchen? Werden Einstellungsgespräche nicht verkrampft verlaufen, wenn Chefs penibel auf die Vermeidung von Äußerungen achten müssen, die eventuell später gegen sie verwandt werden könnten? Werden Arbeitgeber lieber ganz auf übertarifliche Zahlungen verzichten, wenn solche freiwilligen Leistungen nur noch "diskriminierungsfrei" erlaubt sind?

Wie das Ringen um das ADG enden wird, ist offen. Olaf Scholz deutet eine Befristung von Klagemöglichkeiten an, um die Bürokratie einzudämmen. Volker Beck meint, bei der Haftung von Arbeitgebern für das Verhalten von Beschäftigten oder Geschäftspartnern lasse sich was machen. Reinhard Bütikofer sagt, über die Antidiskriminierungsstelle bei der Bundesregierung könne man reden.

Möglicherweise geht aber alles viel schneller als gedacht. Einer hält sich bislang aus dem Streit heraus: der Kanzler. Gerhard Schröder gilt nicht unbedingt als Freund eines ADG in einer über das EU-Recht hinausgehenden Form. Diese Woche trifft sich der Regierungschef mit Angela Merkel und Edmund Stoiber zum Wirtschaftsgipfel. Dort dürfte die Unionsspitze auch das ADG auf Tapet bringen. Wenn dieses Treffen einen Sinn machen soll, wird es wohl irgendwelche Annäherungen und Kompromisse geben ...


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.