Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 03-04 / 19.01.2004
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Irene Charlotte Streul

Entwurzelt und ständig den Tod vor Augen

Der Leidensweg der Russlanddeutschen in der Sowjetunion
Wer heute ganz offen über seine Vorurteile gegenüber Russlanddeutschen spricht, kann sich allgemeinen Beifalls sicher sein. Mit dem Hinweis auf mangelnde Deutschkenntnisse weigern sich viele, die Spätaussiedler überhaupt als Deutsche anzuerkennen. Nicht selten werden die Zuwanderer als Fremde betrachtet, die unser Sozialsystem ausnutzen wollen. Solche Stammtischparolen sind selbst bei jenen verbreitet, die aufgrund ihrer Bildung das Ausmaß der Verbrechen Stalins und der Repressionen unter seinen Nachfolgern kennen müssten.

Vor diesem Hintergrund gewinnt das Buch des inzwischen verstorbenen Autors Gerhard Wolter besondere Bedeutung. Das 1998 in Moskau erschienene Original liegt jetzt in deutscher Übersetzung vor (Verena Flick), und es ist zu wünschen, dass es viele Leser findet.

Bis 1987 war das Schicksal der Deutschen unter dem Sowjetregime tabu. Erst mit Gorbatschows Glasnost und dem Ende des Kommunismus kam ans Licht, welche verheerenden Folgen der stalinistische Terror für die deutsche Minderheit hatte. Wolter spricht von der "planmäßigen und zielgerichteten Vernichtung einer halben Million" Russlanddeutscher, nachdem Deutschland die Sowjetunion im Juni 1941 überfallen hatte. Briefe von 150 Überlebenden und persönliche Erinnerungen bilden die Grundlage des Berichts über den Leidensweg der Nachfahren jener Deutschen, die im 18. und 19. Jahrhundert von Zarin Katharina der Großen und Zar Alexander I. an der Wolga und in anderen Rayons angesiedelt worden waren.

Die eindringlichen Schilderungen der Augenzeugen und Opfer werden niemand unberührt lassen. Wolter lässt es damit aber nicht bewenden. Es gelingt ihm, das Schicksal dreier Generationen von Russlanddeutschen zu beschreiben, indem er die Aussagen von Einzelpersonen in einen größeren historischen Zusammenhang stellt. Dabei stützt er sich auf Dokumente und Archivmaterialien, die nach dem Ende der Sowjetmacht zugänglich geworden sind.

In dem Vielvölkerstaat Sowjetunion hat es immer wieder diskriminierende Maßnahmen gegenüber missliebigen Nationalitäten gegeben. Für die Bürger deutscher Herkunft bedeutete das Jahr 1933 eine Zäsur, denn nach Hitlers Machtantritt gerieten sie verstärkt ins Visier Stalins. Während der "Säuberungen" 1937/38 kam es zu Massenverhaftungen deutscher Männer. Viele von ihnen, darunter führende Militärs und Vertreter der Intelligenz, wurden als "Feinde der Sowjetunion" hingerichtet.

Nach Ausbruch des Krieges erklärte die Sowjetregierung dann die gesamte deutsche Volksgruppe zu "Helfershelfern des Feindes" und deportierte von August bis November 1941 fast eine Million Menschen vom europäischen Teil der UdSSR vor allem nach Kasachstan und Sibirien. Augenzeugen berichten, wie sie innerhalb weniger Stunden ihre Dörfer verlassen mussten und ohne warme Kleidung und ausreichende Nahrung, zusammengepfercht in Viehwaggons, auf Schiffen oder Lastwagen, wochenlang einem ungewissen Schicksal entgegenfuhren. "Was sie erlebten, waren wirkliche Höllenqualen. Man nahm ihnen die Heimat, das Haus, das Vermögen, den guten Namen", schreibt der Autor. Zehntausende wurden Opfer des harten sibirischen Winters, da die Ankömmlinge ihre Behausungen und die Lager des GULAG selber aufbauen mussten.

Im Hauptteil des Buches, den man "Lagersklaverei und Vernichtung durch Arbeit" überschreiben könnte, geht es um die Zwangsrekrutierung der Männer und Frauen von 16 bis 60 Jahren in die Arbeitsarmee. Das bedeutete die Trennung der Familien und die Internierung in Sonderlagern unter Aufsicht des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD). Bei geringen Essensrationen waren sie gezwungen, in Kohlegruben, Erzlagern, Steinbrüchen, in der Metallindustrie, bei der Ölförderung und Holzverarbeitung sowie beim Bau von Bahnlinien Schwerstarbeit zu leisten, oft ohne technische Hilfsmittel. Viele überlebten die Strapazen nicht, weil die ohnehin kleinen Brotrationen gekürzt wurden, wenn man die strengen Arbeitsnormen nicht erfüllte. Hinzu kamen unmenschliche Lebensbedingungen in den Lagern.

Nach dem Ende des Krieges verwehrte Stalin den Russlanddeutschen die Rückkehr in ihre angestammte Heimat und ordnete ihre Zwangsansiedlung in den Vertreibungsgebieten unter Aufsicht des Komitees für Staatssicherheit (KGB) an. Erst zwei Jahre nach dem Tod des Diktators wurden die "Einschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen in der Sondersiedlung" durch Erlass des Obersten Sowjets der UdSSR aufgehoben. Eine Rückgabe des Vermögens, das der Staat bei der Deportation konfisziert hatte, und das Recht, an die früheren Orte zurückzukehren, wurde jedoch ausdrücklich verneint.

Krise ohne Ende

Durch die Folgen des "Genozids an den Russlanddeutschen, ihrer physischen und moralischen Vernichtung", gerieten die Überlebenden in eine ausweglose Krise. Sie konnten weder den Verfall der deutschen Sprache und Kultur aufhalten noch wollten sie ihre nationale Identität aufgeben, so Gerhard Wolter. Deshalb entschlossen sich viele nach dem Zusammenbruch der UdSSR zur Rückkehr in die "historische Heimat", wo sie als Deutsche unter Deutschen leben möchten.

Es bleibt zu hoffen, dass das Buch die "Bundesdeutschen" erreicht und ihnen hilft, die neben ihnen wohnenden Russlanddeutschen mit anderen Augen zu sehen und besser zu verstehen, wie es in der Verlagsankündigung heißt. Diesem Wunsch ist uneingeschränkt zuzustimmen. Anteilnahme und neue Erkenntnisse werden dann Vorurteile ersetzen.

Gerhard Wolter

Zone der totalen Ruhe.

Die Rußlanddeutschen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren.

Berichte von Augenzeugen.

Waldemar Weber Verlag, Augsburg 2003;

480 S., 17,90 Euro


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